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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 5. Dezember 2019; 00:47
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Bosnien/EU/Flucht/Reportage:

> Und keinen Schritt weiter

Im Skandallager Vucjak bei Bihac in Nordwestbosnien bedroht die Kälte
hunderte Flüchtlinge. Die Plattform SOS Balkanroute, der Verein We Help und
die oberösterreichische Flüchtlingshelferin Brigitte Holzinger haben den
bislang größten Hilfstransport für die Menschen organisiert. *Christoph
Baumgarten* hat sie begleitet.
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Ein kleines Feuer brennt in der ehemaligen Fabrikshalle am Stadtrand von
Bihac. Man sieht den Schein durch die zerbrochenen Glasscheiben des
Eingangstores, wenn man ganz nah am Gebäude steht. Als unser
Kleintransporter stehen bleibt, macht niemand auf. "Ich bin's, Zemira", ruft
Zemira Gorinjac. Sie ist die wohl bekannteste Flüchtlingshelferin der Stadt.

Langsam öffnet sich die Tür. Aus der Dunkelheit schälen sich die Köpfe
einiger Männer. Ihr Alter lässt sich in der Dunkelheit nur schwer
einschätzen. Sie sind meist nicht ganz jung und nicht ganz alt.

Sie kommen offensichtlich aus verschiedenen Teilen der Welt, die meisten
wahrscheinlich aus dem Mittleren Osten. "Wir haben gedacht, ihr seid die
Polizei und haben uns versteckt".

Vielleicht sind es 20 Leute, die hier campieren. Decken, Schlafsäcke, sind
auf dem kalten Betonboden ausgebreitet. Was auch immer warmhält. In der
hinteren Hälfte der kleinen Halle ist eine ungesicherte Bodenöffnung. Ein
Überbleibsel aus Fabrikszeiten. Vielleicht war hier eine Hebebühne. Wie tief
es hier heruntergeht, lässt sich nicht abschätzen.

Zemira gibt ihnen warmes Essen. Burek. Gerade gekauft beim Bäcker.

Wer hier haust, hat es geschafft, der Polizei in der Stadt zu entgehen und
nach Vucjak gebracht zu werden. Das ist ein illegales Lager auf der
ehemaligen Mülldeponie der Stadt. Bürgermeister Suhret Fazlic ließ es im
Frühling öffnen, um alle Flüchtlinge dorthinauf zu bringen, die nicht in
einer der offiziellen Unterbringungsstellen registriert sind.

Vucjak gilt als das schlimmste Flüchtlingslager Europas.

"Soll ich euch ein paar Plastikplanen bringen, damit ihr die
Fensteröffnungen schließen könnt?", fragt Zemira. "Danke, aber wir bleiben
nicht lange hier", sagt einer der Männer. Sein Akzent klingt nach
Afghanistan oder Pakistan.

Aus der Region kommen die Meisten hier. Ein oder zwei sind aus dem Iran, ein
paar andere aus Somali. Alles Orte, in denen kein Mensch leben möchte, der
seines Lebens oder seiner Freiheit sicher sein will.


Das gefährliche Spiel

Morgen oder übermorgen wollen sie das Spiel spielen. "The Game". So nennen
die Menschen den Versuch, über die nahe Grüne Grenze nach Kroatien zu
gelangen. In die EU.

Kroatische Polizei und kroatisches Militär bewachen die Außengrenze scharf
und häufig mit illegalen Methoden. Wer erwischt wird, wird meist verprügelt,
manchmal auch schwerer verletzt. Was auch immer er an Lebensnotwendigem
dabei hat, Schlafsäcke, Geld, Decken, Schuhe, verbrennen die
Grenzpolizisten. Smartphones werden zerstört. Sie sind die wichtigsten
Navigationsgeräte für Flüchtlinge.

Dann werden die Geprügelten, Verletzten, Ausgeplünderten zurück nach Bosnien
gebracht. Häufig illegal. Man setzt sie ganz einfach irgendwo aus.

Legal wäre, die Leute an eine bosnische Grenzstation zu bringen. Das würde
ihnen zumindest eine minimale Versorgung garantieren.

Keinen Schritt weiter. Und wenn es bedeutet, jeden Anschein von Rechtsstaat
aufzugeben. Das ist die Botschaft des baldigen Schengenlandes Kroatiens. Mit
finanzieller Unterstützung durch die EU.

Bis zu 6.000 Flüchtlinge sollen sich in Bihac aufhalten. Die Stadt ist das
Zentrum für die Fluchtbewegung über die angeblich gesperrte Balkanroute
geworden. Das überfordert auf Dauer nicht nur die Flüchtlinge, die hier
gestrandet sind. Auch Behörden und Bevölkerung kommen nicht mit der Masse an
Menschen zurecht. Probleme, die unweigerlich in so einer Situation
entstehen, werden aufgebauscht und zur Panikmache benutzt.


Im schlimmsten Lager Europas

Vucjak, Sonntagmittag. Es hat geregnet. Der dünne Lehmboden über dem Müll
der Stadt ist voller Pfützen.

