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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 26. Mai 2021; 10:57
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Transformatorisches:

> Was nach dem Wachstum kommen muss

*Karl Czasny* hat auf links-netz.de (1) einen Essay mit dem Titel "Was kommt
nach dem Wachstum?" veröffentlicht. Darin vergleicht er einige für die
aktuelle Diskussion wichtige Zugänge zum Wachstumsproblem: die vom
neoliberalen Mainstream propagierte Green Economy, die postkeynesianischen
Ansätze einer Ökonomie des Guten Lebens, die von der Degrowth-Bewegung
forcierte Postwachstumsökonomie, die feministisch orientierte
Wirtschaftstheorie des Sorgens und den ihm selbst am nächsten stehenden
Ökomarxismus.

Der Text wäre inhaltlich für die akin ideal gewesen, in der Länge ist er
aber für uns ungeeignet. Allerdings ist ja die zentrale Frage wohl nicht:
'Was gibt es für Theorien?' sondern: 'Was kann man tun?'. Daher drucken wir
hier nur das letzte mit dem Transformationsprozess befasste Kapitel des
Artikels in einer vom Autor für die akin gekürzten Fassung ohne Fußnoten und
Literaturverweise nach.
*

a. Zum Begriff der Transformation

In vielen Auseinandersetzungen über die Krise der Wachstumsökonomie wird der
immer dringendere Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft als Transformation
bezeichnet. Ähnlich wie das Konzept des Guten Lebens ist dieser Begriff
gerade wegen seiner Unschärfe ein sehr gutes Diskussionsvehikel. Im
vorliegenden Fall besteht der Vorteil darin, dass eine mehr oder weniger
umfassende Transformation vorstellbar ist. Auf der einen Seite darf selbst
die Green Economy die von ihr beabsichtigte Modernisierung des Kapitalismus
als Transformation bezeichnen. Und auf der anderen Seite kann man
Transformation so radikal denken, dass es an einem bestimmten Punkt jenes
Prozesses so etwas wie einen revolutionären Bruch gibt. Aber dieser Bruch
geschieht eben nicht spontan, aus dem Nichts heraus, sondern ist Gipfelpunkt
einer Dynamik, die durch vorangehende Transformationen in Gang gesetzt und
beschleunigt wurde und nach dem Bruch weitere Transformationen zur Folge
haben muss ...

Neben dem erwähnten Vorteil birgt der Transformationsbegriff allerdings auch
eine große Gefahr. Sie besteht darin, dass er eben wegen seiner nicht
zwingenden Verknüpfung mit der Vorstellung eines scharfen Bruchs zu einem
sehr sorglosen, ja naiven Umgang mit den Beharrungsmechanismen und -kräften
der herrschenden Wirtschaftsordnung verleitet. Wie Ulrich Brand und
Christine Schickert in einem Artikel zum Konzept der Transformation richtig
bemerken, sind sehr viele "Beiträge zur Transformationsdebatte ... radikal
in der Diagnose der ökologischen Krise und normativ durchaus auf
weitreichende Veränderungen zielend, aber weitgehend macht- und
herrschaftsblind und mit einem geringen Verständnis der politökonomischen
Krisendynamiken ausgestattet". Dadurch läuft die Transformationsdebatte
"Gefahr - vielleicht sogar gegen ihr eigenes Anliegen -, allenfalls zur
partiellen ökologischen Modernisierung des Kapitalismus beizutragen".

Der von Brand und Schickert konstatierte Mangel an Verständnis für die
politökonomischen Krisendynamiken findet sich nicht nur bei vielen von der
Ökologie und vom Feminismus her kommenden Wachstumskritiker*innen, sondern
kennzeichnet auch so manchen marxistischen Debattenbeitrag. Wenn etwa
Andreas Mayert davon schwärmt, dass die Macht der "Profiteure des fossilen
Kapitalismus ... mit einem Handstreich beseitigt werden" könnte, dann ist
ihm zwar nicht zu widersprechen. Es muss jedoch daran erinnert werden, dass
ein solcher Handstreich erst in einer dafür reifen gesellschaftlichen und
politischen Situation möglich wäre. Damit aber ist man nun wieder auf die
bereits eingangs gestellten Fragen zurückgeworfen, die ein ganzes Bündel von
nicht handstreichartig lösbaren Problemen ansprechen:

- Unter welchen Bedingungen kann eine solche Situation heranreifen?

