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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 4. April 2012; 17:47
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Grossbritannien:

> Man muss sie gar nicht kaufen

Etwas Geld rueberschieben - und schon flutscht die Steuerkuerzung.
Doch so einfach, wie sich die britische Politik nach dem juengsten
Skandal darstellt, ist es nicht. Es ist viel simpler.
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So also funktioniert Politik. Kuerzlich bekam eine staunende
Oeffentlichkeit vorgefuehrt, wie in Downing Street 10, dem Amtssitz
des britischen Premierministers David Cameron, manche Dinge geregelt
werden: mit Geld. Eine Viertelmillion Pfund fuer die Parteikasse, und
schon leiht einem der Premier beim Dinner sein Ohr. Niedrigere
Spitzensteuersaetze? Kein Problem. Rentable Anlagemoeglichkeiten?
Organisieren wir. Eine Finanztransaktionssteuer? Kommt eh nicht
infrage. Neu ist das natuerlich nicht, schon gar nicht bei den Tories,
der Partei des Geldes. Neu ist lediglich, wie geschaeftstuechtig und
zielgerichtet der Tory-Vizeschatzmeister das Gemauschel organisiert
hat: zuerst Geld auf den Tisch, dann das Rendezvous.

Doch ganz so laeuft es dann doch nicht. Die wirklich Maechtigen etwa
in der City of London muessen nicht in die Tasche greifen, um Gehoer
zu finden. Ihre Interessen sind im Wesentlichen deckungsgleich mit
Camerons konservativ-liberalem Kabinett, das zu vier Fuenfteln aus
VermoegensmillionaerInnen besteht. Womit die Klassenfrage hinreichend
geklaert waere. Trotzdem werfen die Plaene, die in letzter Zeit
bekannt wurden, und der juengste Haushaltsentwurf ein paar Fragen
auf - zumal die Regierung dabei ist, Britannien bis fast zur
Unkenntlichkeit zu veraendern: Haben die Tories und mit ihnen die
LiberaldemokratInnen aus der Vergangenheit wirklich nichts gelernt?
Weshalb vertiefen sie die soziale Kluft in der ohnehin schon stark
gespaltenen Gesellschaft? Und warum setzen sie ihre Popularitaet aufs
Spiel?

Selbst Wirtschaftsblaetter wie die «Financial Times» sind ueber die
Rigorositaet verbluefft, mit der die Regierung ihre Projekte
durchzieht. Denn der geplante Haushalt fuer das Finanzjahr 2012/13
kennt nur eine Umverteilungsrichtung: Trotz hoher Staatsschulden,
rekordverdaechtiger Profitspannen und der Warnungen der OECD sinkt der
Spitzeneinkommenssteuersatz von 50 auf 45 Prozent; ausserdem fallen
die ohnehin schon geringen Unternehmenssteuern von derzeit 26 auf
demnaechst 22 Prozent. Dabei ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie seit
Anfang der neunziger Jahre nicht mehr - auch wegen der
Massenentlassungen im oeffentlichen Dienst.

Langfristig verheerender - weil kaum umkehrbar - sind freilich die
aggressiven Privatisierungsplaene. Diese seien angesichts der leeren
Staatskassen notwendig, argumentiert Schatzkanzler George Osborne. Und
so sollen neben hoheitlichen Polizeiaufgaben in naechster Zeit die
Strassen, das Breitbandnetz, die Post, noch mehr Gefaengnisse, die
elektronische Ueberwachung von StraftaeterInnen, Schulen,
Hochschuleinrichtungen, Notrufzentralen von Ambulanzen und Feuerwehren
in private Haende uebergehen. Rund 500 bisher staatliche Einrichtungen
stehen auf der Liste. Manche Staatsunternehmen wie Royal Mail werden
einfach verkauft; in anderen Faellen hingegen offeriert die Regierung
Privatunternehmen lukrative Dienstleistungen, die der Staat bezahlt.
Oeffentlich-private Partnerschaft (PPP) nennt sich das. Von den Tories
in den neunziger Jahren erfunden, wurde das PPP-Konzept von Tony
Blairs Labour-Partei weiterentwickelt. Gute Erfahrungen hat man damit
nicht gemacht: Die vom frueheren Labour-Premier Gordon Brown forcierte
Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn kollabierte schnell, per
PPP-Vertrag errichtete Krankenhaeuser wurden miserabel gebaut, die
Uebergabe eines Teilstuecks der Londoner Ringautobahn M25 an
Privatunternehmen kostete den Staat umgerechnet rund 1,2 Milliarden
Euro zusaetzlich. Die Steuerzahlenden muessen bei den durchweg
langfristigen PPP-Projekten neben Beraterhonoraren, Anwaltskosten und
Bankgebuehren ja auch noch fuer die Profite aufkommen.

Besonders gravierend ist die vorletzte Woche beschlossene generelle
Oeffnung des steuerfinanzierten National Health Service (NHS) fuer den
Markt. Privatunternehmen verdienen schon lange an Dienstleistungen
fuer das einst effiziente und kostenguenstige staatliche
Gesundheitswesen. Nun aber gibt es kein Halten mehr. Im Februar ging
das erste NHS-Krankenhaus an einen privaten Konzern; die anfallenden
Kosten traegt jedoch weiterhin der Staat.

Mit ihrem NHS-Umbau schreddert die Regierung ohne Not eine der
groessten Reformen der britischen Geschichte. Nach dem Zweiten
Weltkrieg lag die Staatsschuld Britanniens bei weit ueber hundert
Prozent des Bruttoinlandsprodukts (heute: 84 Prozent). Und trotzdem
fuehrte die damalige Labour-Regierung von Clement Attlee eine
kostenlose Gesundheitsfuersorge ein. Sie foerderte den sozialen
Wohnungsbau, staerkte die Rechte der Lohnabhaengigen, verstaatlichte
Eisenbahnen, Kohlezechen, Stahlwerke, Fluggesellschaften, Strom- und
Gasunternehmen und die Bank of England. Nach nur sechs Jahren
prosperierten Wirtschaft und Gesellschaft; der Lebensstandard der
Arbeiterklasse nahm jaehrlich um zehn Prozent zu.

Wie Attlee oder spaeter Margaret Thatcher und Blair bedient auch
Cameron Klasseninter­essen. Er steht unter dem Druck all jener
KapitalvertreterInnen, die haenderingend nach moeglichst rentablen
Anlagemoeglichkeiten fuer ihre riesigen Gewinne suchen - und offeriert
ihnen den Service public. Und da durch die Steuerkuerzungen noch mehr
Geld in Umlauf kommt, wird sich am Kurs dieser Regierung so schnell
nichts aendern.
(Pit Wuhrer in WOZ Nr. 13/2012 / bearb.)

Quelle: http://www.woz.ch/-2917



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