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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Freitag, 8. Januar 2016; 03:33
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Debatte:

> Selbstbetrug durch Salutogenese?

In der letzten Akin-Nummer des Vorjahrs findet sich eine von den deutschen
"Gruppen gegen Kapital und Nation" verfasste Kritik am Konzept der
Salutogenese ("Salutogenese: Bessere Gesundheit durch Selbstbetrug", akin
Nr. 26, S. 5 ff). Es handelt sich bei diesem Konzept um einen neuen Ansatz
in Medizin, Sozialpsychologie und Sozialarbeit, der nicht primär auf das
Heilen bzw. Beseitigen von Krankheiten, Schwächen und Beschränkungen der
Menschen abstellt. Im Fokus steht vielmehr die Aktivierung und Stärkung
ihrer Widerstandskraft (genannt "Resilienz") und der bei ihnen vorhandenen
Ressourcen (Fähigkeiten, Potentiale). Die Kritiker möchten anhand von
Zitaten aus einem Buch des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, der als
Begründer des genannten Ansatzes gilt, belegen, dass die Salutogenese "eine
falsche, positive Sichtweise auf gesellschaftliche Verhältnisse ...
propagiert." Denn sie setze "chronisch belastende Lebensbedingungen als
unhintergehbar" und stelle an die Individuen den "Anspruch eines
befürwortenden Zurechtkommens unter diesen widrigen Bedingungen. ... Die
selbstbetrügerische geistige Stellung, die Antonovsky vorschwebt, soll Leute
jeweils zum Sisyphos machen. Das ist das Ideal, was in der Salutogenese
steckt."

Für mich ist diese pauschale Kritik ein klassischer Fall von
Das-Kind-mit-dem-Bade-ausschütten. Sie übersieht nämlich, dass ein sehr
großer Teil der psychosozialen Kompetenzen, die eine geschmeidige Anpassung
an das Bestehende ermöglichen, auch Voraussetzung für mutige Auflehnung
gegen herrschendes Unrecht und unermüdlichen Einsatz für eine bessere
Gesellschaft sind. Wer wollte etwa leugnen, dass die Ausdauer des von den
Kritikern verteufelten Sisyphos auch allen KämpferInnen für Gerechtigkeit
und Freiheit als Vorbild dienen kann?

Gehen wir aber nun ins Detail, um eines der zentralen Konzepte der
Salutogenese, das sogenannte "Kohärenzgefühl", zu betrachten. Besagter
Begriff bezeichnet eine Grundeinstellung zur Welt, welche in dieser ein
sinnvolles und vom Individuum beeinflussbares Ganzes sieht. In Antonovskys
eigenen Worten handelt es sich dabei um eine "globale Orientierung, die
ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein (...) Gefühl des Vertrauens hat, dass
die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren
Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; einem die
Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli
stellen, zu begegnen ..."

Ist es nicht offensichtlich, dass eine solche Orientierung auch jeder
ernsthaften Gesellschaftskritik zugrunde liegt? Denn diese muss, wenn sie
sich nicht mit punktuellen, unzusammenhängenden Beanstandungen begnügt,
Zusammenhänge zwischen verschiedenen Missständen aufzeigen und nach
gemeinsamen, systemischen Ursachen suchen. Sie muss also mit anderen Worten
ein kohärentes Bild der Welt zeichnen.

Die Kritiker überlegen zwar zwischendurch, ob dieses Kohärenzgefühl
womöglich mehr als eine bloße Anpassungsbereitschaft bezeichnet, verwerfen
diesen Gedanken aber sofort mit dem Einwand, dass es hier "nicht um
Erklärungen und Ressourcen, sondern um das Gefühl dazu" geht. Nun kann man
tatsächlich darüber streiten, ob es sich bei dem, was Antonovsky hier
anspricht, wirklich um ein Gefühl handelt, und ob man nicht besser von einer
Grundhaltung oder Überzeugung sprechen sollte. Zweierlei sollte aber klar
sein:

1. Damit ich in meinem Erklären überhaupt den Anspruch der Kohärenz stellen
und ernsthaft verfolgen kann, muss ich immer schon von der Überzeugung
geleitet sein, dass kohärentes Erklären möglich ist.

2. Diese aller kohärenten Theorie vorausgesetzte Grundhaltung ist selbst
eine ganz wesentliche Ressource nicht nur für die Anpassung an das
Bestehende sondern auch für dessen theoretisch fundierte Kritik und den sich
auf sie stützenden Willen zum Widerstand und zur Suche nach Alternativen.

Auch der Vorwurf, dass Antonovskys Ansatz von einer "unweigerlich mit
Stressoren angefüllten Umgebung" ausgehe und damit "auf der Natürlichkeit
von unnatürlichen Problemen" insistiere, ist verfehlt. Die Handlungsumgebung
in jeder denkbaren Gesellschaft ist nämlich tatsächlich unweigerlich mit
Stressoren angefüllt. Denn Mangelerscheinungen, vorübergehende
Fehlentwicklungen, Katastrophen usw. würde es auch in einem idealen
Sozialismus geben. Der wäre bloß (unter anderem) dadurch ausgezeichnet, dass
er den Individuen eine wesentlich bessere Entfaltung der von der
Salutogenese beschriebenen Potentiale ermöglichte.

Überschießend ist schließlich auch der Vorwurf, dass Antonovskys eben
erwähntes Ausgehen von einer "unweigerlich mit Stressoren angefüllten
Umgebung" die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Ausbeutern und
Ausgebeuteten übergehe. Das mag ja so sein, ändert aber nichts daran, dass
es für die Ausgebeuteten wichtig wäre, ihre von der Salutogenese
fokussierten Potentiale zu aktivieren, weil diese Potentiale eben nicht nur
die Basis für erfolgreiche individuelle Anpassung sind sondern auch im
kollektiven Widerstand gegen die Ausbeutung eine entscheidende Rolle
spielen. Es kommt nur darauf an, in welcher Perspektive die Aktivierung
dieser Potentiale geschieht. Sinnvolle Kritik am Konzept der Salutogenese
sollte daher nicht schon die Fokussierung auf jene Potentiale ablehnen,
sondern sich auf die Perspektive ihrer Aktivierung konzentrieren. Dabei
hätte sie dann zu prüfen, inwieweit besagte Aktivierung bloß in einer
Erhöhung der Anpassungsfähigkeit besteht, und in welchem Ausmaß auch das
Potential zur Entwicklung eines widerständigen und an Alternativen
orientierten Verhaltens gestärkt wird - wobei es hier nicht um ein
Entweder-Oder geht. Denn umfassende Opposition ohne teilweise Anpassung (in
bestimmten Bereichen bzw. Phasen des Lebens) ist ein reines
Märtyrerprogramm. Man wird vor dem Hintergrund einer recht verstandenen
Salutogenese sogar sagen dürfen, dass die Fähigkeit zum 'Einpendeln' auf ein
langfristig lebbares Ausmaß des Widerstands eine der wichtigsten Ressourcen
für eine oppositionell-alternative Lebenspraxis ist.
*Karl Czasny*



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