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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 3. Juni 2015; 16:47
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Bücher/Interview:

> Phantasie-Alis Nicht-Anhänger

Der Alevit Reza Algül versucht, seine Unreligion zu erklären.

Reza Algül:
Der Alevismus - Eine Lehre,
die Gott ins Verhör nimmt
328 Seiten, EUR 18,50
ISBN 978-3-86963-510-1

Irgendwie hat es die akin ja nicht so mit der Religion. Da ist man doch sehr
erstaunt, wenn man von einem Autor ein Buch über eine solche zur Rezension
angeboten bekommt. Doch in diesem Fall ist alles ein wenig anders. Der
Alevit Reza Algül hat ein Werk über seine Eben-nicht-Religion geschrieben.
Und da aus der Türkei stammende Linke gerade in Wien sich auffällig oft als
Aleviten herausstellen, ist das natürlich doch sehr interessant.

Daher erschien mir ein Interview mit Algül einen Versuch wert. Ich gestehe,
ich kenne mich gar nicht aus mit den Aleviten und denke dabei immer daran,
daß vor ein paar Jahren Anas Shakfeh, der damalige Vorsitzende der
Islamischen Glaubensgemeinschaft, nach einer längeren Debatte gemeint hatte,
die Aleviten sollten sich erst einmal entscheiden, ob sie Moslems seien oder
nicht. Als ich Algül zu Beginn unseres Gesprächs mit diesem Zitat
konfrontiere, lacht er erstmal herzlich und meint dann, Alevismus sei eben
keine Religion, sondern eine alte persische Philosophie, die nach Anatolien
mitgebracht worden wäre -- in der Folge von Vertreibungen durch
Mongolenangriffe im 13.Jahrhundert. Noch heute sei diese Herkunft
ersichtlich an vielen Bezeichnungen im Alevismus, die persische Wörter
seien. Im Vorwort seines Buches beschreibt Algül die Lehre vor allem als
eine Diskursive: "Im Alevismus werden zudem zahlreiche Themen ohne Tabus
abgehandelt. Hierzu gehören die Menschenrechte (vor allem die Frauenrechte),
der Nationalismus, die Wissenschaft, die Naturgesetze, die Vernunft, der
Glaube, die Existenz des Universums bis hin zur Gegenwart Gottes. Im Laufe
dieser Gespräche haben sich zahlreiche Gruppierungen mit unterschiedlichem
Wissensstand gebildet."

Im Interview erklärt das Algül so: "Im Alevismus steht der Mensch im
Mittelpunkt. Das wertvollste Buch zu lesen ist der Mensch. Der Mensch
spricht, denkt, schreibt. Den Menschen als Mittelpunkt zu sehen ist gegen
die Religion, egal ob der Koran oder die Bibel oder die Tora. Der Alevismus
lehnt das automatisch ab." -- Moment, Moment, ruft da der Interviewer. Das
klingt doch ansonsten immer ganz anders! Haben der Islam, Allah, Mohammed
gar keine Bedeutung für die Aleviten? Algül: "Islam sind Dogmen, der Mensch
lebt. Der Mensch verändert sich, die Dogmen nicht. Mansur al-Halladsch hat
im Jahr 922 gesagt: 'Das Gesicht des gebildeten Menschen ist das Gesicht
Gottes. Der Gott ist im Menschen. Ich bin der Gott.'" Das wurde aber damals
nicht so gern gehört. Der Sufi-Dichter wurde -- wie Algül lakonisch
anmerkt -- "natürlich auch aufgehängt".

Der Alevismus lehne Religion generell ab, so Algül, es gäbe keinen Allah und
auch keinen Teufel, auch Pilgern und Beten werde abgelehnt. Genau deswegen
wären die Aleviten jahrhundertelang verfolgt worden. "Aber eines muß man
auch sehen: Durch diesen Druck haben sie irgendwann gesagt: Wir sind auch
Moslems. Aber in der Realität haben sie überhaupt nichts mit dem Islam zu
tun: Aleviten stehen für die Gleichberechtigung der Frauen, trinken Alkohol,
singen, musizieren und tanzen im Ritual. Und das ist im Islam alles
verboten."

Stichwort Tanz! Auch etwas, was beim Bild von Aleviten immer wieder
vorkommt. Da fallen einem natürlich auch die Sufis der Bektashi-Orden ein.
Gehören die auch zu den Aleviten? Und ist das nicht auch alles etwas
mysthisch-religiös? Algül: "Der Name kommt von Hadschi Bektasch Wali, der im
13.Jahrhundert gelebt hat. Eigentlich ist er der Gründer unserer Philosophie
in Anatolien. Er hat ein System in diese Gedanken gebracht. Zum Beispiel:
'Wer seinen Weg nicht durch Wissenschaft erhellt, kommt zur Dunkelheit'.
Wissenschaft, das ist also: Vernunft. Die Bektashi-Orden in den
Balkanländern waren jahrhundertelang auch unter osmanischer Herrschaft. Die
haben auch, um ihre Leben zu retten, gesagt, sie seien Moslem. Aber im
Ritual, wenn der 'Dede', der Lehrer, redet, trinken sie natürlich alle
gemeinsam Alkohol -- das hat dann mit dem Islam so gar nichts zu tun."

