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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 1. Juli 2015; 18:31
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Glosse/Griechenland:

> Anti-Europäer wider Willen

Die Troika hat aus Dummheit zu hoch gepokert -- und Tsipras will sehen

Meine Lieblingsschlagzeile dieser Tage lieferte die Homepage des
Deutschlandfunks: "Die Leidensfähigkeit der EU hat Grenzen"! Die EU - sind
das nicht wir alle? Also ich persönlich leide gar nicht. Seit der
Ankündigung der Volksabstimmung in Griechenland sitze ich die meiste Zeit
mit einem breiten Grinser vor dem Computer und genieße das Gejaule der
"europäischen Eliten".

Noch so ein schönes Zitat aus "Zeit Online": "Was auch immer in den nächsten
Tagen und Wochen geschieht, es wird höchste Zeit, dass die Griechen die
Verantwortung für ihr eigenes Schicksal übernehmen. Tun sie das, dürfen sie
auch im Rest der EU wieder mit Unterstützung rechnen."

Stimmt auch irgendwie, nur anders als der Zeit-Kommentator meint. Denn wenn
Griechenland mit "Nein" stimmt -- und das ist wahrscheinlich --, werden
viele politische Parteien in Europa sich die Frage stellen müssen, ob an den
Positionen von Syriza nicht doch etwas dran ist. Das griechische Volk, das
nichts mehr zu verlieren hat, würde ein klares Signal senden: "Bis hierher
und nicht weiter!" Und das würde "im Rest der EU" deutlich vernehmbar sein.

Ein Bürgerkrieg wäre jetzt praktisch

Die Drohungen der deutschen Eliten erreichen jetzt ihren Höhepunkt. Das
Kampfblatt "Bild" zitiert den CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok: "Die
Verhandlungen mit Griechenland zeigen für mich: Die Radikalen in der
griechischen Regierung nehmen auch bürgerkriegsähnliche Zustände in Kauf,
nur ihrer Ideologie wegen". Wenn Brok das sagt, hat das Gewicht --
schließlich war dieser ja auch als "Vermittler" beim Umsturz in der Ukraine
beteiligt.

Ist sowas auch in Griechenland denkbar? In einem EU-Mitgliedsland, das eine
Regierung hat, die im Volk eine Unterstützung erfährt, von der die meisten
Regierungen Europas nur träumen können? Wo der Regierungschef sagt, er könne
eine weitere Verarmungspolitik nicht über das Volk hinweg verhandeln? Wo
gerade bewiesen worden ist, daß ein ausgehungertes Volk eben nicht die
Faschisten wählen muß, sondern auch den europaweit in den Massenmedien
verfemten Linken trauen kann? Hätten die EU-Bonzen lieber mit den goldenen
Frühaufstehern verhandelt? Manchmal hat man wirklich den Eindruck, dem wäre
so!

EU-Ratspräsident Donald Tusk meinte auf dem EU-Gipfel: "Das Spiel ist aus!"
Darauf erwiderte Tsipras: "1,5 Millionen Arbeitslose sind kein Spiel. 3
Millionen in Armut sind kein Spiel."

Todernstes Spiel

Und dennoch hat es etwas von einem Spiel. Denn es gibt Spiele, da geht es um
alles. Und in diesem ist der Einsatz verdammt hoch. Nicht für
Griechenland -- da war nicht mehr viel zu setzen, nur der Unterschied
zwischen dem Zusammenbruch der Volkswirtschaft durch Austeritätsprogramme
oder durch Bankrott. Aber für die Troika! Die hat hoch gepokert. Man hätte
sich in aller Stille und mit weniger Zeitdruck auf ein soziales Abkommen
einigen können, aber das wollte man nicht. "All in" hieß die Ansage. Die
ganze Zukunft des Euro-Projekts und damit der Wirtschaftsunion sowie die
Glaubwürdigkeit der EU-Obrigkeit liegen auf dem Tisch. Die Spieler um
Merkel, Schäuble, Juncker und Co. wollten wohl gar nicht so hoch gehen, aber
jetzt können sie nicht mehr zurück. Und der Bluff hat halt nicht
funktioniert. Tsipras will sehen! Wenn es ein "Nein!" vom griechischen Volk
gibt, dann hat Tsipras ein Full House eines empörten Volkes. Und die
EU-Bonzen haben nur eine Troika...

