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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 14. Jänner 2015; 16:01
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Glosse:

> Schwer zu sein ein Charlie

Sind wir nicht alle Charlie? Nein, sind wir nicht. Wenn Angela Merkel oder
die PEGIDA oder Marine LePen oder Johanna Mikl-Leitner "Charlie" sind, dann
können wir das wohl nicht sein. Sonst wären wir ja irgendwo auch Merkel,
Mikl und Co. Nein, die Linke braucht auch hier Analysen statt lautstarker
Hysterie und Facebook-Bildchen mit "Je suis Charlie". Wir müssen eine andere
Antwort finden als die populistische und die bürgerliche Rechte und die
europäischen Innenminister. Die Linke muß sich die Frage stellen, wie denn
auf einen salafistischen Terror, vor dem wir nicht mehr die Augen
verschließen können, zu reagieren sei. Für das Bürgertum und die extreme
Rechte sind diese Anschläge so etwas wie das europäische 9/11: 'Wir können
einen Feind ausmachen, wir können Kriege begründen, wir können die Polizei
aufrüsten, wir können Gesetze verschärfen' -- das sind die Positionen des
Staates und seines Großbürgertums. Die Machteliten und die extreme Rechte in
Europa sind dankbar für diese Anschläge. Fakt ist -- und das ist die
Analogie zu 9/11 --, es handelt sich bei den Opfern um "weiße"
Mittelschichtsangehörige in einer der bedeutensten Metropolen Europas und
bei den Tätern um nichtstaatliche Terroristen mit einem anderen Glauben als
dem christlichen. Geht der Terror von einem befreundeten Staat aus (das
nennt man dann Krieg oder Justiz oder Polizeiaktion) oder ist im weitesten
Sinne christlich motiviert (Anders Breivik, Franz Fuchs) oder findet er
außerhalb westlicher Metropolen statt, dann findet sich nicht ein Schippel
Regierungschefs zu halbseidenen Solidaritätsaktionen am Ort des Geschehens
ein. Und auch das profil titelte nie: "Wie gefährlich ist das Christentum?"

Wir müssen nicht darüber diskutieren, ob die Karikaturen von Charlie Hebdo
künstlerisch wertvoll oder auch nur sinnvoll waren. Vieles davon war einfach
nur eine Antwort auf den widerwärtigen hegemonialen Anspruch der
Religionen -- egal welcher Geschmacksrichtung. Und die Hinrichtung von
Karikaturisten läßt sich sowieso genausowenig rechtfertigen wie das
Auspeitschen von Bloggern.

Aber worum geht es eigentlich? Der Salafismus in Europa ist als eine
Reaktion auf die Marginalisierung ganzer Volksgruppen interpretierbar. Im
islamisch geprägten Raum kann man diese Bewegungen als Antwort auf den alten
und neuen Kolonialismus sehen. Die europäischen Herren haben lange auf
diesen Raum als die Gegend geblickt, wo man den Kameltreibern Kultur
beibringen müsse -- und geflissentlich sich darum bemüht, daß dort
Potentaten an die Macht kommen, die wirtschaftlich keine Probleme bereiten.
Und man hat dafür gesorgt, daß demokratisch-solidarische oder gar linke
Experimente dort keine Chance haben. Zum Teil förderte man zu diesem Zwecke
auch religiöse Eiferer und versorgte sie mit Waffen. In Europa hat man indes
Ähnliches gemacht -- wenn auch nicht mit derselben Dreistigkeit, aber mit
viel Propaganda. Das Ergebnis war hüben wie drüben ein Ähnliches: Das
Aufkommen faschistischer Bewegungen. Heute können sich dank dieser Politik
Faschisten christlichen und muslimischen Glaubens gegenseitig rechtfertigen.

Es ist aber auch ein Versagen der Linken hüben wie drüben, für die
Gedemütigten keine Optionen bieten zu können. Die manchmal ziemlich
peinlichen Relativierungen von Salafisten durch Antiimps sind genauso wenig
eine adäquate Antwort wie die Querfrontler von den Antideutschen, die
Kontakt zu antiislamischen Rettern des Abendlandes suchen. Faschisten aus
dem Trikont bleiben Faschisten und Faschisten aus dem euopäischen
Proletariat sind ebenso keine Bündnispartner, nur weil sie Proletarier sind.
Aber hüben wie drüben ziehen solche Bewegungen ihre Kräfte aus den Heeren
der Gedemütigten -- gedemütigt aktuell und im kollektiven Unbewußten --, die
sich in ihrer Not an alten Herrschaftsidealen wie Nation, Rasse und Religion
orientieren, weil sie keine attraktiven anderen Angebote sehen.

Die schwache europäische Linke sucht in Krisensituationen wie dieser gerne
mächtige, aber höchst bedenkliche Bündnispartner und übernimmt Parolen, mit
denen man diese gewinnen kann -- und wundert sich dann, über den Tisch
gezogen und fehlinterpretiert zu werden. Die Linke heute beschäftigt sich
großteils mit Symbolpolitik, demonstriert gegen Symptome und Hilfstruppen
wie z.B. hierzulande die FPÖ, versucht aber immer weniger, Agendasetting zu
betreiben in ihren eigentlichen Stammthemen Kapitalismus- und
Herrschaftskritik. Das erscheint mühselig, verspricht in unseren hektischen
Zeiten keinen kurzfristigen Öffentlichkeitserfolg und ist auch überhaupt
nicht sexy. Aber es ist notwendig. Vielleicht mag die Parole "Sozialismus
oder Barbarei" hier etwas antiquiert und übertrieben erscheinen. Aber klar
ist, daß diese Welt alternative ideologische Angebote braucht. Die wird man
mit geänderten Facebook-Profilbildern allein aber wohl kaum machen können.

"Je suis Charlie" wurde sehr schnell zur Parole, um zu sagen, man fühle sich
auch angegriffen. Das ist verständlich, aber halt auch kompatibel mit PEGIDA
und Co. "Ich bin Europa" kann das auch heissen und die "europäischen Werte"
würden angegriffen. Sicher, die Menschenrechte, speziell die
Meinungsfreiheit, kann man als diese "europäischen Werte" verstehen. Aber im
Namen dieser Freiheitsrechte sollen eben diese nun von den europäischen
Innenministern weiter eingeschränkt werden. Da möchte ich nicht Applaus
klatschen. Und deswegen bin ich auch nicht Charlie.
*Bernhard Redl*



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