Die meisten der 6- bis 800 Flüchtlinge hier muss auf diesem Boden schlafen.
Die wenigsten Zelte haben irgendeine Art von Boden oder Matte.

Die Leute stehen Schlange. Die Plattform SOS Balkanroute von Rapper Kid Pex
alias Petar Pero Rosandic, der Verein We Help rund um Renato Cica und die
Flüchtlingshelferin Brigitte Holzinger aus Kremsmünster haben vier Lkws
voller Decken, Schlafsäcke, Winterkleidung und Schuhen organisiert.
Begleitet werden sie von mehr als einem Dutzend Helferinnen und Helfern aus
Wien und von Nurten Yilmaz, Nationalratsabgeordnete der SPÖ.

"Wir können hier nur ein bisschen das Feuer löschen", sagt Pero. "Die Schuld
liegt eindeutig bei der Europäischen Union und den geschlossenen Grenzen.
Hier besteht die Gefahr, dass Leute erfrieren, da müssen wir helfen."

Auf mehreren Tischen unter einem Zelt liegen die Hilfsgüter ausgebreitet.
Genau geordnet. Schlafsäcke, Decken, Schals, Winterjacken, Schuhe etc.
Soweit wie möglich haben die Helferinnen und Helfer sie nach Größe
vorsortiert. Die Freiwilligen aus Österreich und Freiwillige vom Roten Kreuz
Bihac händigen die Hilfsgüter so rasch wie möglich an die frierenden
Flüchtlinge aus.

Drei Polizisten und ein paar Mitarbeiter des Roten Kreuzes verhindern einen
Massenansturm auf das Zelt und stellen sicher, dass die Flüchtlinge zur Not
auch stundenlang in der Schlange stehen. Alles andere würde zu Chaos führen
und in dieser Situation möglicherweise auch zu Gewalt.


Als ob sie nie etwas anderes getan hätten

Die Rot-Kreuzler und die österreichischen Freiwilligen haben sich erst am
Tag davor kennengelernt, als sie die Hilfsgüter aus insgesamt vier Lkws
entladen und im Rot-Kreuz-Lager für die Verteilung vorbereitet haben.

Eng zusammengearbeitet haben sie noch nie.

Man merkt es nicht.

Jede kennt ihre, jeder seine Rolle.

Kisten und Säcke entleeren, leere Boxen entsorgen, die Hilfsgüter auf die
Tische legen, sie an die Menschen weitergeben und dabei aufzupassen, dass
jeder kriegt, was er braucht und idealerweise in der richtigen Größe - es
funktioniert als hätten diese Menschen nie etwas anderes getan als gemeinsam
Hilfsgüter verteilt.

Selbst Sprachbarrieren spielen keine Rolle. Was hier hilft, ist, dass die
meisten österreichischen Freiwilligen Organisationserfahrung haben.

Hassan arbeitet für die Volkshilfe Oberösterreich, Arijana für das Wiener
Frauenzentrum Ega der SPÖ, andere kommen von der Sozialistischen Jugend oder
sind wie Liliom in Wiener SPÖ-Organisationen aktiv. Durch die Bank
kritisieren sie die Haltung ihrer Partei in der Flüchtlingspolitik.


Die unbedankten Aufgaben

Offiziell ist Nurten Yilmaz "nur" hier, um sich als Nationalratsabgeordnete
ein Bild von der Lage zu machen und in Österreich Druck aufzubauen, damit es
eine politische Lösung für das schlimmste Lager Europas gibt.

Sie hat sich mit dem Bürgermeister getroffen, mit Flüchtlingshelferin
Zemira, erkundigt sich bei Polizisten und Rot-Kreuzlern nach der Lage.

"Was man hier sieht, ist herzzreißend", sagt Nurten. Man sieht ihr an, dass
es sie aufwühlt, dass Menschen so behandelt werden. Daran, dass dieses Lager
geschlossen werden muss, lässt sie keinen Zweifel.

Und auch nicht daran, dass es ihrer Meinung nach eine andere Lösung geben
muss als die Menschen mit aller Gewalt, und sei es illegaler, davon
abzuhalten, in die EU zu kommen.

Jetzt ist sie hinter aufgetürmten Boxen verschwunden. Ab und zu taucht ihr
Kopf wieder auf. Nurten sortiert während der Verteilaktion Schuhe nach Größe
vor. Eine dieser vielen kleinen, unglamourösen, unbedankten Aufgaben, die
erst ermöglichen, dass ein Hilfstransport dieser Größe ankommt bei den
Menschen, die ihn brauchen. Was nützen die besten Winterschuhe einem der
vielen Flüchtlingen, die in ausgelatschten Sandalen herumlaufen, wenn sie
die falsche Größe haben? Um wie viel länger würde es dauern, die Artikel zu
verteilen, wenn sich die Flüchtlinge selbst die richtige Größe raussuchen
müssten? Wie viel Chaos würde das schaffen in einem ohnehin chaotischen
Lager?

