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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 13. Juni 2018; 09:55
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Balkan/Tuerkei/Wirtschaft:

> Ankaras langer Arm

Eindrücke des Einflusses der AKP auf dem Balkan von Einer Gruppe
*Internationalistische Genoss*innen aus dem Balkan* (Lower Class Magazine)
*

Kaum bekannt ist der Vorfall vom 9. Februar 2018 in Pristina im Kosovo.
Schwer bewaffnete Bullen stürmten das Soziale Zentrum Sabota, wo gerade
eine »Kurdische Musiknacht« stattfand. Während der Razzia befragten und
durchsuchten die Einsatzkräfte die Mitglieder des Kollektivs und
schüchterten Besucher*innen ein. Sabota veranstaltete diesen Abend als Teil
einer Woche der Solidarität mit dem antifaschistischen und kurdischen Kampf.

Dieser Artikel soll die Einflüsse türkisch-nationalistischer Politik der AKP
in den verschiedenen exjugoslawischen Staaten beleuchten. Die Autor*innen
leben im Balkan und haben das Gefühl, dass die politische Atmosphäre sich
verändert hat - vor allem weil sich das System in der Türkei geändert hat.
Wir können keine vollständige Analyse oder Erklärung liefern, vielmehr
wollen wir einen kleinen Einblick in die Zusammenarbeit der staatlichen
Autoritäten und die Ereignisse der vergangenen Zeit geben, denn die
Repression auf anti-autoritäre und linke Netzwerke nimmt zu.

Als Ergebnis imperialistischer Politik und Migration in der Vergangenheit
leben heute zahlreiche Menschen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens,
die Türkisch sprechen und/oder die Vorfahren aus der Türkei haben. Außerdem
gibt es Menschen, die aus den verschiedenen Balkanstaaten kommen und heute
in der Türkei leben.

Bosnien und Herzegowina (BiH)

Die Türkei hat traditionell einen starken Einfluss in Bosnien-Herzegowina,
da sie sich hier auf ihr osmanisches Erbe beruft. Sarajevo ist dafür ein
gutes Beispiel. Viele Straßen tragen Namen von Persönlichkeiten aus dem
Osmanischen Reich und seit kurzen ist die Stadt auch für türkische
Nationalisten ein attraktives Reiseziel. Hier gibt es türkische
Privatuniversitäten, in denen ausschließlich türkisch gesprochen und
geschrieben wird. Das wurde beispielsweise von Andrej Nikolaidis
thematisiert, als es um die Rücknahme der Ehrenbürgerschaft für Orhan Pamuk
in Sarajevo ging. Erdogans Hand reicht allerdings nicht nur bis Bosnien,
sondern weit darüber hinaus.

Türkisches Kapital wird überall in der BiH investiert, wirklich relevant ist
der türkische Einfluss allerdings hauptsächlich im bosniakisch geprägten
Landesteil der Föderation, weniger im serbischen Teil, der Republika Srpska.
Viele Menschen hoffen, dass die türkischen Investitionen dabei helfen, die
bosnische Wirtschaft aus deren desaströsen Lage zu retten, in die sie der
Krieg in den 90er Jahren, die anschließende neoliberaler Politik
verschiedener Staaten und die lokaler Mafia getrieben hat. Sie hoffen, dass
die Investitionen Jobs und Geld bringen, zumindest wird das den Menschen so
erzählt.

Auch mit politischen Gruppen ist die Türkei in Bosnien präsent. So hatten
sich türkische Nationalisten nach der Invasion in Afrin in Sarajevo
getroffen. Seitdem organisierten sie sich und begannen, die faschistischen
Ideen der AKP-Regierung zu verbreiten. Im Februar gründete sich die »Union
of European Balkan Democrats« (UEBD), eine AKP-nahe Lobbyorganisation.
Wahrscheinlich waren sie auch die Organisatoren der Wahlkampfkundgebung von
Erdogan am 20. Mai in Sarajevo.

Bosnien-Herzegowina war bereits in den 90ern Jahren ein wichtiges Spielfeld
für türkisch-nationalistische Propaganda. Die alte imperialistische
Attitüden scheinen in der »neuen Türkei« unter der AKP wieder aufzublühen.
Wenn man durch Sarajevo läuft, findet man zahlreiche türkische Produkte,
immer mehr Bars und Restaurants geben sich türkische Namen und auch bei
Fußballspielen der türkischen Nationalmannschaft tauchen immer mehr
Türkei-Fahnen auf.