Okay, nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Aber: Hat die Troika den
Mut zu einem Eingeständnis, versagt zu haben? Oder läßt sie lieber den Crash
zu, in der Hoffnung, daß es danach mit der EU und der Eurozone irgendwie
doch weitergeht? Denn genau das steht auf dem Spiel. Und das wissen die
auch!

Brüsseler Spitzen-Politiker

Deswegen jetzt dieses Geheule! Deswegen das Gejammer darüber, daß man doch
nicht das Volk über seine eigene Zukunft entscheiden lassen dürfe. Tsipras
meinte in seiner Rede mit der Ankündigung der Abstimmung: "Nicht eine Minute
lang haben wir daran gedacht, uns zu unterwerfen und euer Vertrauen zu
verraten. Nach fünf Monaten harter Verhandlungen haben unsere PartnerInnen
vorgestern schließlich ein Ultimatum an die griechische Demokratie und die
Menschen in Griechenland gerichtet. Ein Ultimatum, welches den Grundwerten
Europas, den Werten unseres gemeinsamen europäischen Projekts widerspricht."
Hier erklärt jemand den EU-Bonzen, daß ihre Sonntagsreden nur dann etwas
wert sind, wenn sie auch entsprechende Taten folgen lassen. Das geht aber
gar nicht.

Ein Nein bei der Volksabstimmung würde der EU-Obrigkeit wohl nur zwei
Möglichkeiten lassen: Entweder päppeln sie ohne Murren die griechische
Volkswirtschaft wieder auf und sorgen für sozialen Frieden, um zu beweisen,
daß die EU eine Solidargemeinschaft ist, oder sie können ihr Projekt eines
geeinten Europas begraben und sich in der Erhaltung des Status Quo
abarbeiten. Denn humilitärische Rettungstruppen kann man vielleicht anderswo
einsetzen, in einem EU-Land kommt das nicht so gut.

Wie sagte neulich ÖVP-MEP Othmar Karas im ORF: "Aus der Währungsunion muß
jetzt eine Wirtschafts- und Sozialunion werden und langfristig eine
politische Union." Tja, genau dieses Projekt fahren gerade seine
europäischen Parteifreunde an die Wand.

Keine Alternativen?

Momentan versuchen die europäischen Entscheidungsträger noch, mit der vollen
Härte -- sprich Einfrieren der EZB-Garantien -- doch noch den Kotau der
griechischen Regierung zu erpressen. Aber wenn das nicht funktioniert,
müssen sie, um das Gesicht nicht zu verlieren und linken Parteien keine
Hoffnung zu geben, hintenherum und ohne viel Aufhebens den Staat und die
Banken Griechenlands sponsern. Denn der Euro muß nicht nur als Währung
gerettet werden, sondern er ist das zentrale politische Projekt zur
Integration. Und wer soll dann noch in die Eurozone wollen, wenn man sich
das Beispiel eines bankrottgemachten Staates vor Augen hält?

Das griechische Volk leidet. Und weiß, daß das nicht die Schuld seiner
jetzigen Regierung ist. Wenn es jetzt "Ochi!" zur Aushungerpolitik sagt,
wird aus dem TINA-Dogma ein TIAAA: "There is always an alternative". Und das
mögen diese Figuren von Kommission, Rat, EZB und IWF gar nicht.

Vielleicht ist in einer Woche alles ganz anders. Aber momentan genieße ich
einfach das Schwitzen von Schäuble, Schelling und Co.

Moment, in einer Woche bin ich ja schon auf Urlaub. Wo, ist ja wohl klar!
*Bernhard Redl*




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