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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 17. Oktober 2018; 20:43
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Sozialversicherung:

> Zwei Jahrhunderte Kampf

Die Sozialversicherungen hierzulande haben eine lange Geschichte. *Karl
Murx* hat für die akin aus mehreren Artikeln eine Zusammenstellung darüber
gebastelt. Conclusio: Trotz Aufs und Abs hat die Selbstverwaltung früher
schon mal besser funktioniert.
*

Die aktuelle Debatte um die Sozialversicherung und die Allgemeine
Unfallversicherungsanstalt, sowie die immer wiederkehrenden Diskussionen um
die Pensionsversicherungsanstalt lassen die Geschichte dieser Institutionen
als wesentliche Eckpfeiler der österreichischen ArbeiterInnengeschichte
außen vor und verleugnen so die historische Bedeutung und Notwendigkeit der
Selbstorganisation der ArbeiterInnen, die durch blutige Kämpfe und auf dem
Rücken zahlloser Verwundeter, Verletzter und Verunglückter ArbeiterInnen in
den letzten 200 Jahren ausgetragen wurden. Des weiteren negieren sie, dass
es sich bei diesen Organisationen ursprünglich und eigentlich immer um
solidarische Zusammenschlüsse der ArbeiterInnen gehandelt hat und das in
diesen Organisationen schlussendlich auch die Beiträge und damit deren
Vermögen eigentlich immer von den ArbeitnehmerInnen eingezahlt wurde.
Wenngleich diese Beiträge in den letzten Jahrzehnten auch direkt von den
Arbeitgebern eingezahlt wurden, so waren diese Einzahlungen doch Teil des
Gehalts/Lohnes der ArbeiterInnen und Angestellten.

Dieses Geld wollen sich nun die KapitalistInnen einverleiben und unter ihre
Kontrolle bringen, um ihre Profite noch mehr zu steigern oder ihre
Misswirtschaft -- sprich Schulden -- auf den Staat und in weiterer Folge auf
die ArbeiterInnen abwälzen zu können. Dabei lassen sie sich nicht lumpen und
schnappen sich gleich die ganze Organisation dazu. Dadurch können sie in
Zukunft die Kontrolle darüber ausüben, welche Leistungen überhaupt noch
angeboten werden und so die ArbeiterInnen besser kontrollieren und noch
besser ausbeuten, indem sie beispielsweise Rehabilitationen und Kuren
verkürzen sowie qualitativ verschlechtern oder Leistungen gar an Bedingungen
knüpfen.

Vor etwa 200 Jahren begannen die Arbeiter und Angestellten, sich gegen das
soziale Elend aufzulehnen, in dem die meisten von ihnen leben mussten. Die
Arbeiter hatten kaum zu essen und waren schlecht gekleidet. Die Tuberkulose
und andere Krankheiten forderten zahlreiche Opfer. Es gab keine
Arbeiter-Versicherung. Ärztliche Behandlung war nur für Geld möglich, aber
das Geld der Arbeiter-Familien reichte nicht einmal für die Ernährung aus.
Die Arbeiter alterten früh. Wenn ein Arbeiter erschöpft war oder krank
wurde, warfen ihn die Kapitalisten auf die Straße. Besonders schwer war die
Lage der Arbeitslosen. An den Fabrikstoren drängten sich stets Menschen, die
erfolglos nach Arbeit suchten. Der Arbeitslose war zum Hungertod verurteilt
und mit ihm auch seine Familie.

In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts war eine 12- bis
14-stündige tägliche Arbeitszeit noch die Regel. Obwohl Kinderarbeit unter
neun Jahren schon damals offiziell verboten war, scherten sich Fabrikanten
nicht darum. Ebenso wie sie gewisse Gesetze, die die Arbeitszeit
beschränkten, umgingen, indem sie die Arbeiter zu zwei Schichten täglich
kommen ließen.

Die ersten Krankenkassen

Um ihre Situation zu verbessern und die sozialen Gefahren für sich und die
Familien der Arbeiter zu verbessern, organisierten sich die Arbeiter in
Arbeitervereinen, in denen sie nach einiger Zeit auch anfingen, Geld zu
sparen, um Mitgliedern der Vereinigung im Falle eines Krankenstandes oder
eines Unfalles den Lohnentgang ausgleichen zu können und so die soziale
Härte abzufedern. Nach und nach weiteten die Vereine die Sammlungen auch für
etwaige Arbeitslosigkeit, Unfall-Renten und Pensionen aus.

