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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 24. Mai 2018; 01:47
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Lateinamerika/Demokratie:

> Zur Venezuela-Wahl

Die beiden hier reproduzierten Texte sind bereits veraltet -- es sind
Vorberichte zur Wahl in Venezuela am letzten Sonntag, jener Wahl, in der der
bisherige Präsident Maduro mit offiziell zwei Dritteln der Stimmen bestätigt
wurde -- allerdings bei katastrophal niedriger Wahlbeteiligung.

Der erste Text ist ein Bericht von *Harald Neuber* für die deutsche
Lateinamerika-Plattform amerika21. Der Artikel ist höchst einseitig.
Allerdings nicht mehr als die Berichterstattung der großen Agenturen und
damit unserer Massenmedien über diese Wahl. Nur halt anders einseitig. Daher
sei er hier als Gegenposition nachgedruckt.

Der zweite Text ist ein Ausschnitt aus einem kritischeren Bericht von *Toni
Keppeler* in der WoZ. Er beleuchtet das kreative Demokratieverständnis der
Bolivarischen Revolution, aber auch die Hintergründe der gewollten Krise im
Land.

***

In Venezuela wird an diesem Sonntag inmitten einer schweren Wirtschaftskrise
ein Präsident gewählt. Für das Amt bewirbt sich erneut der amtierende
Staatschef Nicolás Maduro, unmittelbarer Nachfolger des 2013 verstorbenen
Hugo Chávez. Neben Maduro haben sich drei weitere Kandidaten aufstellen
lassen. Von ihnen hat der ehemalige Chavist Henri Falcón nach aktuellen
Umfragen die besten Chancen. Falcón führt die Teile der Opposition an, die
sich gegen einen Wahlboykott entschieden haben. Er distanziert sich damit
deutlich von radikalen Teilen der Opposition um die rechtspopulistischen
Parteien Volkswille (Voluntad Popular, VP) und Zuerst Gerechtigkeit (Primero
Justicia, PJ). In den USA und Europa wird Falcón wegen seines Boykottbruchs
geschnitten. Die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, lehnte ein
Treffen mit ihm ab.

Kurz vor den Wahlen sind indes rund 150 internationale Beobachter auf
Einladung der venezolanischen Wahlbehörde (Consejo Nacional Electoral, CNE)
im Land eingetroffen. Sie werden die Präsidentschaftswahl am Sonntag in
verschiedenen Landesteilen begutachten. Neben dem CNE haben auch andere
Institutionen des Landes sowie Regionalorganisationen Wahlbeobachter
eingeladen. "Insgesamt dürften es rund 350 internationale Vertreter sein,
die diese Abstimmung begleiten", sagte eine Funktionärin des
Außenministeriums. Die Zahl wurde von anderen Quellen bestätigt.

Für Venezuela ist diese Wahlbeobachtung wichtig, um die Legitimität der
Abstimmung zu gewährleisten. Eine Allianz aus gut einem Dutzend
Mitte-Rechts-Regierungen Lateinamerikas, den USA, Kanada und der EU haben
schon vor der Abstimmung erklärt, das Ergebnis nicht anzuerkennen. "Es geht
ihnen offenbar darum, die Isolation Venezuelas voranzutreiben", so ein
Vertreter des Wahlrates, der auf den hohen Anspruch der venezolanischen
Demokratie verweist: In 19 Jahren ist in Venezuela 23 Mal abgestimmt worden.

Eines der bekanntesten Urteile stammt von dem ehemaligen US-Präsidenten
James Carter, der in Bezug auf die Arbeit seiner NGO, dem Carter Center,
sagte: "Von den 92 Wahlen, die wir begleitet haben, würde ich sagen, dass es
sich bei dem Wahlprozess in Venezuela um den besten der Welt handelt."

