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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 19. November 2013; 22:41
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Oe/Soziales/Recht:

> Pflicht zur Selbst-Rehab?

Offener Brief an die Mitglieder des Sozialausschusses des Wiener
Gemeinderates

Sehr geehrte Damen und Herren, eher durch Zufall haben wir von der
aktuellen Novelle zum Wiener Mindestsicherungsgesetz erfahren, die mit
der Ausweitung des menschenrechtswidrigen Sanktionenregimes auf
Invalide nicht nur die Menschenrechte sondern auch wohl die Verfassung
verletzt. Wir moechten daher von Ihnen wissen, was Sie gegen diese
unzumutbaren Verschaerfungen der Wiener Mindestsicherung zu tun
gedenken.

Der Verein "Aktive Arbeitslose Oesterreich" lehnt die in den §§ 6, 14
und 15 WMG vorgesehene und nicht naeher geregelte Verpflichtung von
invaliden Personen, "von sich aus ... Massnahmen zur Wiedererlangung der
Arbeitsfaehigkeit zu ergreifen" bzw. sich "rehabilitativen Massnahmen"
zu unterwerfen aufgrund der mit einer derartigen Zwangsrehabilitation
verbundenen prinzipiellen und praktischen Probleme ab.

Bei dieser Zwangsrehabilitation handelt es sich um einen massiven
Eingriff in die Persoenlichkeitsrechte und vor allem um eine
Missachtung des in Verfassungsrang stehenden Rechts auf koerperliche
und geistige Unversehrtheit nach Artikel 8 Europaeische
Menschenrechtskonvention!

Weiter besteht die Gefahr, dass die Menschen nach einer kurzen und
oberflaechlichen Zwangsrehabilitation als "fit to work" erklaert
werden und so ihre Gesundheit in ueberfordender Arbeit oder in
unpassenden AMS-Zwangsmassnahmen gefaehrden muessen. Auch besteht die
Gefahr, dass diese Menschen zu einer nicht existenzsichernden
Teilzeitarbeit gezwungen werden.

Vor allem die Formulierung, dass sie "von sich aus Massnahmen zur
Wiedererlangung der Arbeitsfaehigkeit ergreifen" sollen, oeffnet
aufgrund ihrer voelligen Unbestimmtheit der Willkuer Tuer und Tor und
ist somit auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht verfassungswidrig.
Damit kann die MA 40 die Existenzgrundlage von Menschen mit
gesundheitlichen Einschraenkungen zerstoeren, durch Bezugskuerzungen
bis zur voelligen Einstellung der Mindestsicherung - mit der
Behauptung, diese haetten keine oder angeblich unzureichende
"Massnahmen zur Wiedererlangung der Arbeitsfaehigkeit" ergriffen. Dazu
kommt, dass das Wiener Mindestsicherungsgesetz
verfassungswidrigerweise die aufschiebende Wirkung von Berufungen
gegen die existenzgefaehrdenden Bezugskuerzung generell verweigert.

In seinem Urteil G7/99 stellte der Verfassungsgerichtshof
unmissverstaendlich fest: "Der Verfassungsgerichtshof haelt an seiner
... Rechtsprechung fest, wonach es unter dem Aspekt des
rechtsstaatlichen Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden
generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen
behoerdlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis sein
Rechtsschutzgesuch endgueltig erledigt ist."

Weiter weisen wir darauf hin, dass Menschen, ueber deren Antrag auf
Invaliditaetspension noch nicht rechtskraeftig entschieden worden ist,
von der Pflicht zur Verwertung ihrer Arbeitskraft nicht ausgenommen
werden. Da der Pensionsvorschuss auf 2 Monate beschraenkt wurde,
heisst dass, dass Menschen, bei denen die "Arbeitsfaehigkeit" noch
nicht festgestellt wurde oder aufgrund von Berufungen gegen vermutlich
rechtswidrige Urteile strittig ist, ebenso auf verfassungswidrige
Weise ihre Existenzgrundlage verlieren und ihnen de facto die
Moeglichkeit genommen wird, ihre Rechte wahrzunehmen.

