**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 2. September 2021; 01:41
**********************************************************

Flucht/International:

> Kanarische Inseln: Ein Freiluftgefängnis für Geflüchtete

Ergebnisse einer Recherchereise im April 2021 -- dem Vernehmen nach dürfte
sich seither nicht viel geändet haben auf den Kanaren. Gleichzeitig kommen
laufend neue Flüchtlinge an, von denen aber auch weiterhin viele oft genug
manche nur mehr tot geborgen werden.

Von *Marian Henn*, 13.07.2021, Veröffentlicht in Archipel 305 (Europäisches
BürgerInnenforum)


Seit Anfang letzten Jahres erreichten fast 30.000 Menschen per Boot die zu
Spanien gehörenden Kanarischen Inseln. Die sogenannten "cayucos", häufig
ausgediente Fischerboote, legen dabei meistens von der Westküste Marokkos,
der Westsahara, Mauretanien oder dem Senegal ab und sind mitunter tage- bis
wochenlang unterwegs.

Für viele Menschen endet die Überfahrt tödlich. Aktuell fordert die
europäische Politik des Sterbenlassens im Durchschnitt jeden Tag ein
Todesopfer auf der "Kanarenroute". Gleichzeitig erwartet die boat people,
denen es gelingt, europäischen Boden zu betreten, ein repressives
Lagersystem, in denen die Menschen unter unwürdigen Lebensbedingungen
festgehalten werden. Viele verharren in einem dauerhaften Zustand des
Wartens und der Ungewissheit.

Immobilisierung durch Lager: der "Plan Canarias"

Ein Ort, der exemplarisch für das Aufnahmeregime auf den Kanaren steht und
immer wieder in das Zentrum medialer Berichterstattung rückt, ist der Kai im
Hafen Arguineguín auf Gran Canaria. Dort haben Behörden ein provisorisches
Camp aufgebaut, das aufgrund der miserablen Lebensbedingungen auch immer
wieder als "Kai der Schande" betitelt wurde. Übergangsweise wurden viele
geflüchtete Menschen anschliessend in den durch die Pandemie ohnehin
leerstehenden Hotelkomplexen des Ferien-Archipels untergebracht. Die
mächtige Tourismuslobby pochte allerdings mit dem Sinken der Inzidenzen und
bevorstehender Öffnungen darauf, alle Hotels schnellstmöglich in den
"Normalbetrieb" zurückzuführen. Doch anstatt dem Wunsch der Menschen zu
entsprechen und einen Transfer auf das spanische Festland zu organisieren,
stampfte der spanische Staat im Zuge des sogenannten "Plan Canarias" - mit
finanzieller Unterstützung der EU - ein improvisiertes Lagersystem für bis
zu 7000 Menschen aus dem Boden. Verteilt auf die Inseln Teneriffa, Gran
Canaria und Fuerteventura entstanden in kürzester Zeit sieben sogenannter
"Macro-Campamentos", hinzu kommen kleinere Lager, in denen Frauen, Familien
und Minderjährige untergebracht sind. Als Gelände dienen häufig
umfunktionierte Militärkasernen oder Gefängnisse. Viele Geflüchtete
organisieren sich auf eigene Faust ein Flug- oder Fährticket, um ihre Reise
auf die iberische Halbinsel fortzusetzen, werden bei den Ausreisekontrollen
allerdings häufig Zielscheibe rassistischer Polizeiwillkür und dürfen trotz
Vorlage aller notwendigen Dokumente die Kanarischen Inseln nicht verlassen.
Die Inseln fungieren demnach zunehmend als vorverlagerter Grenzraum. Im
Sinne eines Freiluftgefängnisses wird dort die selbstbestimmte Mobilität der
Menschen blockiert und biopolitisch geordnet.