Und was hat das jetzt alles mit diesem Kalifen oder Imam Ali, auf den sich
auch die Shiiten berufen, zu tun? Algül schildert als Antwort nun die höchst
verwickelten Machtkämpfe in der Frühzeit des Islams -- der Interviewer
blickt da nicht ganz durch, aber letztendlich kristallisiert sich im
Gespräch heraus, daß dieser Ali lediglich deswegen Bedeutung für die
Aleviten erlangt habe, weil er der Anführer der Opposition gegen die
damalige Hauptrichtung des Islams gewesen sei -- unabhängig von dessen
eigene Ansichten. Ist Ali etwa nur eine Projektionsfläche, eine inhaltsleere
Ikone für die Aleviten? Und hat also nichts mit der Ideologie zu tun? Algül:
"Der hat damit nichts zu tun. Ali war auch Moslem. Er hat auch nichts gegen
den Koran gesagt. Jahrhunderte später wurde in seinem Namen ein Buch
geschrieben, in dem viel steht, was nicht zum Islam paßt. Aber das ist
natürlich keine Quelle." Und: "Ali wurde getötet. Aber im Verlauf der
internen Kämpfe über 300 Jahre wurde Ali auch vergöttlicht, wurde mit Allah
gleichgesetzt. Das hat nichts mit Geschichte zu tun, wir haben diesen Ali
neu erschaffen, einen Phantasie-Ali."

Trotzdem ist der Interviewer skeptisch -- kann es sein, daß es in einer
solchen debattengeprägten Lehre ähnlich ist wie im Judentum, wo jeder
einzelne Rabbiner definieren kann, was die Glaubensinhalte wirklich seien?
Anders gefragt: Wenn ich einen anderen Aleviten interviewe, wird der mir
vielleicht sagen, das, was Algül da erzähle, sei alles falsch? Algül: "Das
kann sein. Aber da muß man auch eine zweite Frage stellen: Steht im
Alevismus der Mensch im Mittelpunkt? Oder nicht? Ist er Gott? Oder nicht? Da
wird sicher niemand Nein sagen. Denn es gibt kein philosophisches
Gegenargument!"

Algül verortet eine "Doppelmoral": "Jahrhundertelang haben sich die Aleviten
versteckt. Auch heute noch im Rahmadan stehen die Moslems in der Früh auf,
machen Licht, um zu essen, und fasten dann den ganzen Tag. Auch viele
Aleviten stehen in der Früh auf und machen Licht. Nachher legen sie sich
wieder schlafen. Das ist eine Tragödie eigentlich. Dieser Druck hat
jahrhundertlang bei den Aleviten eine Gewohnheit zustandegebracht. Der Vater
hat das immer so gemacht und hat das an das Kind weitergegeben. Aber in der
Realität funktionieren auch diese Aleviten nicht im Islam. Das ist nur
dieses Versteckgefühl, eine Gewohnheit. Aber prinzipiell sagen die auch
nicht Nein zu dem, was in meinem Buch steht. Das sind ja die Quellen des
Alevismus, zum Beispiel Hadschi Bektasch Wali ist die 'Quelle der Quelle',
wie er genannt wird, über die ich geschrieben habe. Aber die sagen, sie
seien Moslems und trinken aber ihren Raki."

Und wie ist das jetzt mit dem Untertitel des Buches? "Eine Lehre, die Gott
ins Verhör nimmt" -- was soll das heißen? Du Gott, du, was hast du mir
angetan? Algül: "Genau das wird hier gesagt. Der Dichter Yunus Emre hat zum
Beispiel Gott gefragt: 'Du hast mich geschaffen, du hast auf meine Stirn
geschrieben, was ich im Leben tun werde. Und ich tue das und dann kommst du
und bestrafst mich dafür, daß ich das getan habe. Was machst du da? Wozu der
ganze Quatsch?' Das ist hart. Und auch sehr ironisch. Und auch politisch.
Gott wird scharf kritisiert! Im 13.Jahrhundert! Nein, wir brauchen keine
Religion. Unsere Religion ist die Liebe, unser Gott ist der Mensch."
*Bernhard Redl*

Das komplette Interview ist nachzuhören unter http://cba.fro.at/288653



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