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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 11. September 2013; 01:08
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Wahl / Debatte:

> "SCHEISS auf die WAHLEN"?

Sinn und Unsinn einer anarchistischen Intervention. Ein Kommentar

Zahlreiche Grazer Wahlplakate wurden von einem A4-Blatt aus der
anarchistischen Szene beklebt, das die Ueberschrift "SCHEISS auf die
WAHLEN" traegt. Darunter stehen ein erklaerender Text und eine
bildliche Darstellung, auf der ein Wahlzettel droht mit einem
Feuerzeug angezuendet zu werden. Im Text heisst es: "Am 29.September
sollen wir wieder einmal entscheiden, wer die naechsten 5 Jahre ueber
uns herrscht. (.) Obwohl uns bei allen Parteien das Kotzen kommt.
Obwohl uns bei der bestehenden sozialen Ordnung das Kotzen kommt. Wir
sollen abstimmen und damit zu KomplizInnen unserer eigenen
Knechtschaft werden". Die Beteiligung an der Nationalratswahl wird mit
folgender Argumentation abgelehnt: "Die demokratisch verwaltete
Gesellschaft haelt alle an der Leine - einzig die Leine ist
verschieden. Wir kaempfen nicht fuer: eine laengere Leine, hoeheren
Lohn, mehr Staat, weniger Polizei, ehrlichere PolitikerInnen. Wir
kaempfen auch nicht fuer mehr Demokratie. Wir wollen schlicht die
Leine durchtrennen und die Welt der Ausbeutung und Autoritaet
zerstoeren, um in Freiheit miteinander, ohne Herrschaft, also in
Anarchie leben zu koennen. Deshalb waehlen wir nicht an der Urne, wir
waehlen den Kampf fuer ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit."

Daraus stellt sich fuer die AnarchistInnen die Frage: Wie lange wollen
wir noch warten? "Revolten und Angriffe gegen die bestehende Ordnung
koennen sich zu kollektiven Unruhen und Aufstaenden ausweiten. Ob
kuerzlich in der Tuerkei oder in Brasilien; waehrend der Aufstaende
beginnen sich Menschen selbst zu organisieren - ohne Staaten, Parteien
oder Bosse. In KomplizInnenschaft mit der Freiheit, ohne Anfuehrer,
ohne demokratische Verwaltung und ohne Forderungen an die bestehende
soziale Ordnung. In diesen befreienden Taten gegen die alltaegliche
Unterdrueckung wird die demokratische Betaeubung zerstoert und die
Saat fuer eine neue Welt gelegt!"

Konkrete Ist-Situation als Ausgangspunkt

Die AnarchistInnen setzen hier keine konkreten Menschen in konkreten
Lebensrealitaeten und mit konkreten Veraenderungsperspektiven voraus,
sondern ein abstraktes, beherrschtes Individuum, das nicht in
sozialmoralische Bindungen und Milieus eingebettet ist. Damit
Aufstaende und Revolten moeglich werden koennen, braucht es als
Voraussetzung allerdings bereits organisierte Lebenszusammenhaenge.
Die Prekarisierungspolitik der Herrschenden zielt laengerfristig
darauf ab, bei einem Maximum an Verunsicherung und einem Minimum an
Absicherung die Schwelle so weit zu erhoehen dass diese massenhaften
Aufstaende und Rebellionen gerade noch nicht ausbrechen. Diese
Gouvernementalitaet der Prekaritaet ist ein effizientes
Herrschaftsinstrument; allerdings kann sie niemals verhindern, dass es
nicht doch anders kommt als gedacht. Eine realistische Einschaetzung
der gegenwaertigen Kraefteverhaeltnisse in Oesterreich muss allerdings
zu dem Schluss kommen, dass Revolten nicht auf der Agenda stehen; zu
stark wirken jahrzehntelang eingetrichterte neoliberale Versprechen,
Illusionen und Ideologien noch bei denen einen, zu stark
desillusioniert, vereinzelt und veraengstigt sind die anderen, um sich
zu organisieren und Widerstand zu leisten. Dennoch fuehrt nichts daran
vorbei, Wege zu suchen, wie konkreter Widerstand in allen
Lebensbereichen - und eben auf der Ebene staatlicher Politik -
kollektiv organisiert werden kann.

