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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 14. Mai 2014; 02:08
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Die Ukraine und wir / Bücher:

> Einarbeitungshilfe zum Ukraine-Verständnis

Kerstin S. Jobst
Geschichte der Ukraine
Reclam Sachbuch 2010 Stuttgart, 256 Seiten. 7,20 Euro
ISBN: 978-3-15-018729-6

Weder war die Mehrheit derjenigen, die am Maidan-Platz demonstrierte,
"Faschisten", noch gibt es den geringsten Anlaß die jeweiligen
imperialistischen Interessen der EU, der USA oder Rußlands außer Acht
zu lassen. Und ebensowenig kann die Gefahr von (extrem) rechts in der
heutigen Ukraine heruntergespielt werden. Zu verstehen sind die
aktuellen Vorgänge in der Ukraine nur, wenn man/ frau ihren
geschichtlichen Vorlauf kennt. Das vorliegende Buch gibt einen ersten,
guten Einblick.

Das Reclam Sachbuch zeigt die historische Entwicklung in den
"ukrainischen Ländern" vom 9.Jahrhundert bis 2010. Von Anfang an waren
diese Gebiete multiethnisch zusammengesetzt. Die erste ostslawische
Staatsgründung (eher "Herrschaftsverdichtung"), die "Rus", die durch
die Achse Nowgorod- Kiew entstand, war ein Produkt der nordischen
Varäger, die bald in den Slawen aufgingen.

Die folgenden Jahrhunderte waren mehr als wechselhaft: u.a.
Mongolenherrschaft; Zugehörigkeit zu Polen/ Litauen; relative
Autonomie von Kosakenhetmanaten; Einverleibung durch das zaristische
Rußland durch den Vertrag ("Schwur") von Perejaslaw 1654;
Habsburger-Herrschaft in den westlichen Gebieten nach der Teilung
Polens Ende des 18. Jahrhundert.

Die ukrainische Nationalbewegung erlebte in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts einen beträchtlichen Aufschwung -- etwa durch den der
bedeutenden Schriftsteller Taras Schewtschenko.

Das Ende des Ersten Weltkriegs, der Sturz des Zarismus führte zu
ständigem Machtwechsel: so mußten die Bolschewiki Kiew viermal
erobern! Dieses Hin und Her findet in Bulgakows " Die Weiße Garde"
einen berühmten literarischen Niederschlag

Schon damals dienten sich rechte ukrainische Nationalisten den
Mittelmächten bzw dem -- späteren -- polnischen Dikator Pilsudski an.
Wie viele nationalistische Bewegungen in Mittel- und Osteuropa hatten
sie autoritäre, (halb)faschistische Vorstellungen.

Die junge ukrainische Sowjetrepublik konnte erste Erfolge erzielen,
war politisch attraktiv. Der Sieg des Stalinismus
(Zwangskollektivierung, völlig unrealistisches Akkumulationsmodell,
Terror-Herrschaft) machte jedoch alles zunichte. Er führte nicht nur
zu den obligaten "Säuberungen" und nationaler Unterdrückung, sondern
auch zu gigantischen Hungerkatastrophen -- dem "Holodomor"- , dem
Millionen zum Opfer fielen und der bis zum heutigen Tag das
Massenbewußtsein prägt.

Auch im Zweiten Weltkrieg schlugen sich viele rechte Nationalisten auf
die Seite der Nazis (Bandera etc. ). Nicht wenige UkrainerInnen waren
willige (Mit)täter, etwa in der SS-Freiwilligen-Division "Galizien"
oder bei der Ermordung jüdischer MitbürgerInnen (Babij Jar).

Der Wiederaufbau des zerstörten Landes stand erneut unter
stalinistischem Vorzeichen. Dabei gab es durchaus widersprüchliche
Entwicklungen: zwischen 1963 und 1972 war Petro Schelest
KP-Vorsitzender. Er setzte eine Reihe "proukrainischer" Aktivitäten)
kombiniert mit "Härte" in der Außenpolitik (etwa gegen den "Prager
Frühling").

Nach dem Tschernobyl-Desaster und dem Entstehen einer breiten
Protestbewegung in der zweiten Hälfte der 1990er- Jahre fegte 2004 die
"orangene Revolution" das geschwächte Regime hinweg. Die negativen
Erfahrungen mit dem (Post-) Stalinismus, der von vielen mit dem
Sozialismus insgesamt gleichgesetzt wurde, und eine schwache
(undogmatische ) Linke brachte das Gespann Juschtschenko / Timoschenko
(plus Oligarchen) an die Macht. Schon bald brach es aus Unfähigkeit/
Streitereien auseinander.

2010 folgte Janukowitsch aus der mehrheitlich russisch sprechendenn
Ostukraine- mit seiner "Partei der Regionen"(und seinen Oligarchen).
Auch er verschaffte dem Land keinen Aufschwung. Im Gegennteil: Kenner
der Lage sprechen von einem "Krieg gegen die Armen", den seine
Regierung führte. Nicht einmal um die Tschernobyl -Opfer kümmerte man
sich... Alles in allem hatte sich ein gewaltiges Konfliktpotential
angesammelt, das jetzt (2013/14) explodierte,

Das Buch hat seine Meriten, was die Historie oder die Entwicklung der
ukrainischen Sprache betrifft. Die verschlungenen Wege der
ukrainischen Nationsbildung werden sichtbar, man/ frau begreift den
komplexen Charakter der behandelten Probleme- daß jegliches
Schwarz-Weiß-Denken inadäquat ist.

Schwach ist die Autorin auf theoretischem Gebiet: Dem Marxismus
wird -- in Unkenntnis der realen Sachlage -- vorgeworfen zur
nationalen Frage wenig hervorgebracht zu haben. Lenins Wirken auf
diesem Gebiet wird kaum erwähnt, ebenso die revolutionäre
Nationalitätenpolitik der "ersten Stunde", die zur Unabhängigkeit
Finnlands und der baltischen Länder führte. Kerstin S. Jobst bezieht
sich hingegen fast nur auf Stalin.

Die Etablierung der stalinistischen Bürokratie fungiert bei ihr als
bloßer "Elitenaustausch", in Wirklichkeit handelte es sich um eine
gänzlich andere Politik- hinsichtlich Wirtschaft, Demokratie oder
Internationalismus. Trotzki etwa hatte in den 30er-Jahren eine
unabhängige Ukrainische Sowjetrepublik vorgeschlagen!

Auch die (aktuelle) Linke oder die Gewerkschaften werden kaum
behandelt.

Um sich in den "Komplex" Ukraine einzuarbeiten, als "starting point"
kann das leichtlesbare und billige Buch aber durchaus empfohlen
werden.
*Hermann Dworczak*


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