So setzen beispielsweise die Bergarbeiter durch, dass auch die
Bergwerksbetreiber in ihre Kassen einzahlen mussten, und waren so die
ersten, die eine Betriebskrankenkasse gründeten. Dabei darf aber auch nicht
außer acht gelassen werden, dass die Bergarbeiter damals die schwersten
Unfälle erlitten hatten, bei denen die meisten tödlich verunglückten, und
mit dem Geld verhindert wurde, dass zu dem Leid auch noch die Familien
verhungern mussten. Dieses Modell versuchte man, als Pflicht des Staates
durchzusetzen, da die Meinung bestand, dass für das soziale Wohl der
BürgerInnen der Staat zu sorgen habe.

Die Regierungen des Kaisers Franz Joseph fürchteten die junge
Arbeiterbewegung und versuchten, diese mit einer Doppelstrategie zu
"befrieden": Einerseits durch Polizeigewalt und politischen Druck,
andrerseits durch das Angebot eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit und
das Angebot von -- wenn auch zunächst noch sehr begrenzter -- Mitbestimmung.
So entstanden die ersten diesbezüglichen Gesetze wie das Vereinsgesetz, dass
die Entstehung der ersten Arbeiterkrankenkassen auf legaler Basis
ermöglichte. Vorläufer waren im Jahre 1300 die Kuttenberger Bergordnung
Wenzels III. (als Regelung der Bergarbeiterbruderläden -- die ersten
Arbeiterorganisationen der Bergarbeiter) sowie um 1800 die Gründung von
selbstverwalteten Fabrikskassen der Industriearbeiter. 1803 fand die
Gründung des ersten Arbeiter-Unterstützungsvereins, der Kranken- und
Viaticumskasse der Linzer Buchdruckergehilfen statt.
Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung entwickelte sich parallel mit
der Demokratie in Österreich und ist ein wesentliches und unverzichtbares
Stück dieser.

Am 28. Dezember 1887 beschloss das Abgeordnetenhaus des österreichischen
Reichsrates das Gesetz über die Arbeiter-Unfallversicherung, das 1889,
gemeinsam mit dem 1888 verabschiedeten Gesetz über die
Arbeiter-Krankenversicherung, in Kraft trat. Mit der Einführung der
gesetzlichen Krankenversicherung der in "fabriksmäßigen Betrieben"
beschäftigten ArbeiterInnen sowie Angestellten wurden zugleich die
weitgehend autonomen, selbstverwalteten Arbeiterkrankenkassen, neben den
Bezirkskrankenkassen Vorläuferorganisationen der Gebietskrankenkassen, in
die gesetzliche Sozialversicherung integriert.

Als das Krankenversicherungsgesetz in Kraft trat, blieben alle Arbeiter, die
bereits bei einer anerkannten Kasse versichert waren (ob durch Gesetz, wie
bei den Bruderladen der Bergleute, oder freiwillig in Vereinskassen), bei
ihrer bisherigen Versicherung. Das galt auch für die Arbeiterkrankenkassen
und Arbeiterinvalidenkassen, die sich als freiwillige
Selbsthilfeeinrichtungen natürlich autonom verwalteten. Sie wurden zu einer
der beiden tragenden Säulen des Sozialversicherungssystems.

Die beiden Stammgesetze der österreichischen Sozialversicherung beinhalteten
zwar für die versicherungspflichtigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den
Anspruch auf gewisse Versicherungsleistungen (ärztliche Hilfe,
Spitalspflege, Heilmittel und Heilbehelfe, Krankengeld, Unfallrenten etc.).
Diese waren aber alles in allem sehr schwach ausgestaltet, und darüber
hinaus wurde "nur" rund ein Drittel der ArbeiterInnen in Österreich in den
Kreis der Versicherten miteinbezogen, nämlich die IndustriearbeiterInnen
sowie Industrieangestellten und die ArbeiterInnen in Gewerbeunternehmungen
mit zumindest 20 Beschäftigten. Die Land- und ForstarbeiterInnen, die rund
die Hälfte der österreichischen Arbeiterschaft bildeten, die
kleingewerblichen ArbeiterInnen und andere ArbeitnehmerInnengruppen waren
von der gesetzlichen Unfall- und Krankenversicherung ausgeschlossen.

