Politischer Katholizismus: Polen: Revolution in Pandemie-Zeiten
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Sende-Uhrzeit:  11.26.2020 01:02:44 AM
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Betreff:  [akinabo] Politischer Katholizismus: Polen: Revolution in Pandemie-Zeiten
 
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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 26. November 2020; 01:01
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Politischer Katholizismus:

> Polen: Revolution in Pandemie-Zeiten

Von *Agata Czarnacka*, transform!europe

Auch wenn die Proteste in einer steigenden Pandemiewelle unterzugehen
drohen, erleben wir in Polen einen grundlegenden Mentalitätswechsel.
*


Polen ist ein größtenteils katholisches Land im Übergang zu einer säkularen
Gesellschaft, die auf Menschenrechten und Geschlechtergleichstellung
basiert. Der allgemeine Gehorsam und Gleichmut gegenüber selbst den
empörendsten Maßnahmen der Regierung ist mittlerweile einem bewussteren
bürgerschaftlichen Engagement gewichen. Eine Gesellschaft, die von einem
neoliberalen Bann gelähmt war, unternimmt nun einen gigantischen Schritt in
Richtung eines demokratischen Staates.

Pandemie und Proteste

Polen steht kurz vor einer humanitären Katastrophe. Die Krankenhäuser sind
überfüllt und vielerorts mussten Ärzt*innen schon zur Triage übergehen, da
Beatmungsgeräte rar geworden sind. Patient*innen, die nicht an Covid-19
erkrankt sind, müssen auf ihre Behandlung warten, was dazu geführt hat, dass
die allgemeine Sterberate im Oktober die höchste seit dem Zweiten Weltkrieg
war. Inzwischen erreicht Polen weltweit bei den Infektionszahlen den 15.
Platz und verzeichnet fast 750.000 Fälle. Immerhin bleibt das Land
hinsichtlich der Todeszahlen mit fast 11.000 Fällen (19.November) auf Platz
23, was der Effektivität des Lockdowns im Frühjahr zu verdanken ist. Dieser
Lockdown wurde jedoch vor den Präsidentschaftswahlen im Juli abrupt beendet,
und seither ist die Regierung nicht bereit, die Wirtschaft erneut
herunterzufahren, auch wenn die Infektionszahlen in die Höhe schießen.

Vor diesem düsteren Hintergrund erlebt Polen derzeit eine der aufreibendsten
Perioden seiner Nachkriegszeit. Seit dem 22. Oktober haben sich fast täglich
Protestierende versammelt, um ihrer Unzufriedenheit mit verschiedensten
Themen Ausdruck zu verleihen - vom Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen bis
zur Unrechtmäßigkeit der Regierung, wobei das vielsagende "Verpisst euch"
zum inoffiziellen Slogan der Bewegung wurde. Zu ihrem Höhepunkt waren mehr
als 800.000 Menschen auf den Straßen und protestierten in 534 Städten und
Gemeinden im ganzen Land - ein Rekord. Die 'Schwarzen Proteste' von 2016,
bei denen erstmals so viele Menschen an so vielen Orten mobilisiert wurden,
muten im Vergleich dazu heute fast schon bescheiden an.

Auf den Straßen demonstrierten Teenager Seite an Seite mit Veteran*innen der
Solidaritätsbewegung und Frauen protestierten Arm in Arm mit Männern. An
einigen Orten schienen die Proteste nahezu um die Teilnahme zu konkurrieren.
Beispielsweise planten in Szczecin im Nordwesten Polens die
Organisator*innen für den Nachmittag eine Mahnwache im traditionellen Stil
und für den Abend einen Rave, was den Unmut einiger Teilnehmer weckte, weil
sich beide Ereignisse zeitlich überschnitten.

Der Fokus der Proteste hat sich verlagert. Die Entscheidung des
Verfassungsgerichts über Schwangerschaftsabbrüche bei schwerer
Beeinträchtigung des Fötus heizte die Proteste am Donnerstag, den 22.
Oktober, an. Doch zeigte sich schnell, dass der harte rechte Kurs der
Regierung in den letzten fünf Jahren ausreichend latenten Frust erzeugt
hatte, um die Proteste über Wochen aufrechtzuerhalten. Der "Allpolnische
Frauenstreik", ein semi-formales Bündnis aus Organisator*innen von
Frauenprotesten aus unterschiedlichen Regionen, hat 13 wesentliche
Problembereiche herausgearbeitet. Ganz oben auf der Liste stehen die Rechte
von Frauen und LGBTQ+-Menschen, gefolgt von Erklärungen zu Laizismus,
Wiedergutmachungsinstitutionen, Klimaschutzmaßnahmen, Arbeitsrechten,
Bildungsreform, Freiheit der Medien und einer vorausschauenden
Pandemiebekämpfung. Außerdem prangerte der Streik die drohende Gefahr des
Neofaschismus im öffentlichen Leben an und verurteilte eine tiefe Krise in
der psychiatrischen Versorgung.