Kosovo

Die politischen und ökonomischen Eliten Kosovos haben enge Verbindungen zur
AKP. Alle großen Infrastrukturunternehmen wie Flughäfen, Baufirmen und
Elektrizitätswerke gehören türkischem Kapital. In manchen Fällen handelt es
sich sogar um eine Tochtergesellschaft einer Firma, an denen Erdogans Sohn
Anteile besitzt. Viel Geld wurde von der türkischen Entwicklungsagentur TIKA
investiert, um osmanische Moscheen zu renovieren oder neue Moscheen zu
bauen. Türkisches Kapital fließt zudem in Entwicklungsprojekte in den
Bereichen der Landwirtschaft und Gesundheit, mit dem Ziel die Soft Power des
türkischen Staates zu vergrößern. Außerdem gibt es Indizien, dass die
türkische Regierung TIKA zur Geldwäsche nutzt.(2)

Viele Menschen im Kosovo fühlen sich kulturell der Türkei nahe, deshalb ist
auch das Bild, das sie von der Türkei und Erdogan haben meist positiv -
insbesondere in konservativen und religiösen Kreisen sowie der türkischen
Gemeinde. Gleichzeitige haben kosovarische Nationalisten normalerweise eine
recht negative Einstellung gegenüber allem Türkischen.

Es gibt zudem eine kleine türkische Partei, die Kosova Demokratik Turk
Partisi, die Erdogan nahe steht und Mitglied in der kosovarischen
Regierungskoalition ist. Zur Zeit kontrollieren sie das Ministerium für
Öffentliche Verwaltung, das für die Registrierung und Legitimierung aller
NGOs, Gewerkschaften und anderer Organisationen verantwortlich ist.

Wie weit der Einfluss Ankaras reicht, wurde im März 2018 deutlich. Sechs
türkische Staatsbürger, die im Kosovo als Lehrer arbeiteten und angebliche
Gülen-Anhänger sind, wurden durch den türkischen Geheimdienst MIT verhaftet
und in einem Spezialflugzeug in die Türkei geflogen.(3) Diese Deportation
geschah, ohne das die formalen Regeln eingehalten wurden, und stellt somit
einen enormen Verstoß gegen geltendes kosovarisches Recht dar.(4)

Über den Vorfall im Sozialen Zentrum Sabota kann man sagen, dass es von den
AKP-Medien aufgebläht wurde. Während der Invasion Afrins durch die Türkei
und ihre Banden war es für die AKP von entscheidender Bedeutung, jegliche
Kritik am türkischen Staat als Aggressor zum Schweigen zu bringen. Sowohl in
der Türkei, als auch außerhalb.(5) Es ist noch nicht klar, wie diese
Repressionsmaschine ein kleines Soziales Zentrum als seinen Feind ausmachen
konnte, zumal dort lediglich ein Musikfestival organisiert wurde. Aber es
ist beängstigend, dass die kosovarische Polizei als Diener für türkische
Nationalisten herhält. Es war im Interesse der Nationalisten, die Stimme der
Solidarität so schnell wie nur möglich zum Schweigen zu bringen.(6)

Serbien

Der traditionell-nationalistische Diskurs in Serbien ist antiosmanisch und
richtet sich auch gegen die Türkei als NATO-Mitglied, das die Abspaltung des
Kosovo unterstützt. Diese Stimmen verstummen jedoch nach und nach. Sie
werden ersetzt durch die Idee der Türkei als »großem Bruder«, der
kapitalistischen Wohlstand bringen soll. Die Kooperation dieser beiden
Staaten wird von Erdogan als humanitäre Hilfe für die Region verschleiert.

Besonders in der Region Sandzak, aufgeteilt auf Serbien und Montenegro,
wurde die Türkei zu einem wichtigen, ökonomischen Akteur.(7) Nach
dem »Putschversuch« 2016 in der Türkei und Erdogans Aufruf zur »Verteidigung
der Nation« tauchten in Novi Pazar, der Hauptstadt der Region, überall
türkischen Fahnen auf.

Die Gegend erwartet eine blühende Wirtschaft dank der AKP-Geschäftspolitk.
Als Ergebnis mehrerer Treffen zwischen Politikern wurde entschlossen, den
türkischen Markt für serbische Produkte zu öffnen. Erdogan hat in diesem
Zusammenhang erwähnt, dass Serbien bereits ab 2019 von der Türkei mit Erdgas
versorgt werden könnte. Außerdem will die türkische Firma TAIP in die Stadt
Kraljevo investieren und dort angeblich mehr als 2.500 Arbeitsplätze
schaffen. Bei dem letzten Besuch in der Türkei am 6. Mai 2018 brachte der
serbische Präsident Aleksandar Vucic seine Erwartung zum Ausdruck, dass
bereits Ende 2018 der Handel zwischen den beiden Ländern auf 1,3 Milliarden
Euro anwachsen wird.(8)

Die wichtigste Zusammenarbeit findet jedoch im Bereich der Infrastruktur
statt. Beispielsweise soll das türkische Unternehmen Tasjapi die Autobahn
zwischen Belgrad und Sarajevo bauen - ein Projekt mit enormer symbolischer
Bedeutung. Mit diesem Projekt führt Erdogan die Balkanstrategie der
vergangenen 15 Jahre fort und gewinnt die Herzen der Menschen.

Der serbische Präsident Vucic und die Elite seiner rechts-liberalen
Serbische Fortschrittspartei (SNS) profitieren enorm von diesen
Vereinbarungen. Es ist wenig überraschend, dass Vucic sofort nach
dem »Putschversuch« Erdogan seinen Rückhalt aussprach. Er erklärte damals,
dass genau wie Erdogan, der die Integrität des türkischen Staatsterritoriums
schützt, auch er niemandem erlauben würde, die serbische Unabhängigkeit zu
hinterfragen oder gar zu gefährden. Eine offensichtliche Anspielung auf die
Ablehnung der Eigenstaatlichkeit des Kosovo.

