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Sende-Uhrzeit:  11.26.2020 12:35:35 AM
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Betreff:  Prinzipielles: Politiker müssen lügen
 
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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 26. November 2020; 00:28
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Prinzipielles:

> Politiker müssen lügen

"Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!"
Goethe, Faust I

"Aber was fürn Ticker ist ein Politicker, woher kommt er und was will er von
der Welt?"
Georg Kreisler

Wir sollten uns endlich daran gewöhnen, daß wir von der hohen Politik
beschissen werden. Das hat nämlich mehr mit systemischen Gründen zu tun als
mit mangelnder Moral.
*

Politiker haben keinen guten Ruf -- egal welcher Couleur, welcher Ebene,
welcher Rolle. Bei den immer wieder gerne publizierten Umfragen nach den
vertrauenswürdigsten oder gar beliebtesten Berufsgruppen sind sie immer
ziemlich weit unten zu finden. Wenn man sich die Beliebtheitsrankings
einzelner Exemplare ansieht, sind meistens ausgerechnet die Autoritärsten
ganz oben zu finden, besonders dann, wenn diese auch noch Führungsrollen
innehaben und natürlich wenn die Zeiten als unsicher empfunden werden. Aber
selbst wenn diese angehimmelt werden wie beispielsweise der Gesalbte hat das
ein bisserl was von Schönjubeln. Irgendwo denkt man sich ja doch, daß das
auch nur so ein Gfrast sei, aber man will halt an irgendwas oder irgendwen
glauben können. Wenn dieser Politiker Wahlen gewinnt und man ihn auch
gewählt hat, dann hat man irgendwo auch selbst gewonnen -- auch wenn man
persönlich davon genau nichts hat oder sogar politisch anderer Meinung ist
als der oben auf dem Schild. Denn der Schildträger fühlt sich selbst erhöht
und meint auch noch, daß er jederzeit den Erhabenen stürzen lassen könne.
Weil man liebt diesem Erhöhten zwar, aber trauen tut man ihm dann doch nicht
so ganz. Schließlich ist er doch nur ein Politiker.


Spektakel und Realität

Während also das Siegerimage den in höhere Sphären Entrückten und ebensolche
Weihen empfangen Habenden zumindest eine Zeitlang schützt, können die
Verlierer nicht auf ein solches zumindest temporäres Wohlwollen setzen.
Wobei Verlierer nicht deswegen solche sind, weil sie etwa Wahlen verloren
haben, sondern weil an ihnen der Nimbus des Verlierers klebt -- vielleicht
weil sie zu hohen Erwartungen nicht entsprochen haben oder nicht Nummer 1
geworden sind. Man sehe sich nur diese Wahlberichterstattung an, bisweilen
meint man Sportreporter zu hören, wenn es darum geht, wer am meisten, am
zweit- oder drittmeisten Stimmen bekommen hat. Bei Pferderennen klingt das
ähnlich. Bei einem Wahlsystem, das nicht auf dem angelsächsischen
first-past-the-post beruht, ist das aber eher unerheblich.

Paradoxerweise kann aber auch ein Nachzügler dann darauf doch ein
Siegerimage aufbauen -- wie Wolfgang Schüssel, der im Jahr 2000 mit dem
miserabelsten ÖVP-Ergebnis in der Geschichte der Zweiten Republik Kanzler
wurde. Vor der Wahl hatte er zwar gemeint, die ÖVP ginge bei einem solchen
Ergebnis in die Opposition, interessierte sich aber nachher nicht mehr für
sein Geschwätz von gestern und wurde drei Jahre später für diese Chuzpe mit
42% der Wählerstimmen belohnt.


Auf verlorenem Posten

Beim Politiker oder der Partei mit Verliererimage hingegen wird nichts
nachgesehen. Alles was als Lüge, Betrug oder Verrat angesehen werden kann,
wird auch gleich so benannt. Warum kommt sowas aber -- egal, ob bei Siegern
oder Verlierern -- so oft vor? Wieso fühlen wir uns hier unten so oft
belogen und betrogen und verraten von denen da oben? Naja, das hat sicher
auch was damit zu tun, daß viele von denen da oben wirklich nur durch Lug
und Trug und Anpassung nach oben gekommen sind. Aber das allein kann es
nicht sein. Auch der Satz von Joschka Fischer, daß einen das Amt schneller
verändert als man selbst das Amt, reicht als Erklärung nicht aus -- auch
wenn diese Ansage natürlich völlig berechtigt ist, wofür Fischer selbst der
beste Beweis war. Und auch der Umgang mit den besseren Leuten, mit den
Mächtigen jenseits der offiziellen Politik, prägt Menschen stark. Letztlich
kommt dann oft auch noch die Notwendigkeit dazu, etwas, was man so gar nicht
will, als super verkaufen zu müssen, weil das halt der Koalitionspartner so
möchte.