Durch den Zwang, sich dem AMS mit seiner Zwangsvermittlung und seinen
Zwangskursen zu unterwerfen, kann die Gesundheit und im schlimmsten
Falle das Leben von (teil)Invaliden Menschen gefaehrdet werden.
Schaeden, die diese Menschen womoeglich erleiden, kann niemand
rueckgaengig machen, wenn ihnen im Nachhinein doch die Invaliditaet
zugesprochen wird.

In Wien ist nicht einmal wie im Hartz-IV-Deutschland vorgesehen, das
physische Ueberleben der sanktionierten Menschen durch Sachleistungen
(Lebensmittelgutscheine) sicherzustellen.

In allen anderen Bundeslaendern ist kein genereller Auschluss von
Berufungen gegen Bescheide ueber die Mindestsicherung vorgesehen! In
Artikel 14 der "Vereinbarung zwischen dem Bund und den Laendern
gemaess Art. 15a B-VG ueber eine bundesweite Bedarfsorientierte
Mindestsicherung" ist zudem vorgesehen, dass eine Kuerzung der
Leistungen wegen mangelnden "Einsatzes der Arbeitskraft" nur nach
"schriftlicher Ermahnung" moeglich ist. Wien ist das einzige
Bundesland, das diese Regelung der Artikel 15a-Vereinbarung
missachtet!

In welche Richtung dieses neoliberale Aktivierungs- und
Arbeitszwangregime fuer Invalide fuehrt, zeigt recht drastisch
Grossbritannien, wo in entwuerdigenden Zwangsbegutachtungen bei der
privaten Firma ATOS 90% der Behinderten und Invaliden als "fit to
work" erklaert wurden. Bislang sind bereits ueber 10.000 Menschen
binnen 6 Monaten nach der Erklaerung als "fit to work" gestorben.
Nicht nur weil sie schon todkrank waren, sondern auch weil sie infolge
von Arbeitszwangsprogrammen gestorben sind oder durch den Druck in den
Selbstmord getrieben wurden.*

Sollte sich die Wiener Landesregierung nicht zur Achtung der
Menschenrechte durchringen koennen, fordern Aktive Arbeitslose
Oesterreich zumindest die Einhaltung rechtsstaatlicher
Mindeststandards:

* Recht auf Gesundheit achten - keine Zwangsrehabilitation!

* Unabhaengige und kritische Evaluierung der Praxis der Verhaengung
von Sanktionen und deren AuswirkungenMenschenrecht auf
Existenzsicherung achten: Keine Sanktionen unter das Existenzminimum!

* Keine Sanktionen ohne vorheriges Ermittlungsverfahren mit
Parteiengehoer!

* Generell aufschiebende Wirkung von Berufungen gegen Sanktionen!

* Unabhaengige Rechtsberatung und Vertretung durch eine Arbeitslosen-
und Sozialanwaltschaft! (wie im rot-gruenen Koalitionsabkommen
angedacht!)

Wir bitten Sie daher uns mitzuteilen, welche Schritte unternehmen
werden, damit bei der Wiener Mindestsicherung Arme und Invalide
endlich in ihren Menschenrechten geachtet werden.

Weiter bitten wir Sie uns mitzuteilen, wann die Novelle zur Wiener
Mindestsicherung im Wiener Landtag behandelt wird.

*Martin Mair, Obmann "Aktive Arbeitslose Oesterreich"* (gekuerzt)

*

*Siehe: London Remembers over 10,000 dead after Atos Work Capablity
Tests:
http://www.demotix.com/news/2816810/london-remembers-over-10000-dead-after-atos-work-capablity-tests

Weitere Info:
Stellungnahme zur Novelle des Wiener Mindestsicherungsgesetzes
http://www.aktive-arbeitslose.at/news/20131029_stellungnahme_novelle_wiener_mindestsicherungsgesetz.html

Kontakt: Aktive Arbeitslose Oesterreich, Krottenbachstrasse 40/9/6,
A-1190 WIEN, +43-676-35 48 310,
http://www.aktive-arbeitslose.at, kontakt{AT}aktive-arbeitslose.at



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