Die Außenminister beider Länder einigten sich bei einem Treffen im Oktober
2017 auf die Erneuerung des osmanischen Erbes, insbesondere für Denkmäler in
Belgrad, Golubovac und Novi Pazar.(9) Außerdem wurden Abkommen im Bereich
der Veterinärmedizin, des Gashandels und der »wissenschaftlichen Kooperation
zwischen der Kriminalpolizeiakademie Serbiens und der Nationalen
Polizeiakademie der Türkei« unterzeichnet.(10)

Wie in vielen anderen Ländern ist auch in Serbien eine zunehmende
Überwachung der kurdischen Gemeinde und mit diesen solidarischer Menschen zu
beobachten. Es ist offenkundig, dass die serbischen Autoritäten an der Seite
des türkischen Staats stehen und gemeinsam die Menschen verfolgen, die
diesen kritisieren. Am 23. Dezember 2017 sorgte die Abschiebung eines Kurden
mit türkischer Staatsbürgerschaft, für den die Türkei einen Haftbefehl
hatte, für einen Skandal in Serbien. Das Justizministerium hatte der
Abschiebung den Weg geebnet, obwohl eine endgültige Entscheidung der
Gerichte noch ausstand. Im Voraus hatte das Komitee gegen Folter der
Vereinten Nationen einen Brief an die serbischen Behörden geschickt, in
diese aufgefordert wurden, von der Abschiebung abzusehen, um zu verhindern,
dass die Person erneut in der Türkei gefoltert wird. Dessen Bruder sowie
diverse Menschenrechtsorganisationen nennen die Abschiebung eine »politische
Entscheidung« und protestierten dagegen.

Es gibt noch ein anderes Feld, auf dem die Politik der AKP enormen Einfluss
hat: Erdogan verkauft sich selbst als Vermittler in den politisch
geschaffenen Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalismen, die hier
als »ethnische Konflikte« auftreten. Eines der jüngsten Beispiele dafür ist
die Einladung Erdogans für ein Treffen zwischen Bakir Izetbegoviæ, dem
bosniakischen Mitglied des Präsidiums von Bosnien und Herzegovina, und dem
serbischen Präsidenten Vucic.

Ideologisch scheint es, als würde die AKP mit ihrer Außenpolitik Muslime in
der gesamten Region ansprechen wollen. Gleichzeit erhält Ankara die
ökonomische Partnerschaft mit allen Staaten der Region aufrecht. Eine Rede,
die Erdogan in Sandzak im Oktober 2017 hielt, machte die Intention
eine »Bruderschaft« zu schaffen deutlich. In Bezug auf seine Interpretation
von Religion als verbindendem Faktor sagte er: »Wir werden eins sein, wir
werden stark sein, wir werden hart sein, wir werden Brüder sein! Wenn Gott
es uns erlaubt werden wir unsere Freundschaft aufrechterhalten.«(11)
(gek.)


2
https://www.b92.net/eng/news/politics.php?yyyy=2015&mm=08&dd=17&nav_id=95116
3
http://www.politika.rs/sr/clanak/401011/Pristina-deportovala-sestoricu-Turaka-pristalice-Gulena#!
4
https://www.rferl.org/a/kosovo-turkey-turks-linked-gulen-detained/29132965.html
5 there is numerous other examples, like the attack of nationalists on the
office of the newspaper "Afrika" in Cyprus, that had titled an issue "Afrin-
another invasion".
https://www.theguardian.com/world/2018/may/08/turkish-cypriot-newspaper-afrika-editor-sener-levent-enemy-recep-tayyip-erdogan
6
https://web.facebook.com/125821644749331/photos/pb.125821644749331.-2207520000.1525640064./148129672518528/?type=3&theater
7 Sandzak is located on the territories of Serbian and Montenegrin state and
is - as other areas in the Balkans- a population-wise very diverse region,
with a big Muslim community.
8
http://www.telegraf.rs/vesti/politika/2956710-erdogan-je-najzasluzniji-za-rast-trgovinske-razmene-erdogan-i-vucic-danas-u-ankari
9
http://www.telegraf.rs/vesti/politika/2905975-brnabic-sa-kahramanom-odnosi-srbije-i-turske-u-usponu
10
http://www.telegraf.rs/vesti/politika/2956710-erdogan-je-najzasluzniji-za-rast-trgovinske-razmene-erdogan-i-vucic-danas-u-ankari
11
http://balkans.aljazeera.net/vijesti/erdogan-u-sandzaku-vasa-bol-je-nasa-bol

*

Volltext:
http://lowerclassmag.com/2018/06/ankaras-langer-arm-auf-dem-balkan/
Anm akin: Wieder einmal eine Entschuldigung für das Fehlen aller
diakritischen Zeichen bei den Personen- und Ortsnamen. Unsere Uraltsoftware
derpackt die einfach nicht.



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