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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. Oktober 2016; 17:23
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Soziales:

> Offener Brief an Sebastian Kurz

Betrifft: Mindestsicherung

Werter Herr Integrationsminister Kurz, Sie sind offensichtlich im Augenblick
die Person, die in der ÖVP das Sagen hat. Ohne die ÖVP gibt es keine
Einigung in der Mindestsicherung, und ohne eine sinnvolle Einigung gibt es
Kürzungen in der sozialen Absicherung, die vor allem Kinder trifft - und das
bedeutet: mehr Armut, mehr Obdachlosigkeit, noch mehr Menschen, die bereit
sind, zu allen Bedingungen zu arbeiten, noch mehr Druck auf die Menschen,
die jetzt schon im Niedriglohnsektor arbeiten, mehr Kriminalität, mehr
soziale Unruhen.

Deshalb möchte ich nichts unversucht lassen und an Ihre Vernunft
appellieren. Es braucht bundeseinheitliche soziale Mindeststandards in der
Mindestsicherung. Wir alle haben hoffentlich ein Interesse daran zu
verhindern, dass Familien weiter in Armut gedrängt werden, zehntausende
junge Menschen als Generation Hartz IV versauern - ohne Jobs, ohne
Ausbildungen, ohne Perspektiven, ohne Geld. In Zeiten geringen
Wirtschaftswachstums, hoher Arbeitslosigkeit und zunehmend prekärer
Beschäftigungssituationen bedeutet dies konkret, dass auf eine freie Stelle
im Niedriglohnsektor 37 Bewerber_innen kommen und Sie wissen sicherlich,
dass gering quailfizierte Menschen die größte Gruppe derjenigen ist, die auf
das allerletzte soziale Netz der Mindestsicherung angewiesen sind.

Sie wissen auch, dass die Zeit für eine vernünftige Einigung knapp wird.
Sollten Sie sich nicht mit der SPÖ bis Ende des Jahres einigen, sind ab dem
1.1.2017 einige tausend Menschen, alte und behinderte Menschen,
Alleinerzieher_innen und Kinder, die bisher Mindestsicherung (Vollbezug)
bezogen haben, nicht mehr krankenversichert. Jegliche Rechtsgrundlage
zwischen Bund und Ländern, die etwa die Arbeitsvermittlung und die
Ausbildung von BMS-Bezieher_innen regelt, wäre obsolet. Das würde bedeuten,
dass die Länder willkürlich Grenzen in der Mindestsicherung ziehen könnten;
Sozialdumping wäre die Folge. Der Arbeitsdruck würde massiv ansteigen, was
prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Ausbeutung fördern würde. Viele
Menschen, die bis jetzt die Wohnbeihilfe beziehen, würden sich ihre
Unterkünfte nicht mehr leisten können und buchstäblich auf der Straße
landen. Was das für die Kriminalstatistik und die Empfangsbereitschaft für
Extremismus bedeuten würde, mag ich mir gar nicht ausmalen.

Geht es nach den Vorschlägen Ihrer ÖVP, erhält eine Familie mit zwei Kindern
künftig 1.125 Euro statt bisher - in Wien - 1.723 Euro. Ein_e
Alleinerziehende_r mit drei Kindern erhält ebenfalls 1.125 Euro statt bisher
1.635 Euro. Ob und in welcher Höhe Sie Wohnleistung als Sachleistung
gewähren, ist unklar. Ich würde mir dann erwarten, dass Sie jeder
alleinerziehenden Mutter, jedem alleinerziehenden Vater erklären, warum
ausgerechnet bei ihr beziehungweise ihm Leistungskürzungen von bis zu 30%
notwendig waren.

Ich darf Sie daran erinnern, dass wir bis Ende des Jahres allein in Wien von
200.000 Menschen sprechen, die von dieser Sozialleistung profitieren,
darunter mehr als 50.000 Kinder.

Werter Herr Kurz, reformieren wir die Mindestsicherung, aber kürzen wir
nicht auf Kosten der Schwächsten unserer Gesellschaft.

Investieren wir z.B. ein Jahr in Jugendliche - mit Qualifizierung,
Begleitung, Ausbildung - und verkürzen wir deren Aufenthalt in der
Mindestsicherung und erweitern damit zumindest ihre Perspektiven für ein
selbstbestimmtes Leben ("Back to future"). Stellen wir alle vorgelagerten
Systeme der Mindestsicherung infrage - das gesamte Förderungswesen, die
steuerliche Begünstigungen - und investieren wir auch in den integrativen
zweiten und dritten Arbeitsmarkt. Erhöhen wir kurzfristig die Anzahl der
Arbeitsplätze, indem Tätigkeiten, die bisher von zwei Leuten verrichtet
wurden, nun von drei Menschen erledigt werden - das alles
kollektivvertraglich abgesichert, zeitlich begrenzt, wobei die Kommunen bzw.
Unternehmen dafür Beträge aus der Mindestsicherung erhalten. Die 500.000
Menschen, die unter dem existenzsicheren Mindestarbeitslohn von 9,30 Euro
brutto arbeiten, würden aufatmen, wenn dieser angehoben wird. Und die den
Österreicher_innen gleichgestellten Menschen erhalten eine zusätzliche
Brücke, über die sie gehen können: Qualitäten, Sprache und Kultur entdecken.
Besser jetzt Geld in die Hand nehmen, Verdrängungen am Arbeitsmarkt abfangen
und in die Zukunft von uns allen investieren. Denn die Menschen, die soziale
Unterstützung aus dem In- und Ausland brauchen, sind da.

Es nützt nichts, die Augen zu verschließen: Auch nächstes Jahr wird die
Anzahl der Bezieher_innen steigen, die Kosten werden rund eine Milliarde
Euro ausmachen, und bereits jetzt ist klar, dass Familien mit zwei Kindern
zu einer "weiteren betroffenen Risiko-Gruppe" werden. Denn oft genug geraten
Familien ins Strudeln, wenn bloß ein_e Partner_in weniger verdient, krank
wird, den Arbeitsplatz verliert. Klar ist das viel Geld. Aber soziale
Sicherheit muss uns etwas wert sein.

Wenn Sie sich in ein Neuwahlabenteuer stürzen wollen und tatsächlich hoffen,
durch eine FPÖ-Politik mit dieser rechtsextremen FPÖ eine Koalition bilden
zu können, bleibt Ihnen dies unbenommen. Halten Sie dennoch kurz inne und
zeigen Sie, dass Sie unabhängig von diesen (angenommenen) Überlegungen,
verantwortungsvoll im Sinne der sozialen Sicherheit, handeln.

Eine Mindestsicherung brauchen wir alle. Sie ist ein Notruf, wie die
Feuerwehr, die Polizei, die Rettung.

In Erwartung einer positiven Antwort, beste Grüße

*Birgit Hebein, Sozialsprecherin der Wiener Grünen*


Wer auch Kurz schreiben möchte, hier die Kontaktmöglichkeiten:
sebastian.kurz@bmeia.gv.at
twitter: @sebastiankurz
Facebook: Sebastian Kurz



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