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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 15. Mai 2012; 23:38
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EU/"Krise"/Widerstand/Glosse

> Gewalt als Mittel des Protests?

Die Zeiten werden haerter und mit ihnen die politischen
Auseinandersetzungen

Spaetestens seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr
2008 sehen wir uns mit gesellschaftlichen Veraenderungen konfrontiert,
die auch die Formen des politischen Protests beeinflussen. Wenn dieser
Tage von einer zunehmend radikalisierten Protestbewegung gesprochen
wird, hat man spontan Bilder brennender Autos in Berlin oder London
oder Ausschreitungen gewaltbereiter Demonstrant/innen in Griechenland
im Kopf. Der Kapitalismus hat seine haessliche Fratze einmal zu oft
gezeigt und erntet dafuer den Zorn immer breiterer
Gesellschaftsschichten. Die Leidensfaehigkeit des Menschen als
psychologisches Phaenomen ist fuer jene oft unverstaendlich, die eine
deutlich geringere Toleranzgrenze fuer Ungerechtigkeit und
systemisch-gesellschaftliche Irrwege haben - doch sie ist dabei, an
ihr Ende zu kommen. Das Diktat der Finanzwirtschaft, dem sich die
Politik unterworfen hat und dem wahnwitzige, kontraproduktive
Sparpolitiken gefolgt sind, wird von Demonstrant/innen und politischen
Aktivist/innen zu Recht als Hohn empfunden und traegt unmittelbar zu
ihrer Radikalisierung bei.

Bei der Anti-Kapitalismus-Demo in Frankfurt Ende Maerz wurden nach
Gewaltakten mehrere hundert Teilnehmer/innen festgenommen. Steine und
Farbbeutel wurden geworfen, Auslagen gingen zu Bruch, Polizist/innen
und Demonstrant/innen wurden verletzt. Innerhalb der parteipolitischen
Linken entbrannte daraufhin eine Diskussion darueber, wie mit diesen
Formen des radikalisierten Protests und der eigenen Positionierung
umzugehen sei. Die Polizei hat ihre Haltung dazu freilich nicht
diskutiert, sondern reagiert mit generellen Demonstrationsverboten im
Mai und begruendet diese mit den Ausschreitungen Ende Maerz.

Die Frage, wie mit dem Einsatz von Gewalt als Mittel des politischen
Protests umzugehen ist, erstreckt sich allerdings auch auf die
nicht-institutionalisierte Linke und wird spaetestens seit den 1960er
Jahren und dem "roten Jahrzehnt" kontrovers diskutiert. Ging es zu
Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder um die Frage "Revolution oder
Reform?" (vgl. hierzu auch Rosa Luxemburg), stellt sich die Frage nach
der Notwendigkeit einer "Revolution" im klassischen Sinne heute
offenbar nicht mehr. Zu antiquiert scheint vielen (jungen) Linken der
Begriff und die damit verbundenen Konnotationen, als dass ein
ernsthafter und breiter Diskurs darueber stattfinden koennte.

Im Fokus steht vielerorts die Forderung nach einer
(Re-)Demokratisierung der Gesellschaft und ihrer Institutionen als
Allheilmittel, um aktuelle Graeben zwischen Herrschenden und
Bevoelkerung zu ueberwinden und den totalen Zusammenbruch zu
verhindern. Politische Organisationen, lose Kollektive -- deren
(fehlender) politischer Anspruch an anderer Stelle zur Diskussion
gestellt werden muss --, und natuerlich die "Piraten" haben sich den
Kampf fuer mehr Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben und damit
durchaus ihre Berechtigung. Allerdings ist zu befuerchten, dass die
direkte Demokratie, wie sie dieser Tage flehentlich herbeigesehnt
wird, wieder nur zu einem politischen Instrument der Machthabenden
verkommt und als solches in ihrer urspruenglichen Konzeption
pervertiert wird.

Bei der Diskussion um die Legitimitaet von Gewalt als politischer
Protestform wird grundsaetzlich zwischen der Gewalt gegen Menschen und
der Gewalt gegen Sachen unterschieden. Waehrend sich die RAF Mitte des
20. Jahrhunderts durchaus beider Mittel bediente, haben sich die
Zeiten geaendert: Die meisten Koepfe sind heute austauschbar und haben
deutlich an individueller Symbolkraft eingebuesst. Wer heute in
RAF-Manier den/die Generaldirektor/in eines Unternehmens oder einer
Bank entfuehrt oder in Erwaegung zieht, ihn/sie umzubringen, wuerde
kaum mehr Effekt erzielen, als schluege er/sie der Hydra einen Kopf
ab, nur um sogleich einen neuen nachwachsen zu sehen. Zudem hat das
kapitalistische System spaetestens mit der oekonomischen
Globalisierung an Durchsichtigkeit verloren und ist in seiner Substanz
kaum noch greifbar. Globalisierte Unternehmen und das globalisierte
Finanzkapital sind zu koerper- und kopflosen Konstrukten mutiert, die
auch wegen ihrer undurchschaubaren Strukturen so maechtig und
gefaehrlich sind. Wer diesen Weg der Exekution waehlt, muesste sich
zudem immer auch der Frage stellen - und damit hatte bereits die RAF
zu kaempfen -, warum gerade er/sie darueber entscheiden soll, welche
Person symbolisch herausgegriffen wird, um an ihr ein Exempel zu
statuieren? Welche Befugnisse hat eine, diese Entscheidung treffende
Person bzw. Gruppe? Auf dieser Ebene wuerde er/sie die Idee einer
humanistischen, linken Gesellschaft bereits vor ihrer Realisierung
verraten und sich, sowie die eigenen Handlungen disqualifizieren.

Der Kapitalismus lebt - wie jede Ideologie - auch von der Kraft der
Symbole und von der Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird.
Zahlreiche, der Oberschicht angehoerende Mitglieder unserer
Konsumgesellschaft definieren sich selbst zunehmend (und in
beaengstigender Weise teilweise auch ausschliesslich) ueber materielle
Statussymbole, die anzugreifen ein Mittel der Systemkritik werden
duerfte. Es wird sich wohl eine neue Form des radikalen Widerstandes -
auch mit der Bereitschaft zur Gewalt gegen materielle Gueter und
Bilder - etablieren.
*Rosa Kaltmut*


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