Im Gespräch mit internationalen Wahlbeobachtern haben sich Vertreter des
Obersten Gerichtshofes (TSJ) gegen die Kritik am Justiz- und Wahlsystem des
südamerikanischen Landes gewehrt. "Eine unserer vorrangigen Aufgaben ist die
Wahrung des politischen Pluralismus im Land", sagte Juan José Mendoza Jover,
Richter der Verfassungskammer. Der Oberste Gerichtshof habe immer als Garant
der Demokratie im Land gedient. Maikel José Moreno Pérez von der
Strafrechtskammer führte diese Position weiter aus: Zu Beginn des
politischen Prozesses, der nach 1999 als Bolivarische Revolution bekannt
wurde, sei ein erheblicher Teil der Bevölkerung mit Ausweisen ausgestattet
worden. "Das war überhaupt erst die Grundlage dafür, dass sie an Wahlen
teilnehmen können", so Mendoza.

Im Gespräch mit amerika21 wies der Richter Vorwürfe zurück, die Opposition
sei von den Wahlen ausgeschlossen worden. "Es wurde entschieden, das Bündnis
MUD zu den Wahlen nicht zuzulassen, weil sich einzelne Mitgliedsparteien
dieser Allianz schon eingeschrieben hatten und eine Doppelmitgliedschaft
nach dem Parteiengesetz unzulässig ist", so Mendoza. Zudem hätten sich
einige der Oppositionsparteien nach dem Boykott der Gouverneurswahlen Ende
vergangenen Jahres nach bestehenden Gesetzen neu einschreiben müssen. Für
die Neueinschreibung waren die Unterschriften von 0,5 Prozent der
eingetragenen Wähler notwendig. Während sich die rechtspopulistische VP
umgehend gegen eine Teilnahme aussprach, sammelten die sozialdemokratische
Demokratische Aktion (Acción Democrática, AD) und die Partei PJ zunächst
Unterstützerunterschriften. Nachdem der Prozess offenbar aber schleppend
anlief, entschieden sich auch diese beiden Parteien in der zweiten
Februarhälfte, die Wahlen am Sonntag zu boykottieren. Andere
Oppositionsparteien nehmen aber teil, so wird Falcón unter anderem von dem
christdemokratischen Wahlbündnis Copei unterstützt.

Deutliche Kritik an einer ihrer Meinung nach negativen und unsauberen
Berichterstattung über die Wahlen in Venezuela äußerten einige
internationale Beobachter. "Ich komme aus einem Land, in dem der amtierende
Präsident die Wahlen mit einem Abstand von fast drei Millionen Stimmen
verloren hat, sich aber trotzdem durchsetzte", sagte der US-Bürgermeister
Anthony Witherspoon aus der Stadt Magnolia im US-Bundesstaat Mississippi. Es
sei daher beschämend, dass just die Regierung von US-Präsident Donald Trump
an der Spitze einer internationalen Kampagne gegen Venezuela stehe.

Quelle:
https://amerika21.de/2018/05/201535/venezuela-wahlen-2018-praesident-opposit

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Wer in diesen Tagen mit linken lateinamerikanischen Intellektuellen über
Venezuela spricht, hört immer wieder denselben Vergleich: Die Situation
erinnere fatal an die Monate vor dem Militärputsch vom 11. September 1973 in
Chile. Tatsächlich gibt es viele Ähnlichkeiten: ein karges Angebot an
Lebensmitteln und Medikamenten, ein florierender Schwarzmarkt, eine
galoppierende Inflation (in Venezuela fast 9000 Prozent), regelmässig bricht
die Stromversorgung zusammen.

Gegen Venezuela ist, wie damals gegen Chile, ein Wirtschaftskrieg im Gang.
Die Strategie: Je grösser das Chaos, desto grösser ist die
Wahrscheinlichkeit von Unruhen. Die Sanktionen der USA, der Europäischen
Union und auch der Schweiz sehen auf den ersten Blick zwar harmlos aus:
Konten wurden eingefroren, es gibt Einreiseverbote. Tatsächlich aber
schnüren sie der Regierung von Präsident Nicolás Maduro fiskalisch die Luft
ab. Vor allem die USA verhindern, dass der Staat oder die staatliche
Erdölgesellschaft PDVSA dringend benötigte neue Kredite aufnehmen können:
Die meisten Schuldtitel werden in New York gehandelt. Den dortigen
Finanzinstitutionen aber sind Geschäfte mit Venezuela untersagt.