Der 28. Dezember 1887 ist zugleich der Gründungstag der Selbstverwaltung in
der Sozialversicherung, denn mit dem Unfallversicherungsgesetz 1887 und dem
Krankenversicherungsgesetz 1888 wurde ein auf dem Prinzip der direkten
Selbstverwaltung basierendes Organisationssystem als zentrale materielle
Grundlage für die Arbeiter-Unfall- und Krankenversicherung auch in
Österreich eingeführt.

Die Träger der Arbeiter-Unfallversicherung waren die territorialen
Unfallversicherungsanstalten. Im Unterschied zu den Krankenkassen existierte
bei den Unfallversicherungsanstalten keine Generalversammlung der
Mitglieder, sondern der Vorstand bildete deren einziges zentrales Gremium
(Drittelparität: ein Drittel Unternehmervertretung - ein Drittel
ArbeitnehmerInnenvertretung - ein Drittel Behördenvertretung). Die
Behördenvertreter, die vom Innenminister ernannt wurden, stellten dabei die
dominante Gruppe dar, wobei auch die Macht der Unternehmervertreter nicht
unterschätzt werden sollte.

Der Vorstand der Unfallversicherungsanstalt wurde direkt von den
Mitgliedern, also den Versicherten und den Unternehmern bzw. deren
Vertretern auf Basis von Betriebskategorien gewählt.

Die Wahlbeteiligung dürfte bei den Unfallversicherungsanstalten, ebenso wie
bei den Krankenkassen, relativ niedrig gewesen sein (rund 50 Prozent), es
existieren darüber jedoch keine genauen Angaben.

Alle Arbeiter ohne eigenen oder besonderen Versicherungsschutz wurden in der
gesetzlichen Pflichtversicherung, den Bezirkskrankenkassen, erfasst. Sie
standen unter staatlicher Aufsicht, wurden aber schon in Selbstverwaltung
geführt. Da die Arbeiter den größten Teil der Beiträge aufbrachten, hatten
ihre Vertreter in den Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen die
Mehrheit. Bei der Kontrolle wurde umgekehrt gewichtet.

Die Unfallversicherung ersetzte die Haftpflicht der Unternehmer für
Arbeitsunfälle. Die Finanzierung erfolgte überwiegend durch die Arbeitgeber.
Demgemäß hatten sie in den Organen auch die Mehrheit - in der Kontrolle
waren dagegen die Arbeitnehmer bestimmend.

1889 kam das Bruderladengesetz, damit die Unfall- und Krankenversicherung
der Bergarbeiter, allerdings unter großem Protest derselbigen, da sie damit
in vielen Rechten beschnitten und quasi enteignet wurden. 1906 erhielten die
Angestellten als erste Arbeitnehmergruppe eine Pensionsversicherung.

Auch in der Pensionsversicherung der Angestellten erfolgte die Organisation
in Selbstverwaltung ebenfalls unter Mitsprache der Arbeitnehmer.

Das 20.Jahrhundert: Anfänge der Sozialpartnerschaft

Aufsichtsbehörde für die Sozialversicherung war bis 1917 das
Innenministerium - ein Zeichen, wie sehr die Sozialgesetzgebung als Maßnahme
der inneren Sicherheit verstanden wurde. Erst 1917 kamen die Kompetenzen zum
neuen Sozialministerium. Mit der Selbstverwaltung der Sozialversicherung,
die von Anfang an bestand, sollte auch "durch Heranziehen ehrenamtlich
tätiger Kräfte die Administration verbilligt und zugleich die Kontrolle
allfälliger Missbräuche ... erleichtert" werden; das "gemeinsame
Zusammenwirken beider sonst so gegensätzlicher Gruppen (Arbeitgeber /
Arbeitnehmer) durch Kooperation auf einem neutralen Gebiet" forciert werden
(hierüber definierte sich also gleichzeitig auch erstmals die
Sozialpartnerschaft).

