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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Freitag, 2. Oktober 2015; 16:12
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Spanien/Wahlen:

> Kataloniens Politik -- ein Erklärungsversuch

Die *Gegeninformationsoffensive Aug und Ohr* versucht, einen Überblick über
die hierzulande zumeist eher unverständliche Parteienlandschaft der
sezessionswilligen Provinz rund um Barcelona zu geben
*

In Katalonien fanden Regionalwahlen statt. Sie sind deswegen für ganz Europa
interessant, weil in zahlreichen Städten des Spanischen Staates, aber ganz
besonders in Katalonien, sich bei den Kommunalwahlen starke
antikapitalistische Bündnisse gebildet hatten, in primis in Barcelona, die,
sich auf die aktive Mitwirkung der organisierten Bevölkerung stützend, ja
sich offen als deren Sprachrohr verstehend, konkret und mit einer ungeheuren
Energie gegen das Austeritätsregime vorgehen. Griechenland, das mit seinen
Erfahrungen der letzten Monate zu einem Pol des Widerstands in Europa
geworden war, hatte und hat sehr viel von Spanien zu hoffen - "für ganz
Europa interessant", weil im Spanischen Staat und besonders in Katalonien
ein zweiter, womöglich noch kräftigerer Pol entstehen könnte.

Die Situation in Katalonien zeichnet sich dadurch aus, daß sich
sozialpolitisch-antikapitalistische Bewegungen wie Podem (katalanisch für
Podemos) und die starken separatistisch-sezessionistischen Bewegungen
überlappen, z.T. eng mit einander verzahnt sind, überdies die
independentistas (die für die staatliche Unabhängigkeit Kataloniens
kämpfenden Organisationen und Parteien) stark durch die Linke, ja die
radikale Linke geprägt sind. Der Widerstand hat daher in Katalonien einen
spezifischen Doppelcharakter. Los von Madrid und Gegen's Kapital stehen
Seite an Seite.

Die in jeder Region zu einem anderen Zeitpunkt stattfindenden
Autonomiewahlen haben wie der Name schon sagt, im allgemeinen eine vorrangig
regionale Bedeutung. Nicht in diesem Fall, in Fall der (diesmal
vorgezogenen) katalanischen Autonomiewahlen. Erstens weil sie, bloß etwas
mehr als 2 Monate vor den möglicherweise die endgültige Entscheidung für
einen Regimewechsel bringenden gesamtspanischen Parlamentswahlen auf dem
hyperpolitisierten katalanischen Territorium stattfinden, und dann, weil sie
zusätzlich als Ersatz für ein von der Zentralregierung verbotenes Referendum
dienen: die für die Eigenstaatlichkeit optierende nationalistische (das Wort
ist im Spanischen wie im Englischen nicht pejorativ), aus heterogenen
Strömungen zusammengesetzte Großtendenz versteht diese Wahlen als
plebiszitäre Kampfwahlen - was die Zentralregierung zur Weißglut reizt,
nachdem sie ein Verbot nach dem anderen erlassen hat und sprachliche,
kulturelle Autonomierechte mit einiger Brutalität eingeschränkt hat. Dies
hat wiederum den unmittelbar und direkt sezessionistischen Anteil am
Wählervolk in letzter Zeit erheblich verstärkt.

Die nationalistische Rechte, geprägt durch Convergència, ehedem Teil der
nicht mehr bestehenden Convergència i Unió (CiU), der jahrzehntelang das
Land steuernden Rechtskoalition, aber auch wahlbedingt verbündet mit der an
sich progressiven und auch mit einem sozialpolitisch progressiven
Wahlprogramm ausgestatteten, aber stets ein wenig oszillierende ERC
(Republikanische Linkspartei) bildet den rechts-konservativen Flügel der
Unabhängigkeitstendenzen.

