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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 30. Januar 2019; 23:54
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Wien/Balkan:

> Suzanas und Dzenitas Kampf

Sie kämpfen auch in der neuen Heimat um Gerechtigkeit für ihre ermordeten
Angehörigen in Bosnien: Suzana Radanovic und Dzenita Memic. In Wien haben
sie mit einer Kundgebung der Bewegungen Pravda za Davida (Gerechtigkeit für
David) und Pravda za Dzenana (Gerechtigkeit für Dzenan) auf Korruption und
die Unfähigkeit der Behörden in ihrem Geburtsland aufmerksam gemacht.


Es sind um die 100 Menschen, die vor der Wiener Staatsoper der Kälte
trotzen. Sie kommen aus allen Teilen Bosniens, vornehmlich aus Banja Luka
und Sarajevo. Einige sind auch hier geboren. Vereinzelt sind auch
Unterstützerinnen und Unterstützer aus Serbien da.

Es sind Menschen jeglichen Alters, die heute die geballte Faust
emporstrecken, die zum Zeichen des Kampfs für die Mordopfer David Dragicevic
aus Banja Luka und Dzenan Memic aus Sarajevo geworden ist. Die Morde beider
junger Männer sind nicht aufgeklärt.

"Heute sind es 300 Tage, dass David ermordet wurde. Noch immer gibt es
keinen Verdächtigen", sagt Dzenita Memic ins Megafon. "Und es sind drei
Jahre, dass mein Cousin Dzenan ermordet wurde. Nach zweieinhalb Jahren haben
wir wenigstens ein Gerichtsurteil aus Sarajevo, dass es kein Autounfall war,
wie die Polizei zuerst behauptet hat, sondern Mord."

Verurteilt wurde freilich auch in diesem Mordfall bislang niemand. "Pravda"
rufen die Teilnehmenden. Laut und trotzig. "Gerechtigkeit".

Auch Suzana Radanovic schildert ihren Kampf um Gerechtigkeit für ihren Sohn
David Dragicevic. Erzählt, wie die Polizei den Tod des Studenten mit den
Rastalocken zunächst als selbstverschuldet ausgegeben hat, ihn als
Drogensüchtigen dargestellt. Und wie erst durch öffentlichen Druck eine neue
Untersuchung gestartet wurde, die zum eindeutigen Schluss kam, dass David
ermordet wurde.

Sie wirkt müde, erschöpft vom Kampf. "Ich kriege jeden Tag Anrufe, e-mails
von Menschen, denen es ähnlich geht", sagt sie nach ihrer Rede gegenüber
Balkan Stories. "Ausruhen kann ich mich seit 300 Tagen nicht."

Warum sie trotzdem weitermacht? "Das ist mein Sohn. Was soll ich denn sonst
tun?"

Viele andere Angehörigen haben den Kampf um Gerechtigkeit für ihre
ermordeten Töchter, Söhne, Geschwister in Bosnien längst aufgegeben.
Erhoffen sich nichts mehr von dem Staat, dessen Politik und Behörden als
korrupt gelten, dessen politische Organe sich in einer nationalistischen
Selbstlähmung befinden, den die Menschen jedes Jahr zu Zehntausenden
verlassen. Dutzende ungeklärte Mordfälle gibt es in Bosnien.


"Bin dankbar, dass ich die Kraft habe"

"Die Polizei und die Behörden wollen nichts tun", schildert ein
Demo-Teilnehmer, der in Wien ein Unternehmen hat. "Da kriegt der
Staatsanwalt von jemandem 70.000 Euro für eine Wohnung und ermittelt nicht
gegen einen Verdächtigen." Wie weit solche Schilderungen zutreffen, ist eine
andere Frage. Dass sie so breit kursieren, zeigt freilich, wie unfähig
häufig bosnische Behörden sind - ob gewollt oder nicht - und wie sehr die
offene Korruption der politischen Klasse das Vertrauen in den Staat
insgesamt erschüttert hat.

"Ich habe die Kraft zu kämpfen", sagt Suzana. "Ich weiß nicht, wieso, aber
ich bin dafür dankbar." Sie verstehe auch Menschen, die es längst aufgegeben
haben. "Da gibt es Familien, wo zuerst das Kind ermordet wurde und dann der
Vater an Krebs erkrankt ist. Da kann man nicht kämpfen."


Den Mächtigen auf die Zehen getreten

Suzana versucht, den Kampf für David irgendwie abzustimmen auf die
Bedürfnisse ihrer Familie in Wiener Neustadt nahe Wien und auf ihren
Arbeitsplatz. Ihre Waffe ist vor allem das Internet. Unten, in Banja Luka,
ist nach wie vor Suzanas Ex-Mann Davor, Davids Vater, die Galionsfigur des
Protests. Seitdem gegen ihn Anfang des Jahres ein von außen eher willkürlich
erscheinender Haftbefehl erlassen wurde, ist er abgetaucht. Er fürchtet um
sein Leben, ließ er die Mitglieder der Bewegung Pravda za Davida in einem
Video wissen. Auch das ist symptomatisch für Bosnien und vor allem für den
serbisch dominierten Teilstaat Republika Srpska (RS).