- Wie können politische Bewegungen zur Entstehung dieser Bedingungen und zur
Beschleunigung jenes Heranreifens beitragen?


b. Imperiale Lebensweise und Transformation

Das für die Beantwortung dieser Fragen am besten geeignete
begrifflich-methodische Rüstzeug bietet meiner Meinung nach die marxistische
Gesellschaftstheorie. Zum exemplarischen Beleg dieser Behauptung vergleiche
ich nun die Kritik des bekannten Postwachstumstheoretikers Niko Peach am
ökologisch bedenklichen Lebensstil der Nachfolger des klassischen
Industrieproletariats mit der Interpretation desselben Phänomens durch den
Ökomarxismus. Peach wirft dem zu einer globalen Konsumentenklasse
herangereiften Proletariat einen Seitenwechsel vor. Durch seine Fixierung
auf den Verbrauch billiger Massenprodukte der globalisierten Industrie sei
aus der einstigen Klasse der Ausgebeuteten nun eine Klasse von
Naturausbeutern geworden. Dass Peach damit ein sehr wichtiges Problem auf
völlig falsche Weise thematisiert, wird deutlich bei einer historischen
Betrachtung der längerfristigen Entwicklung des Gesamtsystems der
Kapitalakkumulation:

Diese Betrachtung zeigt nämlich, dass nicht ökologisch bedenkliche Wünsche
der Konsumenten sondern Verwertungsprobleme des Kapitals als treibende
Kräfte bei der Entstehung der von Peach beklagten Globalisierung des
industriellen Fertigungsprozesses fungierten. Denn deren Ausgangspunkt war
ein in den neunzehnsechziger Jahren einsetzender Rückgang der in der
boomenden Nachkriegswirtschaft noch recht hohen durchschnittlichen
Profitrate. Eine der Hauptursachen dieses Rückgangs lag im Sinken der
mittleren Mehrwertrate in den alten Metropolen des Kapitals aufgrund der
durch zunehmende Vollbeschäftigung immer stärker werdenden
Verhandlungsposition der Arbeitskräfte. Die Antwort des Kapitals auf dieses
Problem war der Übergang zu einem neuen Akkumulationsmuster, in dessen
Zentrum ein entschiedenes Internationalisieren der industriellen
Arbeitsteilung stand. Die anschließende Stabilisierung der
durchschnittlichen Profitrate war Resultat von drei einander wechselseitig
stützenden Aspekten jenes Globalisierungsprozesses:

- Durch Verlagerung der industriellen Massenproduktion von Konsumgütern an
die neue Peripherie des Weltmarkts gelangten ungeheure Massen von völlig
unorganisierten und daher wehrlosen Arbeitskräften in das Räderwerk der
Ausbeutung, was in den neuen Zentren der Massenproduktion die Durchsetzung
einer sehr hohen durchschnittlichen Mehrwertrate ermöglichte.

- In den alten Metropolen des Kapitals übte die Abwanderung der Industrie so
starken Druck auf das Proletariat aus, dass seine vormalige
Verhandlungsmacht gebrochen wurde. Dadurch gelang auch in diesem Bereich des
nun weltumfassenden Systems der Ausbeutung von Arbeitskraft eine deutliche
Anhebung der Mehrwertrate.

- Die Schwächung der gesellschaftlichen Position der Arbeitskräfte in den
alten Metropolen des Kapitals ermöglichte zugleich die Ablösung des davor
praktizierten Keynesianismus durch neoliberale Wirtschafts- und
Finanzpolitik. Dies bewirkte zum einen (durch den damit einhergehenden
Rückbau des Sozialstaates) einen weiteren Anstieg der Mehrwertrate und
beschleunigte zum anderen (im Gefolge einschlägiger Reformen der
Finanzmärkte sowie des Weltwährungs- und Handelssystems) den
Globalisierungsprozess.

