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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. November 2016; 18:13
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> Kommentierte Presseschau

> Political Correctness und wie sie der Rechten nützt

Rosemarie Schwaiger gehört nicht gerade zu den Angehörigen der schreibenden
Zunft, wegen denen der Zeitungsleser das 'profil' kaufen wollte. Diesmal
allerdings hat sie nicht so ganz unrecht wie sonst: "Political Correctness
(PC) ist kein neues Phänomen. Breit darüber diskutiert wird seit mindestens
30 Jahren. In jüngster Zeit häufen sich allerdings die Zweifel, dass die
Welt mithilfe von PC zu retten sein wird. Es gibt im Gegenteil ein paar
handfeste Indizien dafür, dass 'Neusprech' und 'Gutdenk', wie George Orwell
ähnliche Phänomene in seinem Roman '1984' nannte, hauptsächlich den Falschen
nützen. Der Aufstieg rechter und sehr rechter Parteien in vielen Ländern
könnte auch damit zu tun haben, dass die Wähler den Rechtspopulisten mehr
glauben, weil sie als Einzige noch Klartext reden. Marine Le Pen,
Heinz-Christian Strache und die Belegschaft der deutschen AfD profitieren
davon genauso wie Donald Trump." Ja, okay, der Vergleich mit Orwells
"Newspeak" (was im Englischen noch ein böser Schlenker Richtung "News" ist)
paßt nicht ganz. Das Konzept von Newspeak war eine Vereinfachung und
Verplattung der Sprache, um die Phantasie und Differenzierung zu zerstören.
Die Sprache der PC-Fans ist eher eine Verkomplizierung. Aber im Prinzip
trifft Schwaiger den Punkt: Eine Sprache, bei der man wie auf rohen Eiern
daherkommt, wirkt nunmal so: herumgeeiert. In PC-Jargon ist es nahezu
unmöglich Tacheles zu reden, weil die Meinung, die jemand zu transportieren
versucht, hinter lauter Rücksichtnahme zu verschwinden droht.

Leider kann es Schwaiger dann nicht lassen, über Flüchtlingshelfer oder den
Presserat herzuziehen, was den Essay ein wenig entwertet. Es ist einfach
ärgerlich, daß die Kritik an PC immer von Leuten kommt, die eher auf der
rechten Seite des Meinungsspektrums zu finden ist.

Seis drum. Im selben profil kommt der Geschichtsprofessor Timothy Garton Ash
(auch nicht unbedingt ein Linker) zum Thema zu Wort. Dieser gibt
offensichtlich derzeit gerne deutschsprachigen Magazinen Interviews -- so
auch dem "Spiegel". Auf die Frage des deutschen Wochenblattes: "Ist ein
Vorfall rassistisch, wenn der Adressat einer Bemerkung diese als rassistisch
empfindet?" antwortet Garton Ash: "Das ist ein Irrglaube und sogar eine
Krankheit unserer Zeit. Auf der einen Seite gibt es tatsächlich eine
Explosion der Hassrede im weitesten Sinn; das meiste können wir, wie gesagt,
getrost ignorieren. Auf der anderen besteht die pathologische Bereitschaft,
sich sofort verletzt zu fühlen, schon bei der allerkleinsten Kränkung. Das
ist eine Infantilisierung des öffentlichen Diskurses, die ich leider gerade
bei meinen Studenten in Oxford und Stanford beobachten kann. Die
Universitäten sollten Tempel der Redefreiheit sein, in denen alles, auch die
anstößigste Meinung, auf zivilisierte Weise diskutiert werden kann".

Da hat Ash wohl recht. Und gefunden hat der Zeitungsleser dieses Zitat in
einem zustimmenden Tweet von Christoph Chorherr. Daß ich einmal mit dem
spiritus rector des bürgerlichen Flügels der Wiener Grünen einer Meinung
bin -- noch dazu in einer damit wohl transportierten Kritik am linken Flügel
der Partei -- hätte ich mir auch nicht träumen lassen.