Alarmierende Zustände

Die Auslagerung der Migrationskontrolle geschieht auf den Kanaren dabei
nicht nur räumlich, indem die Menschen bereits weit vor den europäischen
Zentren immobilisiert werden, sondern auch, indem die Verwaltung der Lager
zunehmend auf private Akteure übertragen wird. Neben supra-nationalen
Organisationen wie der "International Organization for Migration" (IOM) sind
es in erster Linie NGOs wie das Rote Kreuz oder die ACCEM(1), welche die
Lager nach ökonomisch rationalisiertem Kalkül führen. Feldbett an Feldbett
teilen sich meist über 20 Personen ein Schlafzelt. Dieses
Unterbringungssystem raubt den Menschen nicht nur jede Form von Privatsphäre
und setzt sie den extremen Temperaturschwankungen des Inselklimas aus. Es
legt auch den ganzen Zynismus des politischen Diskurses offen, schliesslich
wird die Blockadepraxis auf den Kanaren unter anderem als Notwendigkeit zur
Eindämmung der Corona-Pandemie begründet. Die Schilderungen der
Bewohner·innen über die herrschenden Zustände in den Lagern sind
alarmierend. Zum einen ist die medizinische Grundversorgung absolut
ungenügend. Es gibt kaum Ärztinnen und Ärzte, geschweige denn psychologische
Fachkräfte. Eng verknüpft mit der fehlenden medizinischen Versorgungslage
ist die unwürdige Ernährungssituation, welche sich insbesondere während des
Fastenmonats Ramadan zuspitzte und zu Protesten der Camp-Bewohner·innen
führte. Der dauerhafte Zustand des Wartens verstärkt sich zudem über den
systematisch verweigerten Zugang zu einer angemessenen rechtlichen Beratung.
In dem "Macro-Campamento" von Las Raíces, in dem bis zu 2000 Menschen
festgehalten werden, darunter - obwohl gesetzeswidrig - zahlreiche
Minderjährige, berichten Bewohner·innen, dass sie seit Monaten ihren Anwalt
nicht gesehen haben. In anderen Fällen wird die Ungewissheit der
Geflüchteten systematisch ausgenutzt, indem sie ohne juristische Begleitung
oder Zugang zu Übersetzer·innen dazu angehalten werden, ihr Einverständnis
zur "freiwilligen Rückkehr" zu unterschreiben.

Jenseits der Lager

Die unwürdigen Lagerbedingungen sind zudem eng verknüpft mit der permanenten
Angst vor Abschiebungen. Um sich dem Zugriff durch die Kontrollapparate zu
entziehen, haben viele Migrant·inn·en ihre Internierung in Lagern verweigert
und leben auf den Strassen der Städte Las Palmas und Santa Cruz oder
verstecken sich in entlegenen Küstenregionen wie El Fraile im Süden
Teneriffas. Auf Teneriffa gibt es zudem eine Gruppe von 50 Personen, die aus
Protest gegen die Unterbringungsbedingungen ein selbstorganisiertes Lager
unmittelbar vor dem Eingang des Lagers von Las Raíces errichtete. Hinzu
kommt ein nicht unbeträchtlicher Teil von Menschen, die aufgrund von
"Verstössen gegen die Camp-Ordnung" auf die Strasse gesetzt wurden.

Was viele nicht wissen: Nach viertägiger Abwesenheit verwirken sie ihr Recht
auf weitere soziale Unterstützung und sind auf den Strassen abhängig von
karitativen Praktiken zivilgesellschaftlicher Initiativen oder werden in
informelle Ökonomien, Drogenhandel und Prostitution gedrängt.

Die Rolle solidarischer Netzwerke

Viele der lokalen Unterstützer·innen-Netzwerke wie das Netzwerk "Somos Red"
oder die "Asamblea de Apoyo a Migrantes Tenerife" sind zwar erst in den
letzten Monaten aus der Spontanität heraus entstanden, greifen allerdings
auf langjährige Vernetzungen im Kontext anderer sozialer Kämpfe zurück. In
der Hauptstadt Las Palmas de Gran Canaria etwa gehen aktuelle Initiativen
aus den zahlreichen Stadtteilkomitees hervor, die sich in den letzten Jahren
zur Abfederung der neoliberalen Austeritätspolitiken gründeten. Sie
organisieren die Ausgabe von Nahrungsmittel- und Kleiderspenden, leisten
medizinische Erstversorgung, schaffen selbstverwaltete Bildungsräume und
bieten kostenlose Rechtsberatungen für "people on the move" an. In ihrer
Arbeit befinden sich die lokalen Unterstützer·innen-Netzwerke und
Aktivisti·inn·en dabei in dem Dilemma, eine an den Bedürfnissen der Menschen
orientierte Hilfe zu leisten, ohne zu einer Entpolitisierung des
Grenzgeschehens beizutragen. Denn einerseits übernehmen sie dabei die
notwendige Aufgabe, grundlegende soziale Leerstellen zu füllen, die aufgrund
staatlichen Versagens entstehen. Auf der anderen Seite tragen ihre
Aktivitäten häufig selbst zur Funktionalität des auf Entrechtung und
Prekarisierung basierenden "Plan Canarias" bei. (gek.)

Detaillierte Profile der Geflüchteten, Stimmen aus den Lagern und O-Töne des
Widerstands werden aktuell als Multimedia-Webseite verarbeitet. Erste
Eindrücke finden sich auf dem Twitter-Kanal @CanaryBorders. ###

1. Asociación Comisión Católica Española de Migraciones

Quelle:
https://forumcivique.org/artikel/migrationkanarische-inseln-ein-freiluftgefaengnis-fuer-gefluechtete/



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.redaktion@gmx.at abbestellen.



*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
postadresse a-1170 wien, lobenhauerngasse 35/2
redaktionsadresse: dreyhausenstraße 3, kellerlokal, 1140
vox: 0665 65 20 70 92
https://akinmagazin.at/ oder https://akin.mediaweb.at
blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
mail: akin.redaktion@gmx.at
bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
bank austria, zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW