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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. Jänner 2015; 16:27
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Initiativen

Ein Notruftelefon für Bootsflüchtlinge

Von *Watch the med*
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11. Oktober 2013: Mehrfach rufen Flüchtlinge auf einem sinkenden Boot per
Satellitentelefon die italienische Küstenwache an und bitten um dringende
Hilfe. Doch ihr SOS wird nicht ernst genommen. Über 400 Menschen befinden
sich auf dem Boot, das in der Nacht zuvor von einem libyschen Schiff
beschossen wurde. Obwohl zunächst die italienischen und später auch die
maltesischen Behörden von der unmittelbaren Gefährdung der Passagiere
informiert sind, verzögern sich die Rettungsmaßnahmen um mehrere Stunden.
Patrouillenschiffe erreichen die Unglücksstelle, nachdem das Boot bereits
eine Stunde gesunken war. Mehr als 200 Menschen sterben, nur 212 werden
gerettet.

Was wäre passiert, wenn die Boatpeople einen zweiten Notruf an eine
unabhängige Hotline hätten richten können? Wenn ein Team von
zivilgesellschaftlichen Akteur*innen sofort Alarm geschlagen und Druck zur
Rettung auf die Behörden ausgeübt hätte?

Ein Jahr nach diesen Ereignissen gibt es diese Hotline. Die Initiative des
Alarmtelefons von Watch-The-Med, das am 10. Oktober 2014 in Betrieb genommen
wurde, gewann Unterstützung von Migrantengruppen,
Menschenrechtsaktivist*innen und -organisationen wie auch von
Einzelpersonen.

Die Betreuer*innen des Alarmtelefons können selbst keine Rettungsoperationen
durchführen, weil sie keine Boote haben, bieten aber Beratung an und
schlagten Alarm, wenn Menschen in unmittelbarer Notlage nicht sofort
gerettet oder sogar von europäischen Grenzbehörden abgewiesen werden.

Die Leute, die das Alarmtelefon betreuen, bemühen sich, unverzüglich zu
intervenieren, wenn sie von Bootsflüchtlingen angerufen werden. Die
Verbreitung der Hotline-Nummer unter den Migrant*innengruppen im Transit ist
erst im Anrollen. Das Alarmtelefon ist bemüht, eine alternative Anlaufstelle
für Migrant*innen anzubieten, um sie vor Verletzungen der Menschenrechte in
Schutz zu nehmen, die nur zu oft in den europäischen Grenzregionen des
Mittelmeeres vorkommen.

In den ersten zwei aktiven Monaten empfing das Alarmtelefon verschiedene
Anrufe und wurde bis jetzt in 12 Fällen unterschiedlicher Grössenordnung
aktiv. Sie lenkten die Aufmerksamkeit der Shiftteams (zuständige Teams des
Alarmtelefons) auf mehrere Örtlichkeiten, diverse Notsituationen und auf
Menschenrechtsverletzungen.


Zusammenarbeit

Bis jetzt wurden Notrufe aus dem Mittelmeer und der Ägäis empfangen, wie
auch von Überlebenden, die aus Griechenland abgeschoben worden waren und
sich wieder auf türkischem Territorium befanden.

In den meisten Fällen wurde das Alarmtelefon von Kontaktpersonen
und -gruppen in Migrant*innengemeinden z.B. in Schweden, Italien und der
Schweiz benachrichtigt. Einer von ihnen ist Pater Mussie Zerai, der nun
schon seit vielen Jahren ein Alarmtelefon betreibt - vor allem für
Flüchtlinge aus Eritrea. Er beriet die Watch-The-Med-Aktivist*innen und
ermutigte sie, das Alarmtelefonprojekt anzugehen. Wie Pater Zerai erhalten
auch andere Personen und Gruppen Anrufe von Menschen in Not. Das
Alarmtelefon Watch-The Med beabsichtigt nicht, diese Strukturen zu ersetzen,
die schon seit längerer Zeit in verschiedenen Gemeinden und Regionen
existieren und wichtige Beratung leisten, sondern diese Strukturen zu
unterstützen und als Katalysator zu fungieren, um Leute zusammen zu bringen,
die vorher nichts von-einander wussten und zu einer allgemein zugänglichen
Sammlung von Erfahrungen beitragen können.

Nach unserer bisheriger Erfahrung unterschieden sich Herausforderungs- und
Zusammenarbeitsszenarios mit Behörden je nach Notlage und dem Ort des
Falles: Es stellte sich heraus, dass vom Alarmtelefon in Notfällen im
zentralen Mittelmeer verlangt wird, unverzüglich die italienische und
maltesische Küstenwache in Kenntnis zu setzen. Wenn die Shiftteams während
des Telefonats den Eindruck gewannen, dass nicht sofort Rettungsmassnahmen
eingeleitet wurden, wandten sie sich an das UNHCR und andere Organisationen,
um den Druck auf die Küstenwachen zu erhöhen, Rettungsaktionen einzuleiten.


Sichtbar machen und intervenieren

Mit dem Ende von Mare Nostrum und dem Beginn der von Frontex geleiteten
Operation Triton begann das Alarmtelefon seine Tätigkeit in einer Zeit, in
der es offen ist, ob «dem Tod ausgesetzt zu werden» in den Gewässern
zwischen Libyen, Malta und Italien wieder eine gängige Praxis sein wird. Das
Konzept des Alarmtelefons könnte da eine wichtige Interventionspraxis sein.

In der Ägäis wurde das Alarmtelefon Zeuge von Fällen, in denen die
griechische Küstenwache illegale Abschiebungen zurück auf türkisches
Territorium durchführte. Wenn Leute anriefen, die schon griechischen Boden
erreicht hatten, haben Shiftteams versucht, Rückschiebungen zu verhindern,
indem sie Organisationen informierten, das Wissen um die Vorgänge öffentlich
machten und den Kontakt zu den betroffenen Personen/Gruppen aufrecht
erhielten. In anderen Fällen gingen beim Alarmtelefon Anrufe von Personen
und Gruppen in der Türkei ein, unmittelbar nachdem sie dorthin abgeschoben
worden waren. In solchen Fällen dokumentierten die Shiftteams die Lage mit
Zeugenaussagen und durch Aufrechterhaltung des Kontakts mit den Überlebenden
der Rückschübe.

Wir gewannen in all diesen Fällen den Eindruck, dass wir denen, die unsere
Nummer anriefen, signifikante psychologische Unterstützung anbieten konnten,
und das kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Offenbar ist es für die
Anrufer sehr wichtig, in oder nach lebensbedrohlichen Situationen zu wissen,
dass das, was ihnen widerfuhr, nicht unbemerkt bleibt und dass sie zu einer
europäischen Zivilgesellschaft gehören, die sich bemüht, zu intervenieren
und Menschenrechtsverletzungen auf See sichtbar zu machen.


Drei Fälle für eine breite Öffentlichkeit

1. «Sie wollen sehen, wie wir ertrinken»: Ein Überlebender einer
Rückschiebeaktion informierte das Watch-The-Med Alarmtelefon von einer
illegalen Rückschiebung der griechischen Küstenwache Ende Oktober 2014. 30
syrische Flüchtlinge hatten versucht, die Ägäis zu überqueren, als [Anm.
akin: nach Angaben eines Betroffenen] ihr Boot von der griechischen
Küstenwache geentert wurde, die den Motor unbrauchbar machte, ein Leck in
das Boot schlug und dann die Flüchtlinge auf See zurückliess. Den
Passagieren gelang es, mit der türkischen Küstenwache zu telefonieren, die
sie dann rettete und zurück auf türkisches Territorium brachte.(2)