http://www.profil.at/oesterreich/moralverkehr-7653855

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> Kapitalismus ist Freiheit

Extremismustheorie wieder mal. Links = Rechts. Die
Bourgeoisie-Schreiberlinge, die sich fälschlicherweise nicht als rechts
verstehen, treibts in letzter Zeit wieder sehr um. Diesmal als Beispiel
Ulrich Schäfer, der einstens einen Preis für Wirtschaftspublizistik erhalten
hat, der nach Ludwig Erhard benannt ist -- naja, was will man da erwarten.
Aber dessen Argumentation -- noch dazu in der "Süddeutschen", deren Essays
ja üblicherweise nicht so hanebüchen sind -- ist schon einen Zacken schärfer
als das Gewohnte: "Es ist eine seltsame informelle Koalition, die da mal
lauter, mal leiser das Prinzip der Freiheit in Frage stellt -- und damit
eines der wichtigsten Prinzipien der westlichen Gesellschaften. Liberté war
neben der Gleichheit und Brüderlichkeit eines der drei Elemente der
Französischen Revolution, Liberty ist die entscheidende Leitlinie in der
amerikanischen Verfassung, und auch Europa ist, als Antwort auf die
Verheerungen des Zweiten Weltkriegs, nicht bloß ein großes Friedensprojekt,
sondern auch ein Freiheitsprojekt. [...] Der wachsende Geist der Unfreiheit
stellt vieles davon in Frage. In den USA reicht die informelle Koalition der
Skeptiker von Trump bis hin zu Bernie Sanders, dem linken Demokraten, der
Hillary Clinton im Nacken saß. Noch vielfältiger ist diese Koalition in
Europa. Zu ihr gehören -- um am rechten Ende anzufangen -- Populisten und
Nationalisten: vom Front National in Frankreich bis zur Alternative für
Deutschland, von den Anhängern eines Viktor Orbán in Ungarn bis hin zur
britischen UKIP-Partei; zu ihr zählen aber auch -- am linken Ende des
Spektrums -- jene Globalisierungsgegner, die hinter dem Freihandel bloß eine
Verschwörung des Großkapitals wittern und Verträge wie TTIP und Ceta mit
teils pauschalen Argumenten schlicht verhindern wollen, ohne anzuerkennen,
wie sehr sich Europas Politik um Verbesserungen bemüht. [...] Bei den Linken
überwiegt dabei das Bestreben, den Markt einzuschränken, also den Fluss der
Waren und des Kapitals; den Rechten geht es eher darum, die Flüchtlinge
abzuwehren und die heimischen Konzerne zu beschützen. Aus unterschiedlichen
Ecken kommend, befördern Linke wie Rechte wechselseitig den Geist der
Unfreiheit. Und so könnte es sein, dass wir vor einer Zeitenwende stehen:
hin zu einer teils geschlossenen Gesellschaft." Und dann natürlich noch der
unvermeidliche Hinweis auf Karl Popper, eh klar, es braucht ja auch eine
Autorität, um diesen Unsinn zu untermauern: "Popper hatte zuvor erlebt, wie
totalitäre Regime -- Nazis, Faschisten, Kommunisten -- die Menschen ihrer
Freiheit beraubt und Völker in den Krieg gestürzt haben. Dem setzte er das
Modell der offenen Gesellschaft entgegen."

Conclusio: Die Freiheit von Menschen auf der Flucht einzuschränken ist das
Gleiche wie dem Kapital Grenzen setzen zu wollen. Kapitalismus ist Freiheit,
alle, die das anders sehen, sind Faschisten. Hätte er gleich so hinschreiben
können. Dann hätten sich die Leser der Süddeutschen wenigstens das
Geschwurbel erspart.

Da lobe ich mir doch NZZ.at. Franz Schellhorn, den Chef der marktradikalen
"Denkfabrik" "Agenda Austria" verzapft fast zeitgleich mit Schäfer
Folgendes: "Mittlerweile ist auch klar, dass es längst nicht mehr 'nur' um
die Handelsabkommen mit den USA und Kanada geht. Vielmehr haben wir es mit
einer großen Scheindebatte zu tun, einem Stellvertreterkrieg. Besiegt werden
soll die Globalisierung, die Marktwirtschaft, der Kapitalismus. 'Mehr
regional, weniger global' heißt das neue Motto, das nichts anderes meint
als: 'Kauf ja nicht bei Ausländern!'"
Was daran besser ist? Nun, den ganzen Artikel gibt es bei NZZ.at nur im Abo
und der Zeitungsleser muß sich nicht genötigt fühlen, das komplette Gesülze
Schellhorns zu lesen.