Der skizzierte Wandel des Akkumulationsmusters führte zu neuen Formen des
Konsumverhaltens, die für Ulrich Brand und Markus Wissen Bestandteile einer
"imperialen Lebensweise" darstellen. Bei dieser handelt es sich "nicht
einfach um einen von unterschiedlichen sozialen Milieus praktizierten
Lebensstil". Wir haben es dabei vielmehr mit einem nur systemisch
begreifbaren Gesamtzusammenhang "herrschaftliche(r) Produktions-,
Distributions- und Konsummuster" zu tun.

Die These von der imperialen Lebensweise beschreibt also die Verknüpfung der
in der jüngsten Entwicklungsphase der Kapitalismus notwendig gewordenen
Produktions- und Distributionsmuster mit darauf abgestimmten Lebensstilen
und Konsumformen. Letztere werden so verstehbar als Teil der Antwort des nun
weltweit integrierten Akkumulationssystems auf die neuen Anforderungen und
Probleme der Kapitalverwertung.

Um zu erklären, wie es der herrschenden Klasse möglich war, die
Alltagskulturen und Konsumgewohnheiten der von ihr ausgebeuteten
Bevölkerungsgruppen derart reibungslos in das globale Ausbeutungssystem
einzubetten, heben die Autoren den hegemonialen Stellenwert der imperialen
Lebensweise hervor. Sie beziehen sich damit auf das vom italienischen
Marxisten Antonio Gramsci geprägte Konzept der 'Hegemonie'. Letzteres
beschreibt die Fähigkeit der jeweils Herrschenden, ihre besonderen
Interessen als die der Allgemeinheit darzustellen und dadurch ihre
Herrschaft zu stabilisieren.

Die mit diesem Konzept der Hegemonie arbeitenden Analysen zeichnen ein viel
differenzierteres Bild von den Nachfolgern des alten Industrieproletariats
als Peachs allzu simpel gestrickte Vermutung, es handle sich dabei um eine
neue Klasse von Ausbeutern. Auf der moralischen Ebene können besagte
Analysen die in die imperiale Lebensweise integrierten Klassen zwar nicht
freisprechen von ihrer Mitverantwortung für die Fortexistenz eines auf
maximale Ausbeutung aller menschlichen und natürlichen Ressourcen unseres
Planeten angelegten Wirtschaftssystems. Sie ermöglichen aber eine
Beurteilung von Art und Ausmaß jener Verantwortung, die wesentlich
ausgewogener ist als Peachs völlig überzogener Ausbeuter-Vorwurf.

Der systemisch fundierte Zugang der marxistischen Gesellschaftstheorie zu
Motivationsstrukturen, Interessenlagen und alltäglichen Verhaltensmustern
ermöglicht aber nicht nur eine ausgewogenere moralische Beurteilung des
ökologisch bedenklichen Konsumverhaltens der in die imperiale Lebensweise
integrierten Bevölkerungsschichten. Er bietet darüber hinaus im Vergleich zu
der von Peach bezogenen Position auch viel breitere Anknüpfungsmöglichkeiten
für transformationsorientiertes politisches Handeln. Die moralische
Verdammung aller Konsumenten von Massengütern führt nämlich bei Peach dazu,
dass er sich voreilig von den wichtigsten politische Zielgruppen aller
Transformationsbestrebungen abwendet. So bleibt ihm nur das Warten auf die
Katastrophe in Verbindung mit der Hoffnung auf die dann einsetzende
Krisendynamik.

Wie gefährlich diese Haltung ist, verdeutlichen aktuelle Erfahrungen mit dem
Verlauf der Corona-Krise. Sie zeigen, dass staatlichen Institutionen die
Durchsetzung von autoritären Top-Down-Problemlösungen sehr leicht fällt,
wenn sie sich dabei auf den unmittelbar bevorstehenden, oder gar bereits
eingetretenen Ausbruch einer Katastrophe berufen können. Das wird jenen
Institutionen auch in Zukunft umso eher gelingen, je besser sie es schaffen,
die kontinuierliche Zuspitzung von Problemen so lange zu verschleiern, bis
der Katastrophenfall eintritt. Derartige Verschleierung aber ist eine der
zentralen Funktionen aller hegemonialen Interpretations- und
Motivationsmuster. Ernst gemeinte Transformationsbemühungen müssen daher am
Aufbau einer Gegenhegemonie arbeiten. Denn nur sie kann rechtzeitig
geistige, soziale und ökonomische Spielräume für die Entstehung und
Ausbreitung von nicht-autoritären Bottom-Up-Alternativen öffnen und zugleich
die Widerstandsbereitschaft gegen autoritäre Ambitionen der Staatsmacht
stärken.