Die ERC ist zwar eine historische antifaschistische linke Partei, deren
Führer Companys im KZ ermordet wurde, aber ihre konkret-realen
Positionierungen wechseln beständig. Im Stadtparlament von Barcelona
unterstützte sie wohltätig die Wahl der ersten Sprecherin von Podem, Ada
Colau, und damit die ganze Allianz, die unter anderem auch aus Kommunisten,
Grünen und einer radikal sezessionistischen und antikapitalistischen Partei,
dem Procès Constituent, besteht. In anderen Gemeinden koalierte sie mit der
PSC, Schwesterpartei der durch und durch korrupten PSOE: Jetzt ist ERC im
Verbund mit Convergència, die mitverantwortlich war für eine Reihe von
regressiven und repressiven Maßnahmen der Vergangenheit, mitverantwortlich
für die administrativ verdoppelte Pauperisierung der Bevölkerung.

Dieser rechte (rechtere) Flügel, der allerdings auch von
Kulturorganisationen (die in Katalonien ein bedeutendes Gewicht haben)
unterstützt wird, nennt sich Junts pel Sí ("Gemeinsam für ein Ja").

Der linke Flügel besteht unter anderem aus Podem, der CUP (Candidatura
d´Unitat Popular), einem grün-roten Bündnis, welches wiederum aus Iniciativa
per Catalunya (IC, Grüne und Nationalisten) und der Esquerra Unida i
Alternativa (EuiA, Vereinigte und Alternative Linke) zusammengesetzt ist,
und dem schon genannten Procés Constituent. Mit Ausnahme von CUP und Procés
Constituent und einem Teil von IC sind sämtliche Organisationen des linken
Flügels, der sich Catalunya Sí que es pot (die katalanische Entsprechung der
Losung Sí se puede, "Ja wir können es!") nennt, gegen eine katalanische
Eigenstaatlichkeit.

Catalunya Sí que es pot ist übrigens aus der von Ada Colau maßgeblich
geprägten kommunalen Wahlliste Barcelona en Comú (frei: "Barcelona gemeinsam
und öffentlich" hervorgegangen). Der Stellvertreter von Ada Colau, Gerardo
Pisarello, der als das Mastermind von Barcelona en Comú gilt, ist übrigens
von Procés Constituent, einer Formation, die schon zu Beginn einen großen
Massenzuspruch hatte und von zwei Benediktinerordensschwestern geführt wird,
die eng mit dem berühmtesten Kloster Kataloniens, Monserrat, verbunden sind.
Dieses Kloster steht seit jeher in einer antifaschistischen und auch
katalanistischen Tradition (es war der einzige Ort, an dem unter der
Franco-Diktatur auf katalanisch gedruckt wurden). So viel zur Verzahnung.

Die CUP, als absolut auf dem Plenarsystem und der ausschließlichen
Entscheidungsfindung nicht durch beauftragte Politiker oder "Koordinatoren"
oder "Sprecher", sondern durch die Aktivisten der jeweiligen örtlichen
Versammlungen beruhende Bewegungspartei ist vielleicht die radikalste, den
Bewegungen am stärksten verpflichtete, zum großen Teil auch von der jungen
Generation getragene Organisation, ist vielleicht das innovativste und
bedeutendste Phänomen der politischen Landschaft Kataloniens.

Die CUP kandidierte bei den Kommunalwahlen in Barcelona selbständig. Im
angrenzenden Badalona unterstützt sie die Liste namens Guanyem Badalona en
Comú ("guanyem", katalanisch für ganemos ("Siegen wir!) war die
ursprüngliche Bezeichung für die von Podemos-Anführer Iglesias für die
Kommunalwahlen vorgeschlagenen Gesamtwahllisten aus heterogenen progressiven
Organisationen). Deren Sprecherin, die jetzige Bürgermeisterin, stellt sich
ganz hinter die Unabhängigkeitsbewegung.

Die radikale Forderung nach Eigenstaatlichkeit, also Abtrennung vom
Spanischen Gesamtstaat ist bei der CUP verbunden mit radikalem
Antikapitalismus, übrigens auch mit einer expliziten EU-Gegnerschaft, dies
im Gegensatz zum Gros der sezessionistischen Großtendenz, die auch ein
abgespaltenes Katalonien in der EU halten will. Procés Constituent will
außerdem den Ausstieg Kataloniens aus der NATO. Damit trifft sie sich mit
der permanenten und konsequenten Mobilisierung von Izquierda Unida gegen die
US-Stützpunkte im Lande. Eine der Prioritäten der CUP ist die Unterstützung
der kämpfenden, der streikenden Arbeiter und Arbeiterinnen.

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