Polen: ein Staat aus Karton

Ein Witz, der schon vor dem Wahlsieg der PiS 2015 die Runde machte,
beschreibt Polen als Staat aus Karton, der nur aus der Ferne echt aussieht.
Die Pandemie hat einmal mehr die bittere Wahrheit gezeigt, die sich in
diesem Witz verbirgt. Die Regierung scheint all ihre Reserven für die
Umsetzung des Lockdowns im Frühjahr aufgebraucht zu haben. Als damals die
Präsidentschaftswahlen anstanden und der konservative Amtsinhaber davon
ausging, seine zweite Amtszeit zu gewinnen, verhängte die Regierungspartei
keinen Gesundheitsnotstand, weil sich das auf die Wahltermine ausgewirkt und
Dudas Aussichten auf eine Wiederwahl gedämpft hätte. Nun scheint das
Hauptargument gegen die Einführung von Notfallmaßnahmen der Staatshaushalt
zu sein. Doch muss der Schein gewahrt bleiben. Die Verschärfung des
Abtreibungsverbots war eine todsichere Methode, um Unruhe zu stiften, und
wurde wohl als Mittel eingesetzt, um die Aufmerksamkeit vom Versagen der
Regierung abzulenken und die Schuld für die weiter steigende Infektionsrate
den Feministinnen zuzuschieben.

Für Kopfzerbrechen sorgt außerdem der "Unabhängigkeitsmarsch", der jedes
Jahr am 11. November zum Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs und der
Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit stattfindet. Dazu versammeln
sich traditionell besonders gewaltbereite rechte Kräfte, die zusammen mit
Hooligans und neofaschistischen Gruppierungen aus Polens Nachbarländern
aufmarschieren. Er ist im Laufe der Jahre immer größer geworden und hat sich
seit 2011 wiederholt für die Sicherheitskräfte als unkontrollierbar
erwiesen, da diese nicht bereit waren, den Rechtsextremen entschlossen
entgegenzutreten. Als "zyklische Versammlung" fällt der Marsch in eine
besondere Rechtskategorie, was in der Regel eine privilegierte Stellung
bedeutet. Diese rechtliche Zuordnung eröffnet jedoch auch die Möglichkeit,
dass die örtliche Regierung die Versammlung aufgrund von "höherer Gewalt"
(vis maior) verbieten kann. Während ein Verbot öffentlicher Versammlungen
durch die Regierung für die PiS-Partei bedeuten würde, rechtsextremen
Gruppierungen den Krieg zu erklären und den rechten Rand der Mehrheit zu
entfremden, war das Warschauer Rathaus nicht in einer solchen Situation und
sprach ein Verbot des Unabhängigkeitsmarsches aus epidemiologischen Gründen
aus. Daraufhin wurde der Marsch als Autokolonne angekündigt, doch trotz der
Appelle der Organisator*innen kamen mehrere Tausend offensichtlich
gewaltbereite Rechtsextreme zu Fuß. Bei den folgenden Krawallen wurden
Dutzende Menschen verletzt. Eine Streufackel, mit der auf einen Balkon mit
einer Regenbogenfahne und einem großen Frauenstreik-Poster gezielt wurde,
setzte eine benachbarte Wohnung in Brand. Letztlich haben diese
Ausschreitungen die antinationalistische Stimmung in der Bevölkerung weiter
verstärkt.

Der Sieg wird nicht gerichtlich sein

Im Hauptfokus der Proteste steht auch weiterhin die Entscheidung K1/20 des
Verfassungsgerichts, mit der die Möglichkeit untersagt wird,
Schwangerschaften mit schwer oder irreversibel beeinträchtigten Föten zu
beenden. Im polnischen Rechtssystem sind Entscheidungen des
Verfassungsgerichts unwiderruflich, da das Gericht selbst in Rechtsfragen
das letzte Wort hat. Nach ihrem Wahlsieg im Jahr 2015 ging die Regierung von
Recht und Gerechtigkeit (PiS; Fraktionszugehörigkeit im EU-Parlament: ECR)
dazu über, so viele Verfassungsrichter*innen wie möglich auszutauschen,
indem sie verschiedene Wahlen von noch nicht vereidigten Richter*innen für
ungültig erklärte und sie durch ihre eigenen Kandidat*innen ersetzte - auf
eine weitaus unverschämtere Weise, als es die Republikaner in den USA getan
haben, als sie die Kandidatur von Amy Coney Barrett durchsetzten. Infolge
der Regierungsbemühungen und der größtenteils unbefriedigenden
Entscheidungen wird das Verfassungsgericht von 2020 als Bollwerk der Partei
wahrgenommen und seine Entscheidungen gelten als Stimme der
Regierungspartei.