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 gab es nur in einigen großen Städten
eine öffentliche Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenunterstützung war
damals eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften.

Das Gesetz über die Arbeiter-Krankenversicherung stellte das zweite zentrale
Sozialversicherungsgesetz dar. Diesem Gesetz kam ein besonderer Stellenwert
zu, vor allem wegen der Integration der seit 1868 als autonome
Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter bestehenden und mitgliedermäßig sehr
starken Arbeiterkrankenkassen (1890: ca. 240.000 Mitglieder) in die
gesetzliche Krankenversicherung. Im Zusammenhang damit sollten diese
Organisationen aus dem Einflussbereich der sozialistischen Arbeiterbewegung
losgelöst, diese damit -- parallel zu staatlichen Repressionsmaßnahmen --
weiter geschwächt werden und auf diese Art und Weise die österreichische
Industriearbeiterschaft verstärkt in den Staat und das bestehende
kapitalistische System integriert werden.

Das Gesetz über die Arbeiter-Krankenversicherung sah insgesamt sechs
verschiedene Kassentypen vor: Bezirks-, Betriebs-, Bau- und
Genossenschaftskrankenkassen, Arbeiter- bzw. Vereinskrankenkassen sowie
Bruderladen (Kranken- und Invalidenkassen der Bergarbeiter). Während die
Arbeiterkrankenkassen ausschließlich von ArbeiterInnen verwaltet wurden,
setzten sich die Verwaltungsorgane der übrigen Kassentypen nach dem Schema
zwei Drittel ArbeitnehmerInnenvertretung und ein Drittel
Unternehmervertretung zusammen. In der Praxis waren aber die
Mitbestimmungsmöglichkeiten der Versicherten, mit Ausnahme der Versicherten
der Arbeiterkrankenkassen, nur in eingeschränktem Maße vorhanden. Die
zentralen Verwaltungsgremien der Krankenkassen waren die Generalversammlung
und der Vorstand, wobei die Kassenvorstände durch die Generalversammlungen
in getrennten Wahlgängen der Arbeitnehmer- und Unternehmervertreter gewählt
wurden.

Finanziert wurde die Arbeiter-Unfall- und Krankenversicherung durch Beiträge
von Unternehmern und Versicherten, ein Staatszuschuss war nicht vorgesehen
(90 Prozent Unternehmer- und 10 Prozent Versichertenbeiträge). Bei den
Krankenkassen, mit Ausnahme der großteils von den Versicherten finanzierten
Arbeiterkrankenkassen, mussten die Unternehmer und die Versicherten für je
die Hälfte der Beiträge aufkommen.

Nach einer Phase der sozialpolitischen Stagnation bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs kam es zu Beginn der Ersten Republik zu einem verstärkten Ausbau
der Sozialversicherung.

So wurde 1919 das Krankenkassenkonzentrationsgesetz beschlossen, das einen
ersten Schritt zur Vereinheitlichung des österreichischen
Krankenkassenwesens mit sich brachte, die mit dem
Krankenkassenorganisationsgesetz von 1926 weiter forciert wurde.

1920 ersetzte eine Arbeitslosen-Pflichtversicherung die bestehenden
Arbeitslosenunterstützungseinrichtungen.

1920 wurde die Krankenversicherung der Staatsbediensteten eingeführt und im
selben Jahr der Regierungsentwurf betreffend ein Bundesgesetz über die
Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung der Arbeiter
ausgearbeitet, der aber wegen der Auflösung der
sozialdemokratisch-christlichsozialen Regierung im November 1920 nicht mehr
umgesetzt wurde. Sie blieb aber auf dem Papier, weil man für ihre
Verwirklichung einen "ausgeglichenen Staatshaushalt" zur Bedingung gemacht
hatte.

Bei der 1920 eingeführten Arbeitslosen-Pflichtversicherung zahlten
Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils gleich viel ein. Die Kosten wurden je
zu einem Drittel von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Staat aufgebracht. In
den Verwaltungsausschüssen der "Industriellen Bezirkskommissionen", wie die
Arbeitsämter damals hießen, waren Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter
50:50 vertreten.

