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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. November 2016; 18:02
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China:

> 7 Tage in Beijing

Mein fünfter China-Aufenthalt führte mich 7 Tage in die Hauptstadt des
Landes. Ich nahm an zwei wissenschaftlichen Konferenzen teil und traf
etliche FreundInnen aus der linken Szene.
Von *Hermann Dworczak*


Das Thema der ersten Konferenz lautete "Entwicklung und Erneuerung des
Marxismus im 21. Jahrhundert". Um es rundheraus zu sagen: davon war rein gar
nix zu bemerken. Es handelte sich weitgehend um einen Bürokraten-Aufmarsch:
die Lage in China wurde ziemlich rosig dargestellt; der Ton war "Die Partei
ist im Besitz der Wahrheit und das Volk folgt uns"; Stalin-Beweihräucherung
wurde präsentiert, es gab oberflächliche Einschätzungen zum Ende der
Sowjetunion etc. Der Großteil der nichtchinesischen Sprecher schlug in
dieselbe Kerbe: die Parteichefs der KP der USA, von Australien oder
Weißrußland lobten die Politik der KP Chinas. Diskussion gab es keine.

Die zweite Konferenz "Chinas Weg der Ausmerzung der Armut" auf der Beijing
Universität unterschied sich wohltuend von der ersten. Zwar gab es auch hier
apologetischen Partei-Mainstrem, aber etliche empirisch reiche, kritische
Inputs. Nicht nur von ausländischen TeilnehmerInnen (wie Alexander Buzgalin/
Rußland, Josef Baum/ Österreich oder Sean Sayers/ Großbritannien), sondern
von ReferentInnen aus China selbst: problematisiert wurden u. a. das riesige
das Stadt-Land-Gefälle, die enorme Landflucht, das bisher weitgehend auf den
Export ausgerichtete "Wachstums"-Modell, die extremen
Einkommensunterschiede, die zahlreichen ökologischen Probleme usw. Starker
Tobak war das Referat eines chinesischen Sozialwissenschafters, der die Lage
von Teilen der WanderarbeiterInnen in China schlimmer bewertete als
Friedrich Engels in seinem berühmten Buch "Die Lage der arbeitenden Klasse
in England" 1845 die Situation des dortiges Proletariats schilderte.

In meinem Vortrag unterstrich ich die enormen Leistungen Chinas, um hunderte
Millionen aus der (absoluten) Armut zu führen und verwies auf den
fundamentalen Unterschied zu Indien, wo eben keine Revolution statt gefunden
hat. Gleichzeitig schnitt ich drei zentrale Konfliktpunkte an:

- Entfremdung in China. Jemand hatte den Begriff in die Debatten
eingebracht, aber es folgte Schweigen. Ich verwies darauf , daß es
massenhaft Entfremdung in China gibt: platteste Konsum-Ideologie, Ellbogen-
Mentalität, das Immer- Dünner-Werden des Solidaritäts-Gedankens. Als
Hauptgrund für diese negative Entwicklungen führte ich das Überhandnehmen
der "Marktmechanismen", in Wirklichkeit der zunehmenden Ausbreitung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse aus.

- Dem Einwand, der hier meist erfogt, man brauche sich keine große Sorgen
machen, denn es handle sich um etwas ganz Neues ,den "Sozialismus mit
chinesischen Charakteristika", begegnete ich mit zwei Argumenten: weder ist
die Debatte neu, noch etwas speziell Chinesisches. Die nämliche Debatte
hatte es bereits in der jungen Sowjetunion in den 20er-Jahren gegeben. Und
sie fand in etlichen Ländern eine Fortsetzung: etwa in Cuba die
"Planungsdebetatte"- mit Che Guevara als Teilnehmer oder aktuell in Vietnam.
Immer ging und geht es darum, ob den "Marktmechenismen" (enge) Grenzen
gesetzt werden oder ob sie ausufern können.

- Wenn es um die Korrektur dieser negativen Entwickungen geht, wer ist das
Subjekt ? Erfolgt die Aktion nur von oben? Oder bedarf es nicht vielmehr
zahlreicher Initiativen von unten - selbständige Organisierung der
WanderarbeiterInnen oder der ökologischen AktivistInnen etc.? Also einer
aktiven Zivilgesellschaft, einer aktiven ArbeiterInnenklasse? Nicht von
ungefähr heißt es bei Marx "Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur durch
die Arbeiterklasse selbst erfolgen".

Auf den Konferenzen und darüberhinaus hatte ich den Eindruck, daß die
"ersten dreißig Jahre" nach der Revolution 1949 (und nicht nur die
"Reformperiode" danach) aktuell positiver eingeschätzt werden. Auf meine
Fragen an diverse Gesprächspartner, ob das in der realen Politik
Auswirkungen habe, gab es sehr unterschiedliche Antworten: sie reichten von
"Das sind nur innerbürokratische Geplänkel" bis hin zu Positionen, daß
möglicherweise im landwirtschaftlichen Bereich (etwa Förderung von nach wie
vor existierenden Produktionsgenossenschaften) neue Akzente gesetzt werden.

Der Parteichef Xi Jinping scheint fest im Sattel zu sitzen. Auf einer
Sitzung des Politbüros wurde beschlossen, daß sich die Partei um ihn als
"Kern" scharen solle- eine Formulierung, die in dieser Schärfe nur in der
Mao-Ära gebraucht wurde. Der Partei wurde eine verschärfte
"Anti-Korruptions"-Kampagne verordnet. Launiger Kommentar einer chinesischen
Genossin: "Die Partei kontrolliert weiter sich selbst".

Die Kontrolle und Repression hat zugenommen: nicht nur gegenüber
InternetbenutzerInnen. Ein Genosse schilderte mir den Fall von
LandarbeiterInnen, die Lohnrückstände einforderten. Ihr Potest wurde brutal
unterdrückt - mit Todesfolgen.

Es gibt Bestrebungen die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften
(CASS) zu einer Art think tank für Regierung und Partei umzuwandeln, was
ihren Spielraum weiter einengen würde.

Ich konnte keine Anzeichen sehen, daß sich der generell neoliberale
Wirtschaftkurs geändert hätte. Bezeichnend ist die Behandlung der gewaltigen
Strukturproblem des Nordostens des Landes mit seinen zum Teil veralteten
Industrieanlagen. Ministerpräsident Li Keqiang spricht nur von der
"Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen und der Prioritätensetzung
bei Investitionen, um neue Investoren zu gewinnen." Kein Wort davon, daß der
Staat selbst die Dinge zentral in die Hand nimmt, das Feld wird weitgehend
dem privaten Kapital überlassen. ###



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