Mögliche Ansatzpunkte für die Entstehung einer solchen Gegenhegemonie gibt
es in vielen Situationen des Alltags genau jener von Peach vorschnell
abgeschriebenen Bevölkerungsgruppen, die derzeit noch an den von der
imperialen Lebensweise angebotenen Konsum- und Verhaltensmustern festhalten.
Sie klammern sich zwar weiterhin an das zeitgenössische Wohlstandsmodell,
stoßen aber immer häufiger an dessen Grenzen. Die dadurch entstehende
Verunsicherung bewirkt zwar wachsende Anfälligkeit für die kurzschlüssigen
Interpretations- und Problemlösungsangebote des Rechtspopulismus. Sie erhöht
aber auch die Bereitschaft zur Teilnahme an verschiedensten Initiativen der
Selbsthilfe, des gemeinsamen Wohnens, der Energieautarkie, des
Zusammenschlusses von Konsumenten und regionalen Produzenten, usw.


c. Politik der Transformation

Bestärkung erfährt dieses Interesse für neue Formen der Daseinsbewältigung
immer öfter durch alternative Stimmen aus dem Überbau. Denn auch in
Wissenschaft und Kultur wurde im Gefolge der jüngsten Finanz-, Umwelt- und
Gesundheitskrisen die Hegemonie von Leitkonzepten der Wachstumsgesellschaft
brüchig. Postkeynesianische sowie care-ökonomische Sichtweisen befinden sich
spätestens seit dem Beginn der Corona-Krise im Aufwind. Und weil der nach
dieser Krise unvermeidlich einsetzende Wachstumstaumel wieder zu einer
raschen Zuspitzung unserer Klima- und Umweltprobleme führen muss, wird
mittelfristig auch die Postwachstums-Theorie wieder verstärkt Gehör finden.

Jede dieser Positionen visiert eine sehr weitgehende Transformation unseres
Wirtschaftens an und könnte somit wichtige Impulse für die zu schaffende
Gegenhegemonie geben. Leider verweisen die Ergebnisse der vorangehenden
Kapitel in allen drei Fällen auf gravierende Reflexionsdefizite bzw.
Illusionen bezüglich der Vereinbarkeit des Kapitalismus mit den angestrebten
Verhältnissen des wirtschaftenden Menschen zur Natur und zum anderen
Menschen. Meiner Ansicht nach ermöglicht allein der ökomarxistische Zugang
zum Wachstumsproblem eine realistische Sicht auf die Grenzen dieser
Wirtschaftsordnung. Denn nur die marxistische Analyse zeigt,

· dass der Kapitalismus zwar unglaublich flexibel ist, was mögliche Muster
der Akkumulation von Kapital betrifft,

· dass er aber prinzipiell nicht lassen kann von dieser Akkumulation als
solcher - und damit auch nicht von dem das Klima, die Umwelt und letztlich
sogar uns selbst zerstörenden Wachstum.

Trotz aller Differenzen zwischen den an tiefgreifendem Wandel unserer
Wirtschaft orientierten Positionen sind meines Erachtens die in den
vorangehenden Abschnitten deutlich gewordenen Übereinstimmungen groß genug,
um als Basis fruchtbarer Diskussionen über die angestrebte Transformation
fungieren zu können. Diese Diskussionen hätten die gemeinsamen Anliegen zu
bündeln - etwa in Anlehnung an die bereit 2013 von Dieter Klein
vorgeschlagenen Leitideen (gerechte Umverteilung von Lebenschancen und
Macht, sozial-ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft,
demokratische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie umfassende
Friedenssicherung und Solidarität). Darüber hinaus sollte man sich um die
Formulierung einer gegenhegemonialen Rahmenerzählung bemühen, welche dabei
hilft, die Erfahrungen zu verarbeiten, welche Anlass geben für die
Experimente und Initiativen zu neuen Formen der Daseinsbewältigung bzw. im
Verlauf der genannten Aktivitäten entstehen. Besagte Rahmenerzählung müsste
diese Erfahrungen verdichten und in einen größeren Kontext einordnen, sodass
jene Experimente und Initiativen als Teilschritte des Weges in die
Postwachstumsgesellschaft begreifbar werden.