Die autonome Selbstverwaltung blieb im demokratischen Österreich
unangetastet. Im Gegenteil -- durch die Reform der Sozialversicherung 1927
hatten die Arbeitnehmervertreter vor allem in den neuen Gebietskrankenkassen
entscheidenden Einfluss.

Die Gewerkschaften spielten bei den Wahlen in die Selbstverwaltung eine
ausschlaggebende Rolle.

1921 wurden die HausgehilfInnen, die bei wechselnden oder mehreren
Arbeitgebern Beschäftigten und die Land- und ForstarbeiterInnen in den Kreis
der Versicherten miteinbezogen (Ausdehnungsgesetz). Durch entsprechende
gesetzliche Maßnahmen wurde eine Änderung des Kräfteverhältnisses innerhalb
der Verwaltungsgremien der Sozialversicherung zugunsten der
ArbeitnehmerInnen umgesetzt.

1926 wurde das Angestelltenversicherungsgesetz, das
Landarbeiterversicherungsgesetz sowie das Krankenkassenorganisationsgesetz
beschlossen.

1927 wurde endlich eine Pensionsversicherung für Arbeiter beschlossen, die
es in Deutschland längst gab. (Angestelltenversicherungsgesetz 1926 /
Arbeiterversicherungsgesetz 1927: vier Fünftel Arbeitnehmervertreter -- ein
Fünftel Unternehmervertreter in Hauptversammlung und Vorstand). Auch für die
Zeit der Ersten Republik lässt sich eine eher niedrige Wahlbeteiligung
feststellen, wobei die Quellenlage auch hier sehr schwierig ist und genaue
Angaben darüber fehlen.

Im Faschismus

Von 1934 bis 1938 war Österreich ein "Ständestaat", in dem es keine freien
Wahlen gab. Parteien und die damals üblichen parteinahen Gewerkschaften
waren verboten.

Nach der Errichtung des austrofaschistischen "Ständestaates" 1933/34 wurde
auch die soziale Selbstverwaltung massiv zurückgedrängt. Gesetzlich
abgesichert wurden diese Maßnahmen durch das 1935 verabschiedete Gewerbliche
Sozialversicherungsgesetz (GSVG). Noch 1934 entfernte man alle
Arbeitnehmervertreter aus den Verwaltungsausschüssen der
Sozialversicherungen, einschließlich der Industriellen Bezirkskommissionen,
wenn ihnen ein Naheverhältnis zur Sozialdemokratie unterstellt werden
konnte. Mit dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz 1935 wurden die
Wahlen zur Selbstverwaltung offiziell abgeschafft. Arbeitnehmervertreter
wurden durch den Sozialminister aufgrund des Vorschlagsrechts des staatlich
eingerichteten "Gewerkschaftsbundes" bestellt. Während die Austrofaschisten
zwar die Verwaltungsgremien der Sozialversicherung politisch majorisierten,
die soziale Selbstverwaltung aber formal bestehen ließen, wurde im Zuge der
Annexion Österreichs durch das "Dritte Reich" 1938 und die Einführung der
deutschen Reichsversicherungsordnung 1939 in Österreich die soziale
Selbstverwaltung vollständig ausgeschaltet.

Ein Gesetz zur Wiederherstellung des "nationalen Berufsbeamtentums" führte
zur vollständigen Beseitigung. An ihre Stelle trat eine Staatsverwaltung,
die nach dem Führerprinzip agierte. Das Gesetz bot auch Handhabe zur
Judenverfolgung in der Sozialversicherung.

Aber auch die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung der
Arbeiter kam erst 1938 mit der Übernahme der "Reichsgesetzgebung". Eine
Pensionsversicherung der ArbeiterInnen wurde erst -- in einem
rassistisch-antisemitischen Kontext -- nach der Annexion Österreichs durch
das "Dritte Reich" eingeführt (Reichsversicherungsordnung 1939).

