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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 4. November 2015; 15:25
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Glosse/International:

> Die Rückkehr der extremen Mitte

Orban, Erdogan, Netanyahu. Ja, natürlich, gibt es da auch massive
Unterschiede. Aber allen gemein ist: Sie sind die Führer ihrer Staaten, sie
sind in einem eher seltsamen Verständnis "konservativ",
"wirtschaftsfreundlich", extrem nationalistisch, benutzen gerne die Religion
der Mehrheitsbevölkerung als Instrument, regieren "mit harter Hand" und
schieben gerne Meldungen, über die man hierzulande nur den Kopf schütteln
kann. Alle drei gelten aber nicht als handelsübliche Faschisten und ihre
Länder als formal einigermaßen das, was man so unter "Demokratien" versteht.
Die Fidesz ist in den gleichen internationalen christdemokratischen
Parteienverbänden wie die CDU oder die ÖVP. Als die AKP mächtig wurde,
beschrieb sie der deutsch-türkische Journalist Ömer Erzeren in
deutschsprachigen Medien als "muslimische CDU". Und der Likud gilt allgemein
als "bürgerliche" respektive "konservative" Partei. Aber auch nur als seriös
und rechtsliberal -- geschweige denn als "Mitte", wie sie das alle gerne
hören wollen -- kann man die alle schon lange nicht mehr ansehen.

Ja, Netanyahu fällt da in einigen Punkten ein wenig aus dem Rahmen. Von den
dreien ist der ja noch der Netteste und sitzt am wenigsten fest im Sattel.
Die Knesset wird nicht wirklich vom Likud dominiert und es gibt eine große
kritische Öffentlichkeit. Aber der Likud nutzt gerne recht extreme Parteien
als Koalitionspartner und macht sich teilweise auch deren Begrifflichkeiten
zu eigen. Und seit der für den Friedensprozess unheimlich hilfreichen
Meldung, der Großmufti von Jerusalem sei eigentlich schuld am Holocaust
gewesen (siehe auch Glosse von B. Torsch im heutigen akin-pd), kann man
"Bibi" auch nicht mehr in seinen Verbalitäten als Mann des Ausgleichs
sehen -- vom militärischen Verhalten seiner Regierung gegenüber den
Palästinensern konnte man das sowieso schon lange nicht mehr.

In Viktor Orban Ungarn indes darf der Ministerpräsident jede Woche im
staatlichen Rundfunk ein "Interview" geben -- man kann sich die kritische
Art, wie diese Interviews geführt werden, auch ohne Ungarisch-Kenntnisse
vorstellen, wenn man an Orbans Medienpolitik denkt. Und in einer dieser
turnusmäßigen Ansprachen an sein Volk ließ er gerade verlauten, daß nicht
nur die Linken an allem Übel -- momentan sind das in Ungarn ausnahmsweise
nicht die Roma, sondern die Flüchtlinge -- sondern auch der zugegebenermaßen
etwas zwielichtige Spekulant und Politikförderer George Soros schuld seien.
Nun ja, Soros kann man vielleicht vorwerfen, daß seine politischen
Interventionen seit den 80ern solche Figuren wie Orban -- der ja mal als
"Liberaler" galt -- an die Macht gekommen sind, aber die Vorwürfe des
ungarischen Ministerpräsidenten sind völlig aus der Luft gegriffen. Doch
Orban weiß, daß Soros wegen allem Möglichen zu verdächtigen, politisch
hilfreich ist. Schließlich ist Soros eine der Lieblingshassfiguren vieler
rechter Verschwörungstheoretiker.

Na und Erdogan? Der macht gegenüber den Kurden wieder eine Politik, wie wir
sie von säkularen Politikern aus den 90ern kannte, und reagiert sich massiv
an liberal-religiösen Medien ab. Er ließ eine neue Wahl machen, weil ihm das
Ergebnis der vorhergehenden nicht gepaßt hat. Und prompt wird seine Partei
mit der erwünschten Mehrheit ausgestattet.

Und genau hier liegt das Problem: "Bürgerliche" autoritäre Parteien können
wieder regieren ohne eine formale Unterdrückung der parlamentarischen
Opposition und auch ohne massive Wahlfälschungen. Diese harte Hand kommt in
Zeiten der Verunsicherung einfach gut.

Wir regen uns hier über Bumsti auf. Der ist in der Opposition und gibt
ähnliche Töne von sich -- wenn man es mit den drei Obgenannten vergleicht,
sogar moderatere. Eher ist das die zweite Reihe in der Partei, die so
ähnlich poltert. Bumsti verspricht alles mögliche für "die kleinen Leute"
und wir wissen, dass er das nicht halten können würde, würde er
Bundeskanzler. Und wahrscheinlich wären seine Minister genauso korrupt wie
die FPÖler in der Schüssel-Regierung.

Erdogan, Netanyahu und Orban aber sind schon an der Regierung, haben
teilweise auch sehr heftige Korruptionsaffären, versprechen keine sozialen
Verbesserungen, weswegen sie sich auch nicht daran halten müssen, und geben
die weisen Monarchen, die der Nation -- mit christlichem, muslimischen oder
jüdischem Zuckerguß -- zur neuen Größe verhelfen wollen. Und das Volk wählt
diese Staatsführer!

Dahin geht die neue Herrschaftsform. Wozu Wahlen fälschen, wenn das
Stimmvieh sowieso in die richtige Richtung marschiert? Wozu braucht es
klassische Faschisten oder Rechtspopulisten, wenn man die ganze Chose auch
feudal erledigen kann? Die Russen wählen ihren ehemaligen KGB-Offizier, die
Ukrainer einen "Schokozaren" mit Rüstungsfabriken und die Deutschen Mutti.

Gott möge uns behüten vor allem, was grad noch ein Glück ist? Naja, schon,
aber gegen andere Staaten haben wir in Österreich mit der rotschwarzen
Koalition und einem belfernden Bumsti doch immer noch fast ein Glück...
*Bernhard Redl*



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