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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 25. Juni 2014; 14:37
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Ukraine:

> Notizen am Rande

Beiderseitige Feindbildpflege -- Authentizität-Falle und andere Fallen
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Wer seit Beginn der Ukraine-Krise die Berichterstattung der deutschen Medien
verfolgt, dürfte es kennen: wenn die "Putin-Versteher" mal wieder über "das
Sicherheitsbedürfnis Russlands" reden, wird diesen ganz authentisch contra
gegeben. In Talkshows, Reportagen und der Zeitung tauchen dann meist junge
Ukrainer (häufig Ukrainerinnen) auf und empören sich im pathetischen Ton
darüber, dass der Westen die ukrainische Demokratie im Stich lässt. Sie
reden über ihre Ängste vor Putin, versichern, dass die Extremisten vom
"Rechten Sektor" nichts bewirken können oder dass die "Swoboda"-Partei
inzwischen demokratisch geläutert sei. Ihre Argumentation lässt sich so
zusammenfassen: In der Ukraine ist eine Revolution für Demokratie und
Menschenrechte im Gange, wenn der Westen jetzt nicht handelt, wird die junge
Generation in der Ukraine von seinen Idealen enttäuscht. Alle Verweise auf
die Interessen Russlands seien ein Anschlag auf die ukrainische
Souveränität. Die Ukraine als unabhängiges Land hätte ihre Wahl getroffen
und wer es nicht akzeptiere, der unterschreibe russische Ansprüche auf die
Wiedergründung des Zarenreichs respektive der Sowjetunion mit. Wer
verhandeln möchte, der sei nur naiv und unterschätze die Gefahr des
russischen Einmarsches. Wer von Faschisten auf dem Majdan redet, falle auf
russische Propaganda rein. Die Ukraine brauche die Hilfe des Westens, sie
gehöre historisch zum Westen, wolle in die EU und die Erwartungen der
mutigen Revolutionäre dürften nicht abgewiesen werden. Sofortige und
unbedingte Parteinahme tut tue Not.

Diese Auftritte sind inzwischen fester Teil der Vorkriegs-Propaganda
geworden. Das wirft einige Fragen auf: Warum hat sich "die Ukraine" für "den
Westen" entschieden, wenn in einem Teil des Landes die neue Regierung auf so
viele Proteste stößt? Wie kann in einer faktischen Bürgerkriegssituation
gesagt werden, was "das Volk" entschieden hat - schließlich wird die
Entscheidung zwischen verschiedenen Fraktionen der Bevölkerung gerade
bewaffnet ausgetragen? Was bedeutet das Gerede von der Unabhängigkeit, wenn
die Ukraine ökonomisch offensichtlich auf ausländische Mächte angewiesen ist
und der Stoff des Konfliktes darin besteht, von welcher Weltmacht das Land
in der Zukunft abhängen wird? Warum sollen die Ängste der Menschen in der
Ostukraine vor IWF und NATO weniger gelten, als die Ängste vor Putin in
anderen Teilen des Landes? Der Umstand, dass Demokratie, wie sie die neue
Regierung versteht, nur bei gewaltsamer Unterdrückung der AnhängerInnen der
gestürzten Regierung durchsetzbar ist, wird verdeckt durch das Modell
"Ukraine vs. Russischer Einmarsch". Die Härten, welche die Hilfe des IWF mit
sich bringt, sind gar nicht erst Thema - Freiheit hat nun mal ihren Preis.

Grüne gegen Macho

In Deutschland ist vor allem die Partei der Grünen auf die herzzerreißende
Propaganda im Namen der Solidarität mit den idealistischen Revolutionären
von Majdan spezialisiert. Der böse Macho Putin muss gestoppt werden, sonst
reitet er bald überall mit nacktem Oberkörper hin und zwingt ganz Europa bei
"Gazprom" teure Preise zu bezahlen. Für die Exzesse von der Majdan-Seite
haben in Betroffenheit geübte Gutmenschen viel Verständnis aufzubringen.
Nazi-Symbolik in der Westukraine? Nur verständliche Reaktion auf Stalin!
Holocaust-Relativierungen? Die Ukrainer hatten mit "Holodomor" auch einen
Genozid erlebt. Nur besonders Aufmerksame könnten über dieses oder jenes im
Geschichtsbild der neuen Freunde des Westens stolpern. Erinnerungen an die
Hungersnot in den 1930er Jahren werden am stärksten in den Teilen der
Ukraine gepflegt, die damals gar nicht Teil der Sowjetunion war, sondern zu
Polen gehörte. Die "Vereinigung" der Ukraine, was die nationale Bewegung
immer vergeblich anstrebte, wurde erst durch Aufteilung Polens zwischen der
Sowjetunion und Deutschland möglich - es war ja gerade Stalin, der das
territoriale Programm der ukrainischen Nationalisten erfüllte. In der
Sowjetunion wurde die ukrainische nationale Identität zeitweilig stark
gepflegt - das Narrativ von ständiger Russifizierung blendet lange
historische Abschnitte aus.

Wer sich näher mit aktuellen Identitätsdebatten in den verschiedenen Teilen
der Ukraine beschäftigt, wird feststellen, dass die Anhänger der
"demokratischen Revolution" nicht selten die Bevölkerung der ostukrainischen
Bergbaugebiete als stumpf, ungebildet und autoritätshörig abwerten. Die
WählerInnen Janukowitschs aus den Arbeitersiedlungen von Donbass werden von
den Majdan-Demokraten als "watniki" (nach Watnik - Jacke mit Wattefütterung,
Arbeitskleidung) und "Bydlo" (Abschaum) bezeichnet. Im Prinzip wird der
russophone Osten des Landes für ein einziges Produkt der Unterdrückung von
allem Ukrainischen erachtet, ein Teil der Bevölkerung wird zu einer Gefahr
für Unabhängigkeit und Demokratie erklärt.