Die Protestbewegung mit Davor an der Spitze ist den Mächtigen der RS auf die
Zehen getreten. Die Gefolgsleute der Mehrheitspartei SNSD haben alle Fäden
in der Hand, kontrollieren Polizei und - indirekt - die meisten Medien.
Pravda za Davida macht die SNSD rund um ihren Gründer, den Nationalisten
Milorad Dodik, verantwortlich dafür, dass der Mord an David vertuscht wurde.
Und vermutet, der oder die Mörder kämen aus den Reihen der Polizei. Die
steht unter dem Kommando des Innenministers der RS, der Mitglied der SNSD
ist.

Seit Wochen versucht die Polizei in Banja Luka, Pravda za Davida zu
zerschlagen. In den Griff bekommen hat die Polizei der RS Pravda za Davida
nicht. Nach wie vor veranstaltet die Bewegung täglich Protestkundgebungen in
Banja Luka.


Suzana spielt ihre Rolle herunter

Seit Davor abgetaucht ist, sind die kleiner geworden. "Davor ist die
Führungsfigur", sagt Suzana. "Jetzt, wo er nicht aktiv ist, sind die
Menschen verunsichert und wissen nicht, was sie tun sollen. Aber sobald er
wieder da ist, werden wieder Tausende auf die Straße gehen. Wir in Bosnien
brauchen eben eine Führungsfigur."

Dass sie selbst nach dem Verschwinden Davors einige Tage lang diese
Führungsfigur war, dass sie Proteste in Banja Luka angeführt hat, bevor sie
zurück nach Österreich musste, das spielt sie herunter. Vielleicht liegt
ihre ehrliche aber fehlgeleitete Bescheidenheit daran, dass sie anders als
ihr Ex-Mann Davor keine mitreißende Rednerin ist. Was sie zu sagen hat,
erzählt sie sachlich. Für große Emotionen, spürt man, fehlt ihr im Moment
die Kraft.

Dennoch ist auch diese leise Frau zu einer Galionsfigur geworden im Kampf
gegen das dysfunktionale bosnische Staatswesen. Für sie steht der Mord an
ihrem Sohn im Vordergrund.


Symbole für einen versagenden Staat

Aber längst geht es nicht mehr nur um die Morde an David und Dzenan. Dass
die Mörder der jungen Männer nach wie vor unbekannt sind, ist für
Zehntausende zum Symbol geworden für den versagenden Staat. "Ich bin aus
Banja Luka und kenne Davids Eltern", erzählt Ana, die ebenfalls auf der Demo
vor der Staatsoper ist. "Ich habe auch einen Cousin, der ist etwas jünger
als David. Wenn ich denke, dass David ermordet wurde und niemand verhaftet
wurde, stell ich mir manchmal vor, was meinem Cousin passieren könnte." Ana,
die in Österreich lebt, war von der ersten Stunde an Teil der Bewegung
Pravda za Davida, hilft in ihrer Freizeit, zu organisieren und zu
informieren. Nicht nur viele "unten" haben die Schnauze voll. Auch ihre
Familien in der Dijaspora setzen sich dafür ein, dass irgendetwas in Bosnien
funktioniert.


Die Pravda-Bewegungen zerstören Bosniens nationalistischen Konsens

Längst hat dieser Kampf alle ethnischen Grenzen überschritten. Nicht nur
hier stehen die bosnische Serbin Suzana und die bosnische Muslimin Dzenita
Seite an Seite. Auch in Bosnien marschieren sie gemeinsam, fragt bei den
Bewegungen niemand mehr, wer wer ist. Unterstützen die Eltern beider
Mordopfer einander.

Die Korruption und das Versagen des Staats sind nicht auf einen Teilstaat
beschränkt. Nie seit der Unabhängigkeit war eine Protestbewegung in Bosnien
so groß, und vor allem hat nie davor eine in beiden Landesteilen, Republika
Srpska und Federacija, stattgefunden.

Das in einem Land, wo sich die offiziellen politischen Vertretungen von
Bosnjaken, Serben und Kroaten in der Regel nach Kräften bemühen, einander
gegenseitig zu lähmen. Wo vor allem aber nicht nur die nationalistischen
Machthaber in der RS vorgeben, sie und nur sie könnten die serbische Kultur
in Bosnien, oder im Fall der kroatischen HDZ die kroatische oder im Fall der
muslimischen SDA die bosnjakische, verteidigen.

Die Pravda-Bewegungen haben das Potential, den nationalistischen Konsens
auszuhebeln, nach dem Bosnien seit Kriegsende gestaltet wird. "Aber dazu
brauchen wir auch die Hilfe der EU und der internationalen Gemeinschaft",
sagt Suzana.

Darauf verlassen will man sich freilich nicht. Wie es auch zwischen Bosnien
und Serbien passiert, wird überlegt, sich in Wien mit den örtlichen
Organisatorinnen und Organisatoren der serbischen Protestbewegung zu
vernetzen. Unter Umständen könnte es bald eine gemeinsame Protestkundgebung
geben. Außerdem wird angedacht, einen Verein zu gründen, der
Korruptionsopfer in Bosnien unterstützt. "Es geht nicht nur um David und
Dzenan", sagt Suzana. "Es geht um Gerechtigkeit für die Kinder von uns
allen."

*Christoph Baumgarten, Balkanstories*


https://balkanstories.net/2019/01/20/suzanas-und-dzenitas-kampf/




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