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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 5. Dezember 2019; 00:50
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Wien/Soziales:

> Offener Brief
> der Bettellobby Wien an den Wiener Sozialstadtrat

Sehr geehrter Herr Stadtrat Hacker!
Eine Diskussion um eine härtere Vorgehensweise gegen bettelnde Menschen
pünktlich zum ersten Advent überrascht wohl niemanden mehr. Diese Debatte
kehrt beinahe alle Jahre wieder. Was uns jedoch überrascht, ist, dass gerade
Sie diese Debatte anstoßen, normalerweise ist es der Boulevard oder die
politische Konkurrenz. Als Geschäftsführer des Fonds Soziales Wien waren Sie
bis vor kurzem noch auf der Seite jener, die um konstruktive Lösungen für
soziale Probleme bemüht sind und haben erfreulicherweise Angebote für
armutsbetroffene EU-Bürger*innen geschaffen. Es scheint, dass die SPÖ - wie
schon im Wahlkampf 2009/2010 - das Thema wieder einmal für sich entdeckt
hat. Damals resultierte die Debatte in der Einführung des Verbotes des
"gewerbsmäßigen" Bettelns, eines Tatbestandes von dem - trotz vieler
Gerichtsverfahren - bis heute nicht geklärt ist, was er denn genau
beinhaltet und der der willkürlichen Bestrafung von bettelnden Menschen Tür
und Tor geöffnet hat.

Diejenigen, die sie als "organisierte Banden" diffamieren, sind Menschen,
die versuchen ihrer Armut zu entkommen. Es sind Eltern und Großeltern, die
ihren Kindern und Enkeln eine bessere Zukunft ermöglichen wollen. Es sind
arbeitsunfähige Menschen, die in Wien einige Jahre betteln, bis sie alt
genug sind, um in ihrem Herkunftsland eine Pension bekommen. Es sind
Menschen, die nicht nur betteln, sondern bei jeder Gelegenheit andere Jobs
annehmen, etwa als Erntehelfer*innen. Es sind Menschen mit Behinderungen,
die durch Bettelei etwas zum Familieneinkommen beitragen können, anstatt
sich nur als Last zu empfinden. Fragen Sie doch Ihre ehemaligen
Mitarbeiter*innen in der Wohnungslosenhilfe des Fonds Soziales Wien oder
sprechen Sie selbst mit bettelnden Menschen. Sie werden Informationen
erhalten, die differenzierter sind als jene, die Sie in den letzten Tagen
verbreitet haben. Und Sie werden beeindruckt sein von diesen Menschen und es
wird Ihnen in der Folge schwer fallen, sie pauschal zu diffamieren. Es ist
unbestritten, dass manche dieser Personen Belästigungen verursachen. Doch
die Vertreibungspolitik a la "Aktion Scharf" der Polizei erweist sich seit
Jahren als ineffizient. Bettelnde Menschen werden - völlig unabhängig davon,
wie sie sich verhalten - mit hohen Geldstrafen belegt. Werden diese Strafen
beeinsprucht, werden sie in vielen Fällen vom Verwaltungsgericht aufgehoben
oder reduziert. Doch viele Bettelnde bringen kein Rechtsmittel ein und
müssen in der Folge häufig Ersatzfreiheitsstrafen von mehreren Tagen
antreten. Das verschlechtert ihre Situation noch weiter, weil sie in dieser
Zeit kein Einkommen erzielen können. Und das kostet die Steuerzahler sehr
viel Geld, denn der Personalaufwand der Exekutive ist enorm und die Haft in
den Polizeianhaltezentren verursacht ebenfalls hohe Kosten. Die Tatbestände
des Wiener Landessicherheitsgesetzes werden von der Polizei so weit
interpretiert, dass alle bettelnden Menschen bestraft werden, unabhängig
davon, wie sie sich verhalten. Dies steht im Widerspruch zu einem Erkenntnis
des Verfassungsgerichtshofes, der 2012 festgestellt hat, dass Betteln in
Österreich grundsätzlich erlaubt sein muss. Diese Praxis steht außerdem im
Widerspruch zum ordnungspolitischen Anliegen, nur bestimmte, belästigende
Formen der Bettelei zu unterbinden. Derzeit macht es für einen Bettler
keinen Unterschied, ob er sich aggressiv verhält oder nicht. Denn bestraft
werden sowieso alle, vor allem im Rahmen einer "Aktion scharf". In vielen
Beratungsgesprächen werden wir gefragt, wie denn gebettelt werden dürfe,
ohne dass dies eine Strafe zur Folge habe. Wir können darauf keine Antworten
geben, denn unsere Erfahrung zeigt, dass ältere Frauen, die völlig
unauffällig still in einer Ecke sitzen genauso sanktioniert werden, wie
junge Männer, die Passant*innen den Weg verstellen und ihnen nachgehen.

Die momentan laufenden "Aktion scharf" wird das Problem mit durch die
Bettelei verursachten Belästigungen ebenso wenig lösen wie jene in den
Vorjahren. Im nächsten Advent werden wir diese Debatte vielleicht nicht
führen, weil gerade kein Wahlkampf ist. Die Situation auf den Straßen wird
aber wieder dieselbe sein und das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben.
Niemand sollte den Wiener*innen daher versprechen, er könne ihnen die
Begegnung mit der Armut ersparen. Mit der Verwendung von diffamierenden
Sprachbildern wie "organisierter Bettelei" tragen Sie nur dazu bei, noch
mehr Verunsicherung und Ablehnung zu verbreiten.