Russische Perspektive: Ukrainische Faschisten und schwule Westler

Währenddessen wird von der russischen Seite vor allem mit dem Appell an das
Feindbild Westen mobilisiert. Schaut man sich die Nachrichten im russischen
Fernsehen an, so wird das Bild vermittelt, die Ukraine sei schon jetzt ein
faschistischer Staat und der Westen stellt sich ohne wenn und aber dahinter.
Unterbrochen wird diese Ukraine-Berichterstattung von den Berichten aus dem
Sündenbabel Europa, wo der Christopher-Street-Day scheinbar an 365 Tagen im
Jahr begangen wird, islamistische Einwanderer und sexuelle Minderheiten
allmächtig seien und niemand auf die Warnrufe weitsichtiger Politiker wie Le
Pen höre. Am 9. Mai, dem "Siegestag" kommt auf Kanal "Rossija24" eine
Autorensendung von Fernsehmoderator Konstantin Semin, in der man erfährt,
dass schon hinter Hitler amerikanische Banken standen - der direkt
antisemitische Code von allmächtiger East Coast wird gerade noch
umschifft.(1) Der deklarierte "Antifaschismus" findet seinen Niederschlag in
Reden über die "verweichlichte moderne Gesellschaft", die durch Erinnerung
an die Zeit des Krieges wieder für Opfer und Anstrengung für die nationale
Sache mobilisiert werden soll.

"Gute Russen" und ihr böses Land

Natürlich erfährt man auch im Westen, dass längst nicht alle Putins Kurs
unterstützen. Es wird auch über Demonstrationen der RegimegegnerInnen
berichtet. Dort geben vor allem Liberale den Ton an, die sich weigern im
Westen den Feind zu sehen. Ganz im Gegenteil - sie sehen Russlands Platz in
der Welt vor allem auf die Seite des Westens, als Teil des westlichen
Blocks. Putins Außenpolitik erklärt man sich in diesen Kreisen nur aus
seinen angeblich antiquierten Ansichten, seinem Machtstreben und der
Notwendigkeit von den inneren Problemen abzulenken. Dazu kommt, dass man
gegenüber früheren Republiken der Sowjetunion und Ländern des Ostblocks noch
eine Art postkolonialen Schuldkomplex pflegt (was allerdings eher abnimmt).
Putins Propaganda zeichnet sie oft als ferngesteuerte Vaterlandsverräter,
der Westen tituliert diese Kreise gern als "Zivilgesellschaft"
(Zivilgesellschaft sind nach dieser Definition Leute in anderen Ländern, die
gegen Regierungen, die "uns" nicht passen, antreten).

Dieses Phänomen bedarf grundsätzlicher Erläuterung. Als die russische
Führung unter Jelzin beschloss, die Wirtschaft auf Kapitalismus umzustellen,
die Sowjetunion zu begraben und von nun an einen Staat nach westlichem
Vorbild aufzubauen, wurde das von den ehemaligen Feinden aus dem Kalten
Krieg begrüßt. Russland stand also nicht mehr in Systemkonkurrenz zu den
westlichen Mächten, sondern wollte mit ihnen ökonomisch konkurrieren. Da
stellte sich heraus, dass der Westen zwar diese Entscheidung Russlands
begrüßt, aber überhaupt nicht interessiert ist an starker wirtschaftlicher
und politischen Konkurrenz. Russland durfte zwar bei der G8 mitmachen, aber
Rücksicht auf die außenpolitischen Interessen wurde nicht genommen. Jetzt
war ein Beitritt zu EU und NATO die Entscheidung unabhängiger
Nachbarsländer. Versuche, seitens Moskau darauf Einfluss im eigenen Sinne zu
nehmen, wurden als Rückfall in "imperiales Denken" gewertet. Interessen des
Westens werden vom Westen gleich als Rechte deklariert: wir haben das Recht,
Bündnisse zu schließen mit wem wir wollen und schützen dieses Recht der
jungen Demokratien im Osten. Wenn Russland, das als frischgebackene
kapitalistische Macht im harten Wettbewerb bestehen muss, dasselbe für sich
in Anspruch nehmen möchte, kriegt es zu hören, dass die NATO-Raketen in
Nachbarländern überhaupt nichts Feindliches an sich haben und im Übrigen in
der modernen Welt Einflusszonen-Ansprüche keinen Platz haben. Das hört
Russland ausgerechnet von der EU, welche eine riesiges Einflusszone der
Führungsmächte, zu allererst Deutschlands, ist. Putins Politik ist keine
persönliche Marotte, es ist eine Reflexion darauf, dass Russland nach und
nach entmachtet wurde und sich nun in der Konkurrenz behaupten muss.

Die liberale Opposition beschwört immer, dass Russlands wahrer Platz an der
Seite der echten Demokratien im Kampf gegen die verbliebenen Schurkenstaaten
wie Iran sei, aber ob der Westen es auch so sieht, haben sie nicht in der
Hand. Nicht gerade mehrheitsfähig im eigenen Land, werden sie von den
westlichen Medien als "gutes Gewissen Russlands" präsentiert. Manche Linke
demonstrieren mit ihnen zusammen, wenn es um Menschenrechte (vor allem bei
Antirepressionsthemen) geht. Beim Thema Ukraine steht bei solchen Bündnissen
ganz klar die Hoffnung im Vordergrund, wenn Janukowitsch entmachtet wurde,
dann lässt sich eines Tages auch Putins ewiges Regieren beenden.
*Alexander Amethystow*

(1)
http://politikus.ru/video/18815-konstantin-semin-agitprop-ot-09052014.html



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