Im Land selbst ist, wie 1972/73 in Chile, die Grenze zwischen krimineller
Sabotage der Wirtschaft und blosser Überlebensstrategie längst nicht mehr
auszumachen. Werden Waren zurückgehalten und auf den Schwarzmarkt geworfen,
um vom Inflationsgewinn die Familie zu ernähren? Wird dieses Geschäft nur
aus Gewinnsucht betrieben? Oder gar, um die Wirtschaft zu sabotieren? Wie
viele RegierungsfunktionärInnen sind an diesen Geschäften beteiligt? Die
Übergänge sind fliessend.

Auch aussenpolitisch wird es für Maduro eng. In Lateinamerika halten ihm nur
noch die Regierungen von Bolivien, Kuba, Nicaragua und El Salvador die
Stange. Die anderen forderte US-Vizepräsident Mike Pence offen auf,
Venezuela nicht nur in Worten, sondern auch ökonomisch zu isolieren. Der
ehemalige US-Aussenminister Rex Tillerson rief die Armee Venezuelas kurz vor
seiner Entlassung durch Präsident Donald Trump am 31. März unverblümt dazu
auf, gegen Maduro zu putschen. So offen wurde das nicht einmal 1973 in Chile
gehandhabt.

Und doch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Der marxistische Präsident
Salvador Allende hatte den ChilenInnen am Tag vor dem Putsch eine Abstimmung
über seinen Verbleib im Amt angeboten. Er wollte den Konflikt mit
demokratischen Mitteln lösen. Der bolivarische Maduro dagegen hat ein
solches sogenanntes Rückrufvotum gegen sich selbst mit vielen Tricks
unterbunden. Stattdessen hat er Mitte 2017 eine verfassunggebende
Versammlung einberufen, von der man bislang aber nicht gehört hätte, dass
sie eine neue Verfassung ausarbeiten würde. Maduro brauchte sie, um das seit
Januar 2017 von der Opposition dominierte Parlament auszuhebeln: Eine
verfassunggebene Versammlung steht über allen anderen staatlichen
Institutionen und kann deren Beschlüsse annullieren.

Jetzt hat Maduro in aller Eile eine Präsidentschaftswahl für den 20. Mai
ausgerufen. Er nutzt die Gunst der Stunde: Die Opposition ist zerstritten,
ihre prominentesten Köpfe sind im Gefängnis oder stehen unter Hausarrest,
oder sie sind im Exil. Ein Wahlboykott des grössten Teils der Opposition war
abzusehen, alles andere als eine Wiederwahl Maduros wäre unter diesen
Umständen eine Sensation.

Dass demokratische Institutionen meist nicht mehr als Fassaden zur
Legitimierung der Macht einer kleinen Gruppe sind, ist man von rechten
Regierungen in Lateinamerika gewohnt. Von Linken hätte man anderes erwartet.
Unter Maduro aber «schlittert Venezuela immer schneller in den
Autoritarismus», sagt Rafael Rodríguez, unter Hugo Chávez Energieminister,
unter Maduro erst Präsident der PDVSA und dann bis Ende 2017 Botschafter bei
den Vereinten Nationen.

Autoritäre Tendenzen zeigten sich schon unter Chávez und wurden von Maduro
noch verstärkt. Über 120 Tote gab es im vergangenen Jahr, als sich der
Präsident von Massendemonstrationen der Opposition herausgefordert sah. Die
meisten wurden von Sicherheitskräften und regierungsnahen Rollkommandos
getötet.
(aus Woz 19/2018)

Volltext:
https://www.woz.ch/1819/linke-praesidenten-in-lateinamerika/notfalls-eben-mit-gewalt



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