Indirekte Selbstverwaltung nach '45

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf die Wiedereinführung der
direkten Selbstverwaltung verzichtet und diese durch die "abgeleitete", also
indirekte Selbstverwaltung ersetzt (Bestellung der
VersicherungsvertreterInnen durch Interessenverbände der ArbeitnehmerInnen
und UnternehmerInnen). Dafür waren finanzielle Gründe, vermutlich aber auch
politische Gründe maßgeblich (repräsentative statt direkte Demokratie,
"Sozialpartnerschaft"). Ein Faktor für die Änderung des
Selbstverwaltungssystems dürfte auch die niedrige Wahlbeteiligung bei den
"Sozialwahlen" in der Ersten Republik gewesen sein. Gesetzlich geregelt
wurde die Sozialversicherung und die soziale Selbstverwaltung durch das
Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz 1947, das 1955 durch das Allgemeine
Sozialversicherungsgesetz abgelöst wurde. Die Träger der Sozialversicherung
wurden 1948 im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
zusammengefasst.

Seit damals werden die Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter von den
gewählten Organen der gesetzlichen Interessenvertretungen entsendet, also
von der Arbeiterkammer und der Wirtschaftskammer.

1949 wurde auch wieder eine Arbeitslosenversicherung mit
Mitbestimmungsrechten der Beitragszahler über ihre Vertreter beschlossen.
Diese Mitbestimmungsrechte konnten auch bei der Teilprivatisierung der
Arbeitsämter 1994 gesichert werden.

Die Geschichte der sozialen Selbstverwaltung zeigt, dass nur ein auf der
Mitbestimmung der Versicherten aufgebautes Sozialversicherungssystem den
gesetzlich vorgesehenen Versicherungsschutz -- so schwach dieser in der
Anfangszeit der Sozialversicherung auch war -- in die Praxis umsetzen kann.
Dies betrifft Bereiche wie die Vertragsgestaltung mit Ärzten, Apothekern und
Spitälern, die Höhe der Versicherungsleistungen (Krankengeld, Unfallrenten
etc.), die Höhe der Versicherungsbeiträge u. a. m. Ein staatlich
organisiertes, steuerfinanziertes Sozialversicherungssystem ohne
Mitbestimmungsmöglichkeiten der Versicherten kann dies nicht in dem Ausmaß
leisten, wie es für das Funktionieren eines fortschrittlichen
Gesundheitswesens notwendig ist.

Resümee

Lassen wir uns diese Enteignung nicht gefallen und vor allem lassen wir uns
von den UnternehmerInnen nicht entmachten - unser Geld verwalten wir selbst
und die Kontrolle über unsere Organisationen obliegt uns selbst und nicht
den Ausbeutern, die auch hier noch einen Profit aus unserem Leid ziehen
wollen.

Erobern wir die Arbeitslose als Versicherungsleistung unter unsere Kontrolle
wieder zurück und verteidigen wir unser Recht auf Krankenstand. Der
Kapitalismus ist grausam, darum gehört er abgeschafft!
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Quellen:

Robert Grandl, Die Geschichte der Selbstverwaltung von den
Arbeiterkrankenkassen des 19. Jahrhunderts bis zum Hauptverband der
österreichischen Sozialversicherungsträger; 2004.
http://www.arbeit-wirtschaft.at/servlet/ContentServer?pagename=X03/Page/Index&n=X03_999_Suche.a&cid=1197995197505

Mag. Robert Grandl, Projektmitarbeiter Institut für Gewerkschafts- und
AK-Geschichte, AK Wien: Die Geschichte der Selbstverwaltung und
Arbeitnehmermitbestimmung in der österreichischen Sozialversicherung, Teil
1: Von den Anfängen bis 1918, 308 Seiten, 1. Auflage, 31.10.2004, Reihe:
Schriftenreihe des Instituts zur Erforschung der Geschichte der
Gewerkschaften und Arbeierkammern 19, ÖGB-Verlag, ISBN 978-3-7035-1027-4

Lehrbuch für die Grundschulung, erster Teil; hg. von der KPÖ, Stern Verlag,
Wien, 1952

Sabine Lichtenberger (Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte), Wie
die Sozialversicherung entstand: Selbstverwaltung und Sozialversicherung;
2003;
http://www.arbeit-wirtschaft.at/servlet/ContentServer?pagename=X03/Page/Index&n=X03_999_Suche.a&cid=1190322135699

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Siehe auch: "Erratum und Nachtrag: Geschichte der Sozialversicherung in akin 21/2018"


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