Ja, Nurten sieht es als ihre Aufgabe, öffentliche Aufmerksamkeit und Kritik
an diesem Skandallager zu schaffen und den Zuständen, die es hervorgebracht
haben. Aber damit ist es aus ihrer Sicht nicht getan. Geholfen werden muss,
wo geholfen werden kann.


Die Schlägerei

Kurz vor dem Anfang der Schlange entsteht Unruhe. Mehrere Flüchtlinge sind
sich in die Haare geraten. Fäuste fliegen. Nach zwei Stunden Anstellen in
der Kälte liegen bei manchen die Nerven blank. Ein Polizist trennt die
Raufenden. Einer flüchtet. Der Polizist bekommt ihn von hinten zu fassen. Er
ringt ihn nieder und fixiert ihn auf einem der Tische vor dem Zelt, wo
Listen geführt werden.

Zufällig filme ich die Szene. "Das darfst du nicht", sagt mir der
Einsatzleiter der Polizei. "Ich glaube, ich nehme dich mit auf die
Wachstube", sagt mir der Polizist, der eben den Rauflustigen niedergerrungen
hat. Polizisten bei Einsätzen zu filmen, ist in Bosnien verboten. "Ich weiß,
wie das abläuft. Dann stellt ihr es so dar, als würden wir die Flüchtlinge
verprügeln. Die dort, die haben gekämpft. Die kannst du filmen", sagt mir
der Beamte nach einer kurzen Diskussion.

Ich lösche das Material. Journalistisch ist es wertlos. Die eigentliche
Schlägerei war nicht drauf, nur deren Ende. Allenfalls opfere ich ein
winziges Stückchen im konkreten Fall gegenstandsloser Pressefreiheit. Ich
erspare mir und allen anderen Beteiligten unnötige Scherereien. Egal, wie
man es sieht: Der Polizist hat keine unangebrachte Gewalt angewandt.

Tatsächlich könnte die Szene - etwa von einem Dritten willkürlich
herausgeschnitten aus meiner geplanten Video - freilich den Eindruck
erzeugen, ein bosnischer Polizist prügle einen wehrlosen Flüchtling. Die
Intervention ist sachlich nicht völlig unbegründet.

Die kurze Episode zeigt: Die Nerven liegen blank. Man kann es verstehen.


"Soll er doch eine Nacht dort oben verbringen"

Was für Kritiker schwieriger zu verstehen ist, ist die Neigung von
Bürgermeister Suhret Fazlic, für die Zustände im Lager alle anderen
verantwortlich zu machen. Er war es, der es errichten ließ. Er hat vor
einigen Wochen die Finanzierung von Essen und Trinkwasser eingestellt.
Seitdem müht sich das Rote Kreuz, die Menschen vor dem Verhungern und dem
Verdursten zu bewahren.

Auch wenn etliche Menschen spenden, das Geld reicht kaum aus. Und die
freiwilligen Helfer der Organisation pfeifen nach einem halben Jahr
Dauereinsatz aus dem letzten Loch. Der Bürgermeister zeigt sich dankbar für
den Einsatz. Betont aber gleichzeitig, er könne nichts für die Situation.
Irgendwie habe er damit zurechtkommen müssen, dass die bosnischen Behörden
und die EU nicht genügend Lager für die Flüchtlinge in der Stadt
bereitgestellt haben.

Jetzt sei eben das Geld ausgegangen und die Zentralregierung in Sarajevo
stelle nicht ausreichend Mittel bereit. Man könne die Flüchtlinge nicht mehr
aus Mitteln der Stadt versorgen. Er könne nichts dafür und würde sich über
jede Lösung freuen. Immerhin, er bedankt sich bei den Bürgerinnen und
Bürgern seiner Stadt, dass sie Flüchtlinge versorgen und auch bei den
internationalen Helfern.

Und kritisiert im Gespräch mit Nurten Yilmaz, dass gegen Flüchtlinge gehetzt
wird. Das dürfe nicht passieren: "Sollte auch in meiner Stadt die Xenophobie
steigen, werde ich zurücktreten." Sind es die Botschaften eines Menschen,
der hilflos ist zwischen internationalen Organisationen und bosnischen
Behörden, die einander die Verantwortung zuschieben, für die Flüchtlinge im
Land zu sorgen? Ist es ein überforderter Wohlmeinender?

Oder sind es die Aussagen eines Menschen, der sich irgendwie durchmogeln und
aus seiner politischen Verantwortung stehlen will? Ungeteilten Beifall
erntet er jedenfalls bei den Flüchtlingshelferinnen- und helfern in der
Stadt nicht. Zemira Gorinjac zeigt im Gespräch mit Nurten Yilmaz
Verständnis, dass der Bürgermeister nur einen eingeschränkten
Handlungsrahmen hat. Ein Lager illegal auf einer ehemaligen Mülldeponie zu
errichten und dort nicht einmal die notwendigsten Voraussetzungen zu
schaffen, um Menschen zu versorgen, sei aber die falsche Vorgangsweise
gewesen: "Soll er doch eine Nacht dort oben verbringen. Mal schauen, was er
dann sagt."
(balkanstories.net)



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