Alle einschlägigen Basis-Projekte sowie die durch sie auf der
politisch-institutionellen Ebene angestoßenen Reformen setzen Prozesse in
Gang, die einer der Wachstums- und Profitlogik des kapitalistischen
Wirtschaftsystems entgegengesetzten Logik folgen. Wenn der eben zitierte
Dieter Klein fordert, dass es diese alternative Logik zu entfalten gelte,
dann ist dem zuzustimmen.

Man muss sich aber fragen, was es konkret bedeutet, innerhalb des Systems
der Kapitalverwertung eine ihm widersprechende Logik zu entfalten. Dazu nun
abschließend einige klärende Bemerkungen: Klein und andere Marxisten
tendieren dazu, diesen Widerspruch zwischen der Logik von
Transformationsprojekten und der dominanten Wachstums- und Profitlogik in
ein äußerliches Nebeneinander verschiedener Arten der Transformation
aufzulösen. Für Klein etwa gibt es neben der "kleinen Transformation" der
neoliberalen Gesellschaftsformation in einen "postneoliberalen" Kapitalismus
die "große Transformation" in den demokratischen Sozialismus, den er "als
eine von Grund auf demokratisch erneuerte, solidarische, gerechte, dem
Erhalt der Biosphäre verpflichtete moderne Friedensgesellschaft" definiert.
In manchen Passagen seiner Argumentation wird ihm dies Nebeneinander zu
einem Nacheinander, an anderen Stellen "schiebt" sich die Große
Transformation in die kleine hinein, oder "rumort" in ihr. Es ist aber auch
die Rede davon, dass die "Transformation im Rahmen des Kapitalismus ...
zunehmend bereits Tendenzen einschließen (wird), die über den Kapitalismus
hinausweisen".

All diese Formulierungen sind nicht falsch, treffen aber nicht den Kern
dessen, was es bedeutet, innerhalb des Systems der Kapitalverwertung eine
ihm widersprechende Logik zu entfalten. Um wirklich zu verstehen, was bei
dieser Entfaltung geschieht, muss man sich an eine der zentralen Einsichten
der marxschen Kapitalismuskritik erinnern. Ich meine damit die Erkenntnis,
dass der in privater Aneignung des kollektiven Produkts liegende
Grundwiderspruch des Systems der Kapitalverwertung durch Reformen immer nur
auf eine höhere Stufe gehoben werden kann, wo er dann zu neuen Widersprüchen
führt. Für die Beurteilung der die Grenzen der Profitlogik überschreitenden
Projekte bedeutet diese Einsicht folgendes: Jede Realisierung eines
derartigen Projekts löst zwar einen der Widersprüche des aktuellen
Wirtschaftssystems auf und holt damit ein Stück Utopie in die Gegenwart
herein. Es erzeugt damit aber zugleich in dem diese Gegenwart bestimmenden
Wirtschaftssystem einen neuen, potentiell systemsprengenden Widerspruch, der
nur durch die Realisierung weiterer grenzüberschreitender Vorhaben
vorübergehend aufgehoben werden kann. Politik mit ernsthafter
Transformationsabsicht wird also gut beraten sein, wenn sie dieses von
Widersprüchen angetriebene und zu immer neuen Widersprüchen hinführende
Bewegungsmuster von vornherein ins Zentrum ihres Bildes vom angestrebten
Transformationsprozess stellt.

Als marxistisch geschulter Gesellschaftstheoretiker gibt Klein zwar den
inneren Widersprüchen des Kapitalismus breiten Raum in seinen Überlegungen.
Er reflektiert jedoch zu wenig den engen Bezug zwischen dem Muster der
Weiterentwicklung dieser Widersprüche und der Dynamik von politischen
Kämpfen. In dieser Dynamik aber liegt die Antwort auf die Frage, wie sich
unter bestimmten Bedingungen innerhalb des Systems der Kapitalverwertung
eine ihm widersprechende Logik entfalten kann. Warum das so ist, wird
deutlich, wenn man sich kurz vergegenwärtigt, dass der Anlass für jeden
politischen Kampf das Aufbrechen eines solchen Widerspruchs ist. Bei dem
darauf folgenden Kampf stehen einander dann (im einfachsten Fall) zwei
mögliche Lösungen gegenüber, die beide eine vorübergehende Lösung des
Ausgangswiderspruchs versprechen. Eine der beiden gehorcht der dominierenden
Profitlogik und bedient primär die Interessen der herrschenden Eliten,
während die andere einer systemtranszendierenden Logik unterliegt und sich
an den Interessen der Systemverlierer orientiert.