Aber dann gibt es halt auch Fälle, da greift das alles nicht. Ein solcher
Fall war jetzt die Demontage einer Spitzenkandidatin durch ihren eigenen
Klub -- die Empörung darüber wird so schnell kein Ende finden. Es hagelte
Parteiaustritte und in den entsprechenden Social-Media-Blasen war ein
Tornado zu spüren, für den der Ausdruck "Shitstorm" beinahe als Euphemismus
zu sehen ist. Das liegt schon auch daran, daß man in diesen Blasen die
Klubmitglieder zu kennen glaubte, manchen sogar persönlich vertraute oder
sie gar Freunde nannte. Und die haben nicht einmal die Schneid, sich dafür
zu rechtfertigen?


Zwang zur Unwahrheit

Seien wir ehrlich: Politiker müssen lügen. Ab einer gewissen Ebene kommen
sie darum nicht herum, weil eben Anspruch und Wirklichkeit genauso
auseinanderklaffen wie Rolle und Persönlichkeit. Denn warum engagiert sich
jemand in einer politischen Partei? Ja, da gibt es diejenigen, die sich eine
Karriere versprechen, das sind dann aber die berühmten Quereinsteiger, die
kann man in dieser Betrachtung einmal weglassen. Üblicherweise will man
etwas ändern in der Gesellschaft oder ärgert sich nur über einen Neubau oder
eine Einbahnregelung oder einen Radweg oder über keinen Radweg -- je nach
ungefährer politischer Präferenz landet man dann in einer Partei. Oder man
wird schon in einer Jugendorganisation, wie es so schön heißt, "in der Wolle
gefärbt". Man ist nicht in allem einer Meinung mit der Parteilinie aber
zumindest so ungefähr. Irgendwann wird man dann wichtig in der Partei und
muß akzeptieren, daß man bisweilen was anderes vertreten muß als man
eigentlich möchte. Da fängt es dann schon an mit dem Lügen.

Man muß dann auch mit Menschen zusammenarbeiten, die man nicht mag -- das
ist zwar in der Privatwirtschaft oder in einer Behörde nicht viel anders, in
der Politik geht das aber noch weiter: Da muß man nach außen so tun, als
würde man sich lieben, und selbst noch das, was man für den größten Blödsinn
hält, belobigen und bejubeln, weil das die Parteiräson verlangt.

Im jetzt konkreten Fall wurde der Parteielite in einer Urwahl (deren
Legitimität auch zweifelhaft war, aber darum geht es hier nicht) eine
Spitzenkandidatin vor die Nase gesetzt, die es zu promoten galt. Diese
Spitzenkandidatin mußte Themen setzen, die nicht die ihren waren, aber von
den Meinungsforschern als die richtigen angesehen wurden, um Stimmen
zuzugewinnen. Der Landtagsclub war mit dieser Performance offensichtlich
unzufrieden, konnte aber nicht mitten im Wahlkampf sagen, daß man eigentlich
eine andere Spitzenkandidatin lieber hätte -- erstens, weil damit die Urwahl
ad absurdum geführt worden wäre, aber vor allem zweitens, daß das im
Wahlkampf verheerend auf die angestrebte Stimmenoptimierung gewirkt hätte.
Also lächelt man und jubelt man. (Besonders bitter ist das natürlich, wenn
man selbst gerne Spitzenkandidat geworden wäre.) Man betrügt die Wähler und
die Parteibasis, weil einem in dieser Situation gar nichts anderes
übrigbleibt. Nach der Wahl rechnet man ab -- wenn man dann aber ehrlich ist
und die ungeliebte Spitzenkandidatin demontiert, sind alle böse. Hätten sich
die Mitglieder des Landtagsclub auch weiter verstellt und der
Spitzenkandidatin den ihr nach Meinung der Wähler und der Parteibasis
zustehenden Platz eingeräumt, wäre alles in Ordnung gewesen. Das wird der
Parteielite sicher für das nächste Mal eine Lehre sein: Nie wieder ehrlich,
das kostet nur Sympathien!