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/globalisierungsgegner-furcht-vor-der-freiheit-1.3226443

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> Fellner-Blatt gescheiter als Sozialdemokratie

Einen wohltuenden Leitartikel liefert hingegen -- man sollte es nicht
glauben -- "NEWS". Julia Ortner weißt unter dem Titel "Armut? Haben wir hier
nicht." darauf hin, daß das Ansteigen der Zahl der Mindestsicherungsbezieher
nicht ein Grund ist, diese einzuschränken, sondern dies als Alarmsignal zu
werten sei. Denn dann "stimmt in anderen Bereichen der Gesellschaft etwas
gar nicht mehr: steigende Arbeitslosigkeit, prekäre Jobs, zu wenig
Integrationsmaßnahmen für Flüchtlinge, hohe Wohnkosten, schlechte soziale
Aufstiegschancen." Und Ortner weist auf etwas hin, was in der Debatte um die
Mindestsicherung immer wieder untergeht. Bevor Menschen "Anspruch darauf
erheben dürfen, müssen sie alles bis auf ein 'Vermögen' von 4189 Euro
verbrauchen. Man muss erst verarmen, um vor der Armut bewahrt zu werden,
auch interessant."

Den Sozialdemokraten, die gerade alles aufgeben, nur um die 15a-Vereinbarung
und damit wohl auch die Koalition zu retten, sei auch folgender Absatz
Ortners ins Stammbuch geschrieben: "An der Mindestsicherung zeigt sich auch,
dass manche eine andere Gesellschaft wollen. Eine, die klar zwischen
'Leistungsträgern' und 'Leistungsempfängern' trennt. Dass die
Mindestsicherung 2015 gerade 0,8 Prozent aller Sozialausgaben ausgemacht hat
und trotz Anstieg nicht das größte Problem im Staat darstellt -- egal; dass
ohne Mindestsicherung wohl viele Menschen auf den Straßen schlafen würden --
egal; dass man in einer Gesellschaft ohne soziale Absicherung mit
Sicherheitspersonal hinter hohen Mauern leben müsste -- vielleicht doch
nicht ganz egal."

http://www.news.at/a/leitartikel-armut-ortner-7669592

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> Blutiger Antikommunismus

"Die Athener Polizei feuert in die Menge vom Dach des Parlaments am
Syntagma-Platz. Die jungen Männer und Frauen liegen Blutlacken, jedermann
läuft in totalem Schock die Stiegen runter, totale Panik". So beginnt die
Erzählung eines alten Griechen in einem Artikel im "Guardian". Nein, es ist
nicht die Zeit von Metaxas oder des Obristenregimes. Auch nicht die Zeit der
deutschen Besatzung. Es ist der 3.Dezember 1944, die Nazis sind längst am
Rückzug und haben Griechenland geräumt. Wer da genau in die eigentlich
völlig harmlose Demo feuerte, darüber streiten die Historiker noch, aber
klar ist, daß diese und andere Aktionen ausgeführt worden waren von einer
Koalition von griechischen ehemaligen Nazi-Kollaborateuren und Einheiten der
britischen Armee und Luftwaffe. "Athens 1944: Britain's dirty secret" titelt
der Guardian die Geschichte. Es ist eine Story über den militanten
Antikommunismus Churchills, der auch vor solchen Massakern nicht
zurückschreckte. Und es ist eine Beschreibung, wie die Partisanen getäuscht
wurden von den Briten, die sie eigentlich als Befreier gefeiert hatten. Die
Partsanen liessen sich problemlos entwaffnen, nichtsahnend, daß die
griechischen Quislings ihre Waffen behalten durften.

Der Artikel im Guardian ist stellenweise auch etwas konfus -- was aber wohl
eher an der tatsächlich nach wie vor kaum vorhandenen Aufarbeitung dieser
häßlichen Geschichte liegen dürfte. Denn dem Artikel nach zu schliessen war
das für britische Historiker über 70 Jahre lang kein lohnendes Thema. Kein
Wunder, wer wollte schon am Denkmal Churchill rütteln?

Der Text ist leider nicht nur lang und auch schon zwei Jahre alt, sondern
auch nur auf Englisch verfügbar. Dennoch: Unbedingt eine Leseempfehlung.

https://www.theguardian.com/world/2014/nov/30/athens-1944-britains-dirty-secret

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Zeitungsleser: -br-. Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Zitate
auf die Online-Ausgaben der jeweiligen Medien.




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