Aus deren Perspektive hat also jeder derartige Kampf folgenden Ablauf:

- Man setzt an bei einem bestehenden Widerspruch des herrschenden Systems,

- findet eine der Profitlogik widersprechende Lösung für diesen Widerspruch,

- um dann festzustellen, dass jene Lösung nur weitere Widersprüche aufreißt,

- die reflektiert und in der nächsten Etappe des Kampfes weiter getrieben
werden können, sofern es gelingt, den neu aufgerissenen Widersprüchen neue
politische Ziele entgegenzusetzen, die zusätzliche Kampfkraft mobilisieren.

Aktuelles Beispiel für die oben beschriebene Verknüpfung des Musters der
Bewegung von Widersprüchen mit der Dynamik politischer Kämpfe ist das
Geschehen im Zusammenhang mit dem sogenannten ,Mietendeckel' in Berlin:

- Ausgangswiderspruch: Die Niedrigzinspolitik der EZB führte zu Preisblasen
auf den Immobilienmärkten der Großstädte und machte hier die Mietwohnungen
unerschwinglich.

- Der Profitlogik widersprechende Lösung des Ausgangswiderspruchs in Berlin:
Die rot-rot-grüne Koalitionsregierung erlässt Preisobergrenzen und
verhindert damit weitere Preisanstiege im Bestand der Altmietwohnungen.

- Aufreißen neuer Widersprüche durch die Lösung des Ausgangswiderspruchs: Im
Gefolge der Preisregulierung sinkt das Angebot an Altmietwohnungen, weil die
Vermieter Wohnungen leer stehen lassen oder ins Eigentum umwandeln. Zugleich
verstärkt sich wegen des verschärften Ungleichgewichts von Angebot und
Nachfrage der Preisauftrieb im Neubausektor.

- Mögliche Lösungen der neu aufgerissenen Widersprüche treiben diese nun je
nach Ausgang des politischen Kampfs entweder auf systemkonforme oder auf
potentiell systemsprengende Weise weiter:

Die systemkonforme (und im vorliegenden Fall wachstumstreibende!)
Problemlösung besteht in der Aufhebung des Mietendeckels bei gleichzeitiger
Ankurbelung der Bautätigkeit nach dem von der Immobilienwirtschaft
ausgegebenen Motto: "Bauen, bauen, bauen". (2)

Dem Weitertreiben des Widerspruchs in eine potentiell systemsprengende
Richtung stehen verschiedene Wege offen. Etwa die Einhebung einer
empfindlich hohen Leerstandsabgabe, u./o. das Verbot von
Eigentumsumwandlungen, u./o. die Vergesellschaftung großer Teile des
Bestands an Altmietwohnungen. Die Berliner Mieterbewegung entscheidet sich
für die am weitesten gehende letztgenannte Lösungsvariante und startet ein
Volksbegehren, das bei ausreichender Unterschriftenzahl zur Durchführung
eines Volksentscheids über die Vergesellschaftung von rund 15 Prozent des
gesamten Mietwohnungsbestandes der Hauptstadt führen wird.

Die nächsten Monate werden zeigen, ob man mit dieser hohen Zielsetzung den
Bogen überspannt hat, oder ob es gelingt, aus der vorangehenden Verschärfung
der Widersprüche auf dem Wohnungsmarkt ausreichend große politische
Kampfkraft zu schöpfen, um diese wichtige Etappe der Vergesellschaftung zu
realisieren.