Die Konsequenz der Clubmitglieder: Öffentliches Schweigen! Wie soll man auch
erklären, daß man die ganze Zeit nur so getan hat, als würde man die
Spitzenkandidatin für toll halten? Stattdessen -- so hört man -- tingeln die
Abgeordneten jetzt durch die Bezirksorganisationen, um ihr Verhalten zu
erklären. Natürlich verbunden mit der Bitte, das nicht weiter zu verbreiten,
um der Partei nicht zu schaden -- die einfachen Mitglieder werden also im
Sinne der Parteiräson zu Mitverschwörern erzogen. Tatsächlich ist dieses
Verhalten aber in diesem politischen System alternativlos, weil alles andere
die Partei noch weiter zu spalten droht.


Realverfassung

Diese Causa ist aber nur ein Beispiel, allerdings ein sehr plastisches,
warum das Lügen zum politischen Geschäft zwingend dazugehört. Denn die
Widersprüche, die mit Ehrlichkeit nicht auflösbar sind, sondern nur mittels
Lüge zementiert werden können, sind mannigfaltig. Zum Beispiel die Lüge, in
den Parlamenten herrsche das freie Mandat -- wer das ernstnimmt, ist schnell
ein Verräter. Schließlich hat derjenige nur deswegen dieses Mandat, weil ihn
die Partei auf den Listenplatz gesetzt hat und die Wähler der Partei
ausreichend Stimmen gegeben haben, damit er dieses Mandat auch bekommt. In
Wirklichkeit herrscht Klubzwang -- den es offiziell, im Gegensatz zum freien
Mandat, gar nicht gibt.

Ist eine Partei auch noch in der Regierung vertreten, wird es noch schlimmer
mit den Erfordernissen des Lügens und das eben nicht nur wegen des
Wohlwollens des jeweiligen Koalitionspartners. Das ist nämlich auch etwas,
was es offiziell gar nicht gibt, dieses "eine Partei in der Regierung
vertreten". Denn eigentlich gibt es nur in den Parlamenten, auf Bund- und
Länderebene also den Legislativen, politische Parteien resp. Fraktionen. Und
diese Parlamente sollen die Regierung kontrollieren. Mit anderen Worten: Es
gibt die Trennung der Gewalten. Legislative und Exekutive stehen in
Konfrontation zueinander. Schnecken! Die Mehrheit in diesen Parlamenten hat
die Zusammensetzung der Regierung bestimmt und ist nurmehr Erfüllungsgehilfe
dieser Regierung. Wie soll sie da kontrollieren? Der Zwang zur Lüge ist da
quasi institutionalisiert.


Houseverstand

Politiker lügen. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Den Ehrlichsten
unter ihnen tut das vielleicht sogar noch weh. Gerade die neigen wohl auch
dazu, die eigenen Lügen irgendwann zu glauben, weil dann der Schmerz
nachläßt. Oder sie schmeissen alles hin, um weniger Ehrlichen, denen das
Lügen leichterfällt, Platz zu machen. Daß das besser ist, mag ich allerdings
bezweifeln.

Es geht aber noch weiter: Jeder Mensch lügt. Das wissen wir nicht nur von
Doktor House, sondern die Studien darüber füllen mittlerweile
Bücherschränke. Ohne ein Minimum an Unehrlichkeit kommt man nicht durchs
Leben. Bei Politikern kommt dann aber eben noch dazu, daß in ihrem Geschäft
die Fähigkeit zu Lügen in der zwar nirgendwo festgehalteten, praktisch aber
wirksamen Jobbeschreibung zu finden ist.

Wir hätten alle gerne glaubwürdige Politiker -- deswegen stehen sie eben in
diesbezüglichen Rankings so weit unten, weil sie genau diesen Ansprüchen
nicht genügen können. Wir sollten sie aber daran nicht messen und einfach
akzeptieren, daß sie uns bescheissen müssen. Aber wir belügen uns lieber
selbst und glauben ihnen oft doch mal was, selbst wenn wir wissen müßten,
daß es nur eine Lüge sein kann. Und wenn eine Lüge dann als solche
offensichtlich wird, sind wir empört. Vielleicht aber weniger über die Lüge
an sich sondern mehr darüber, daß wir so leichtgläubig waren.

Wenn uns bewußt wird, daß wir eine bestimmte politische Partei wählen, auch
wenn wir wissen, daß deren Proponenten uns genauso am Schmäh halten wie die
anderen, und diesen Widerspruch aushalten, und daraus die Konsequenz ziehen,
daß man Politik nicht alleine den Politikern überlassen darf, wäre schon
einiges gewonnen.

*Bernhard Redl*



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