Der Schritt zum Abtreibungsverbot bei fetalen Fehlbildungen ist nur ein
weiterer Vorstoß, um das seit 1993 geltende Abtreibungsverbot zu
verschärfen. Das Gesetz von 1993, das als 'Abtreibungskompromiss' bejubelt
wurde, ließ für das generelle Abtreibungsverbot nur drei Ausnahmen zu: für
Schwangerschaften infolge von Vergewaltigung oder Inzest, Schwangerschaften,
die für das Leben und die Gesundheit einer Frau eine schwerwiegende Gefahr
darstellten, und bei fetalen Fehlbildungen.

Alle drei Ausnahmen blieben größtenteils unwirksam. Erstens ist es nahezu
unmöglich, rechtzeitig den Nachweis für eine Vergewaltigung zu erhalten, um
einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu können. Zweitens starben im
Laufe der Jahre mehrere Frauen aufgrund verzögerter oder manipulierter
Diagnosen von Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche ablehnten. Die
bekanntesten Fälle sind Agata Lamczak, die an einer unbehandelten
Darmentzündung starb, und Alicja Tysiac, die erblindete, nachdem Ärzt*innen
das Risiko nicht erkennen wollten und den Abbruch der Schwangerschaft
verweigerten. Die Fehlbildung des Fötus blieb in Polen der häufigste
Abtreibungsgrund, der jährlich mehrere hundert Abtreibungen veranlasste.
Doch wurde es zunehmend schwieriger, vorgeburtliche Tests vorzunehmen, und
häufig wurden die Termine dafür so spät gelegt, dass das Zeitfenster für
eine legale Abtreibung dann schon abgelaufen war.

Die Kirche stellte den Schritt als "Schützen des Lebens von Kindern" mit
nicht-tödlichem Down-Syndrom dar, obwohl die durchgeführten
Schwangerschaftsabbrüche hauptsächlich weit schwerwiegendere Fälle betrafen.
Wie 2016, 2017 oder 2018 fassten die polnischen Frauen die Entscheidung
nicht als Angelegenheit für vielleicht um die tausend Paare pro Jahr auf,
sondern als Angriff auf ihr allgemeines Recht auf Würde und angemessene
Gesundheitsversorgung in der Schwangerschaft. So war auf einem der Plakate
zu lesen, "Poppen macht jetzt Angst", und auf einem weiteren: "Aber anal
geht immer".

Der polnische Präsident Andrzej Duda versuchte die Protestierenden zu
beschwichtigen, indem er ein Gesetz vorschlug, das die dritte Ausnahme in
einem anderen Wortlaut ersetzen sollte. Seine verzweifelten Versuche, die
als "Kompromiss für einen Kompromiss" betitelt wurden, stellten niemanden
zufrieden und ließen die Demonstrierenden noch verärgerter zurück, sodass es
fast zu einem Bruch innerhalb der konservativen Mehrheit kam. Bisher ist die
K1/20-Entscheidung noch unveröffentlicht, da sie noch keinen
Gesetzescharakter erlangt hat. Die Anwält*innen von Krankenhäusern
argumentieren jedoch, dass dort eigentlich schon jetzt bereits geplante
Abtreibungen abgesagt werden müssten, weil die Entscheidung jederzeit
veröffentlicht werden könnte. Für den Moment besteht der einzige Ausweg aus
den unbeliebten Änderungen in einem Regierungswechsel und damit auch einem
Wandel des gesamten Rechtssystems.

Für diejenigen, die die Proteste anführen, scheint Aufgeben nicht infrage zu
kommen. Mittlerweile sind die Proteste weniger zahlreich, aber umso
entschlossener und werden selbst an unerwarteten Orten wie in Otwock, einer
konservativen Kreisstadt in der Nähe von Warschau oder in Zakopane, einem
beliebten touristischen Ziel in den Bergen, das für seine außergewöhnlich
vielen Fälle häuslicher Gewalt bekannt ist, organisiert. Vielleicht ist das
eine Revolution, die sich mit der im Mai '68 im Westen vergleichen lässt, an
der Polen nie beteiligt war.
(10.November 2020, CopyLeft: Creative Commons
Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International License)

Quelle:
https://www.transform-network.net/de/blog/article/polen-revolution-in-pandemie-zeiten/



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