Dieses Ablaufmuster zeigt, dass politischen Kämpfe auf der Seite der
Systemverlierer einen kollektiven Lernprozess etablieren, in dessen Verlauf
sich (bei entsprechend günstigen Rahmenbedingungen und umsichtiger Wahl der
jeweiligen Etappenziele) das Anstreben von kleinen Transformationen
kontinuierlich zur Orientierung an größeren Veränderungen erweitern kann, um
schließlich in die weite Perspektive der großen Transformation zu münden.

Die Einsicht in die durch den Widerspruch getriebene Dynamik von
Transformationsprozessen ist ein Erbstück, das Hegel dem Marxismus in die
Wiege legte. Neben dem Beharren auf den Schlussfolgerungen aus der
zwanghaften Verknüpfung von Kapitalakkumulation mit Wirtschaftswachstum
halte ich jenes hegelsche Erbstück für den wahrscheinlich wichtigsten
Diskussionsbeitrag des Ökomarxismus zu den Auseinandersetzungen um die
Transformation der Wachstumswirtschaft in eine solidarische
Postwachstumsökonomie. Mit Konzepten, welche das Moment des Widerspruchs in
ein äußerliches Nebeneinander von kleiner und großer Transformation
auflösen, wird es allerdings nicht gelingen, diesen Beitrag zu leisten.

Ein strategischer Ansatz, welcher der zentralen Bedeutung des Widerspruchs
für den Transformationsprozess viel eher gerecht werden könnte, ist das von
Joachim Hirsch schon in den neunzehnachtziger Jahren ins Spiel gebrachte
Konzept eines "radikalen Reformismus". Hirsch knüpft an bei der von Rosa
Luxemburg geprägten Formel von der "revolutionären Realpolitik" und
verweigert damit so wie Luxemburg selbst das Konzept eines Nebeneinanders
von Reform (kleine Transformation) und Revolution (große Transformation).
Nachdem sie erstmals 1903 in einem Zeitungsartikel von "revolutionärer
Realpolitik" gesprochen hatte, gab Luxemburg in ihrer 1906 verfassten
Schrift "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" eine ausführlichere
Beschreibung dieses strategischen Ansatzes. Sie machte darin deutlich, dass
sie an eine Politik dachte, die "aus dem Handeln der Menschen selbst
hervorgeht, von ihnen vorangebracht wird". Es ist dies eine Politik, bei der
die Akteure "mit immer neuen Formen und Inhalten experimentieren, lernen und
eigene Schlüsse ziehen, sich Organisationsformen geben und überkommene
zerstören."

In diesem Sinne muss sich meiner Ansicht nach auch eine radikal
reformistische Postwachstumspolitik als Teil eines gesellschaftlichen
Prozesses verstehen, der sein dynamisches Zentrum in den von den Menschen
selbst hervorgebrachten Initiativen und Projekten hat. Sie selbst bemüht
sich um deren Zusammenwachsen zu einer alle Daseinsbereiche erfassenden
gegenhegemonialen Kraft, die sich nicht nur gegen die wachstumsorientierten
Wirtschaftseliten in Stellung bringt, sondern auch gegen die eng mit ihnen
vernetzten und für ihre Interessen agierenden Teile der Staatsmacht. An den
kollektiven Lernprozessen, die beim Kampf um die Realisierung der
gemeinsamen Anliegen jener Bewegung stattfinden, beteiligt sich diese
Politik vor allem lernend, nicht aber Lerninhalte vorgebend. Und in den nach
jedem Etappensieg auf einer neuen Ebene aufbrechenden Widersprüchen der
bestehenden Wirtschaftsordnung sieht sie keinen Grund für das Abweichen vom
angestrebten Ziel einer solidarischen Postwachstumsgesellschaft, sondern
einen Ansporn für konsequentes Weitertreiben aller das zerstörerische
Wachstumssystem sprengenden Projekte und Initiativen. ###



(1) Der komplette Text ist abrufbar unter http://wp.links-netz.de/?p=490

(2) Diese Entscheidung wurde der Politik fürs Erste bereits abgenommen: Mit
Beschluss vom 25. März 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der
"Berliner Mietendeckel" aus Gründen der Gesetzgebungskompetenz mit dem
Grundgesetz unvereinbar und das Berliner Gesetz nichtig ist. Über die
materielle Verfassungsmäßigkeit von Mietobergrenzen urteilte das Gericht
nicht ausdrücklich.



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