2. Drohende Abschiebung nach Ankunft auf europäischem Territorium: Das
Alarmtelefon stand in Kontakt mit einer Gruppe von rund 75 syrischen
Flüchtlingen, die im Oktober auf der griechischen Insel Symi gelandet waren.
Sie befanden sich in einem prekären Zustand, ohne Nahrung, Wasser und
Orientierung, und fürchteten, von den griechischen Behörden zurückgeschoben
zu werden. Den Shift-Teams gelang es, direkt mit ihnen Verbindung
aufzunehmen, ihren Bewegungen zu folgen und Organisationen und Behörden zu
informieren.3

3. Flüchtlingsboot in Not vor der libyschen Küste. Ein Boot mit ca. 200
Flüchtlingen drohte vor der libyschen Küste zu kentern, Schiffe waren keine
in der Nähe. Die italienische Küstenwache informierte Schiffe über die Lage
der Flüchtlinge und eines nahm Kurs auf sie. Das Shiftteam begleitete die
Flüchtlinge über wiederholten telefonischen Kontakt und versicherte ihnen,
dass Hilfe unterwegs sei. Das Schiff erreichte das Boot der Flüchtlinge und
führte eine erfolgreiche Rettungsoperation durch. Es war der erste Fall, in
dem das Shiftteam in direktem Kontakt mit Menschen in Seenot stand.4

Wie wir in unserer Presseaussendung im Oktober bemerkten, sehen wir das
Alarmtelefon nicht als Lösung, sondern als Instrument zur Intervention in
Notfällen. Das Projekt ist ein weiterer Beitrag, um die zunehmenden
Bemühungen gegen repressive europäische Grenzbehörden zu unterstützen.
Innerhalb der ersten Wochen seines Bestehens wurden neue Verbindungen zu und
zwischen Organisationen von Migrant*innen und Aktivist*innen hergestellt,
die sich für gefährdete Menschen engagieren und gegen
Menschrechtsverletzungen protestieren.


Bekanntmachen und unterstützen

Wir rufen alle Mitglieder von Bürgerrechtsorganisationen auf, die Nummer des
Watch-The-Med Alarmtelefons so weit wie möglich bekannt zu machen und in
Migrant*innengruppen, die das Telefon brauchen, zu verbreiten. Sie lautet:
+334 86517161. Geben Sie die Nummer an alle Freund*innen weiter, die selbst
Freund*innen und Verwandte haben, die die europäischen Aussengrenzen
überschreiten wollen. Für uns ist das die wichtigste Aufgabe der kommenden
Wochen und Monate - und um das zu erreichen, brauchen wir breite
Unterstützung. Nehmen Sie bitte mit uns Kontakt auf, falls Sie weitere
Fragen haben oder falls Sie Informationsmaterial brauchen (z.B. «Sicherheit
in der Ägäis und in Marokko» in mehreren Sprachen, eine kurze Beschreibung
des Projekts in verschiedenen Sprachen, Visitenkarten mit der Notnummer). Da
wir auf ein effizient funktionierendes Netzwerk und auf Übersetzer*innen
angewiesen sind, rufen wir zu weiterer Partizipation am Projekt des
Alarmtelefons auf. Ebenso suchen wir finanzielle Unterstützung. Falls Sie in
der Lage sind, uns auf die eine oder andere Art zu unterstützen,
kontaktieren Sie uns bitte per Email:
wtm-alarm-phone(a)antira.info.

(Aus: Archipel/bearb.)

Homepage: watchthemed.net

Quelle: Archipel, Zeitung des Europäischen BürgerInnenforums, Ausgaben 230
und 233
http://www.forumcivique.org/de/artikel/lautsprecher-ein-notruftelefon-f%C3%BCr-fl%C3%BCchtlinge-im-mittelmeer
http://www.forumcivique.org/de/artikel/lautsprecher-bootsfl%C3%BCchtlinge


2) Fallbezeichnung: 2014_10_25_pushback_ CHIOS-GR-CESME-TR, siehe
http://watchthemed.net/reports/view/84
3) Fallbezeichnung: 2014_19_21-Symi, siehe
http://watchthemed.net/reports/view/87
4) Fallbezeichnung: 2014_11_14-CM1, siehe
http://watchthemed.net/reports/view/86



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