Postdemokratie, Staat und prekaere Linke

Die Ebene des Staates, der Politik, ist in buergerlichen
Gesellschaften immer noch die Ebene, auf der politische
Aushandlungsprozesse gemacht werden und in der sich tektonische
Verschiebungen der sozialen Verhaeltnisse niederschlagen. Linke
Politik, auch radikale linke Politik, die sich gegen die bestehenden
Verhaeltnisse richtet, tut gut daran, diese Ebene nicht einfach als
blossen Schaukampf abzuschreiben, auch wenn "konkurrierende Teams
professioneller PR-Experten die oeffentliche Debatte waehrend der
Wahlkaempfe kontrollieren, sodass sie zu einem reinen Spektakel
verkommt, bei dem man nur ueber eine Reihe von Problemen diskutiert,
die die Experten zuvor ausgewaehlt haben" (Colin Crouch) In
Oesterreich liegt es im Gegensatz zu unserem deutschen Nachbarland
noch naeher, die Politik aufgrund des Fehlens einer bedeutsamen, den
medialen und politischen Diskurs beeinflussenden linken Partei zu
ignorieren. Im Parlament regiert der neoliberale Einheitsbrei. Die
KPOe, die zwar bei der bevorstehenden Nationalratswahl die einzige
bundesweit antretende linke und daher zur Wahl sich anbietende Partei
ist, erreicht seit Jahrzehnten kaum mehr als 1% bei Nationalratswahlen
und wird offenbar von der der Mehrheit der Bevoelkerung auf
Bundesebene nicht als ehrwuerdige, waehlbare oppositionelle Partei
wahrgenommen, sondern eher als Relikt vergangener Zeiten, zudem von
den meisten Massenmedien bewusst verschwiegen. Auch wenn in absehbarer
Zeit dieser Missstand nicht behoben wird und es nicht danach aussieht,
dass es zu einer bedeutsamen Neugruendung einer linken Alternative
kommt, bedeutet dies nicht, dass Staat und Politik einfach als Teil
des falschen Ganzen abgetan werden sollten.

Von revolutionaerer Realpolitik zum herrschaftsfreien Gemeinwesen

Die AnarchistInnen haben eine Vorstellung von Staat, dem man einfach
durch die Gruendung eines neuen - anarchistischen - Gemeinwesens
entkommen koennte. Man muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Der
Staat muss von dem, was er ist - gewaltfoermiger Waechter der
bestehenden Klassengesellschaft und gleichzeitig Austragungsort der
evozierten sozialen Widersprueche und Konflikte - in ein echtes
Gemeinwesen ueber- und somit in die Gesellschaft rueckgefuehrt werden.
In diesem Prozess wird tatsaechlich die Gesellschaft in
Selbstverwaltung durch freie Menschen in Verhaeltnissen
vergesellschaftlichter Produktion und Reproduktion transformiert.
Damit Selbstverwaltung nicht in solidarischer Elendsverwaltung wie
aktuell in Griechenland und Verfuegung ueber beschraenktes Eigentum
endet, muessen allerdings die Kaempfe auch um die Rechtsform des
Eigentums ueber den Staat gefuehrt werden. Dabei geht es nicht um eine
Verteidigung des Staates oder staatlicher Herrschaft, sondern
letztlich um die Aufhebung der selbigen. Dies kann nicht oder
zumindest nicht nur ueber eine linke Regierung geschehen, sondern nur
ueber ausserparlamentarische Bewegungen. Die Wahlen zu
vernachlaessigen ist nicht nur ein Hohn fuer die Kaempfe der
Vergangenheit um Ausweitung der demokratischen Sphaere; Die
buergerliche Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern
historisch erkaempft worden. Das Ziel muss es sein, ueber sie
hinauszugehen und eine soziale Demokratie anzupeilen: das heisst, eine
Gesellschaft, in der die demokratische Mitbestimmung der Menschen
nicht auf eine bestimmte Sphaere beschraenkt bleibt, sondern rundum
verallgemeinert wird. Dass aber selbst die bestehende buergerliche
Demokratie in der Krise der Kapitalverwertung scheibchenweise entsorgt
und zu einem autoritaeren Austeritaetsregime umgebaut wird, sollte zu
denken geben. Weiters staerkt, wer die parteipolitische Ebene beiseite
liegen laesst, die rechten und protofaschistischen Kraefte.
*Tobias Brugger* (gek.)



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