Die von Ihnen gebilligten Abschiebungen von EU-Bürger*innen wurden im
Vorjahr zurecht kritisiert, denn viele Personen wurden zur Ausreise
aufgefordert ohne genau zu prüfen, ob ihr Aufenthalt in Wien rechtmäßig ist.
Innenminister Kickl hat durch diese Vorgehensweise hohe Abschiebezahlen
erreicht und seinen Wähler*innen vorgegaukelt, es würde sich um Flüchtlinge
handeln. Sind Sie für eine erneute derartige Vorgehensweise oder haben Sie
nur nichts dagegen? Wir hoffen doch sehr, dass zwischen Ihnen und
Innenminister Kickl mehr als nur ein "feiner Unterschied" besteht.

Es wäre längst an der Zeit, neue Wege zu gehen. Ansätze für Lösungen sind in
Wien bereits vorhanden, sie selbst waren als ehemaliger Geschäftsführer des
Fonds Soziales Wien an deren Implementierung beteiligt. Insbesondere die vom
FSW (und auch anderen Trägern) durchgeführten Streetwork-Angebote sowie
diverse Anlaufstellen für armutsbetroffene EU-Bürger*innen bergen unserer
Ansicht nach großes Potential. Sozialarbeiter*innen, die die relevanten
Sprachen sprechen, können bei Konflikten im öffentlichen Raum vermitteln und
erklären, was erlaubt ist, und was nicht. Dies würde jedoch eine klare
Rechtslage voraussetzen. Sozialarbeiter*innen können Bettelnde darüber
hinaus unterstützen, ihre Lage zu verbessern und mit ihnen ergebnisoffen
abklären, ob sie hier in Wien bleiben oder in ihr Herkunftsland
zurückkehren. Die Polizei hat besseres zu tun, als sinnlos armen Menschen
nachzustellen. Klare Regeln zu kommunizieren wäre wesentlich zielführender
als Strafen auszustellen, die die Betroffenen nicht verstehen.

Wien feiert sich am 10.12. wieder als Stadt der Menschenrechte. Im Umgang
mit bettelnden Menschen hat sich bis dato nichts verbessert. Das muss nicht
so bleiben, denn Wien könnte auch in dieser Frage zu einem Vorreiter werden.
Die Frage ist, ob Sie den Mut haben, neue Wege zu gehen oder ob Sie bei
Diffamierung und Vertreibung bleiben, anstatt an Lösungen zu arbeiten.

Wir jedenfalls bieten Ihnen unsere Unterstützung bei der Entwicklung neuer
Wege an.

Mit freundlichen Grüßen

Die BettelLobby Wien,
1. Dezember 2019

*

Quelle:
https://www.bettellobby.at/2019/12/01/offener-brief-an-stadtrat-peter-hacker

*

Kasten:

> Zum Hintergrund

In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "profil" hatte der Wiener
Sozialstadtrat Peter Hacker erklärt: "Wir wissen, dass es Gegenden in
Rumänien gibt, von wo ganze Dörfer auf Betteltour fahren. Das kann ich als
Stadtrat nicht akzeptieren." Und auf die Frage, ob er dafür sei, mehr
osteuropäische Bettler abzuschieben, meinte er: "Ich bin nicht dafür, ich
hätte nur nichts dagegen. Das ist ein feiner Unterschied."

Daraus wurde in der medialen Rezeption die Forderung nach einem Bettelverbot
in Wien. Nur: Das gibt es schon und es ist das Strengste in Österreich, das
vor dem VfGH Bestand haben sollte. 2010, kurz vor der Landtagswahl, hatte
die SPÖ es mit ihrer damals noch absoluten Mehrheit beschlossen. Die Wiener
Grünen unterstützten deswegen eine Bettlerin bei einer Klage vor dem
Höchstgericht. Das Entscheid kam dann aber erst, als die Grünen mit der SPÖ
schon in einer Koalition waren.

Am Sonntag ruderte Hacker im Gespräch mit dem "Standard" zurück: "Ich habe
ultimativ und klar dargestellt, dass ein generelles Bettelverbot gegen
Menschen gerichtet ist, und davon halte ich nichts." Bettelverbote, wie es
sie etwa in Innsbruck gibt, würden nur die Sichtbarkeit von Armut
verdrängen, sie aber nicht bekämpfen. Im Gegensatz zu anderen Städten könne
Wien Bettler "nicht in die Hauptstadt verdrängen, weil wir diese sind".

Organisiertes Betteln aber, so Hacker weiter im Standard, würde "arme
Menschen weiter ausnutzen". Es sei "eine Art der Einkommensbeschaffung",
aber nicht für die bettelnden Menschen selbst, sondern für jene, "die sie in
Bussen nach Wien bringen, ihnen das Geld abknöpfen und sie dann wieder nach
Hause bringen". Das sei ein klarer Unterschied zu jenen, die für sich selbst
betteln. Gegen diese habe Hacker nichts, "auch wenn das kein Zielzustand für
das Sozialsystem ist".

Die Frage ist halt nur, welche Konsequenzen die Polizei daraus zieht.
Diesbezüglich zitiert der Standard auch die grüne Vizebürgermeisterin Birgit
Hebein: "In wenigen Tagen, am 10. Dezember findet der 5. Jubiläumstag
'Wien - Stadt der Menschenrechte' statt. Wien darf niemanden zurücklassen.
Armut zu bekämpfen ist eine soziale und keine polizeiliche Aufgabe."

Wie sich die Grünen in dieser doppelten Zwickmühle (einerseits
Noch-Koalition mit der SPÖ in Wien und Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP
im Bund, andererseits Kritik an Bettelverboten) konkret bei neuen
Gesetzesvorhaben verhalten werden, bleibt abzuwarten.

-br-




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