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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 13. Dezember 2011; 20:46
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Debatten:

> Die Diktatur des Unverstaendlichen

Wir muessen die Finanzmaerkte genausowenig verstehen wie
Atomkraftwerke

Sie reden immer gerne von Demokratie, die hohen Herren, wenn sie das
seltsame System meinen, mit dem wir regiert werden. Und sie wollen
immer das "Vertrauen der Waehler" gewinnen. Doch langsam, aber sicher
broeckelt die Fassade. Viel wichtiger ist jetzt das "Vertrauen der
Finanzmaerkte". In Italien und Griechenland wurden die an sich sowieso
seltsamen Regierungschefs, die alle Proteste aus der Bevoelkerung
ueberstanden hatten, gegen parteilose Technokraten ausgetauscht. Und
in Oesterreich laesst der Bundespraesident der Opposition ausrichten,
dass, wenn sie schon der "Schuldenbremse" in Verfassungsrang nicht
zustimmen wolle, doch bitte das Plenum verlassen sollte, damit doch
noch eine Zweidrittelmehrheit zustandekaeme -- ganz nach dem Motto:
"Kinder, gehts draussen spielen, damit die Erwachsenen in Ruhe
arbeiten koennen!"

Wo sind wir hingelangt? Wieso bleibt diese Praepotenz der Macht derart
unwidersprochen? Ist das eine rein medial konstruierte
Selbstverstaendlichkeit? Oder liegt es auch an einer gewissen
Ratlosigkeit der schweigenden Mehrheit? Denn es gibt zwar Proteste,
aber die ergreifen nicht wirklich die Massen. Die meisten Menschen
sind unzufrieden mit der Situation und den drohenden Einschnitten in
die sozialen Systeme. Aber zum einen fuehlen sie sich ohnmaechtig
gegenueber einer geschlossenen Regierungsmacht, zum anderen stehen sie
aber auch dem seltsamen System der Finanzmaerkte gegenueber, das sie
kaum verstehen koennen.

Es erinnert alles ein wenig an die grossen Debatten in den 70ern ueber
die Nutzung der Kernenergie. Irgendwie hat man schon mitbekommen, dass
diese Technologie nicht ganz ungefaehrlich ist. Aber da gab es doch
die Experten, die einem suggerierten, dass man, wenn man das Geschehen
in einem Atomkraftwerk so gut verstuende wie sie selbst, wohl erkennen
wuerde, wie toll und notwendig die Kernspaltung fuer die Zukunft sei.
Wenn man aber weiter so darauf beharre, dass man keine Atomenergie
wolle, dann gingen bald die Lichter aus und unsere schoene Welt, wie
wir sie kennen, gaebe es dann nicht mehr.

Ein aehnliches Gefuehl wird jetzt evoziert: Wird nicht
"schuldengebremst" und "eingespart" und "strukturreformiert", dann ist
die grosse Katastrophe nah. Will man aber als Nichtoekonom diese
Vorgaben kritisieren und versucht sich zu informieren, fuehlt man sich
sehr schnell ziemlich dumm und ungebildet. Denn um den Dschungel an
Finanzprodukten, die wechselseitigen Abhaengigkeiten von Banken,
Versicherungen, Pensionsfonds etc. und die Moeglichkeiten der EZB und
der nationalen Regierungen verstehen zu koennen, muss man
Wirtschaftswissenschaften studiert haben -- am besten gleich sowohl
Nationaloekonomie als auch Betriebswirtschaft. Ob dieser
Uninformiertheit waechst das Gefuehl der Ohnmacht noch weiter an. Es
koennte einen der Gedanke beschleichen: Vielleicht muss man ja doch in
den sauren Apfel beissen und all diese Massnahmen akzeptieren! Die
Experten, die das ja alles studiert und jahrelange Erfahrung haben,
sagen uns doch staendig, dass da kein Weg vorbeifuehre. Muessten die
es nicht besser wissen als unsereiner?

Natuerlich kochen diese Experten auch nur mit Wasser. Zum Teil sind
sie sicher auch betriebsblind. Auch haengen sie oft genug von ganz
anderen Interessen als dem Gemeinwohl ab. Die Einfuehrung des Euro war
ja auch nicht unbedingt eine oekonomische Notwendigkeit, ja nicht mal
im besonderen Interesse des Kapitals, sondern viel eher ein
politisches Projekt, um die europaeische Integration voranzutreiben.

Dennoch erscheint klar: Wenn sich nicht prinzipiell etwas aendert an
diesem System, muessen die Staatshaushalte auf Teufel komm raus
saniert werden -- aber ist das wirklich so? Und geht das nur durch das
beruechtigte "Sparen"? Ueberhaupt: Warum soll sich eigentlich nichts
prinzipiell aendern?

Dabei geht es gar nicht um die Frage, dass jetzt der Kommunismus
eingefuehrt werden soll. Argumentieren wir jetzt einmal ganz
konservativ: Koennte so eine potente Wirtschaftsmacht wie die EU nicht
Massnahmen ergreifen, die mit dem kapitalistischen System kompatibel
sind? Schliesslich sind die Staatsanleihen alle in Euro
zurueckzuzahlen. Das uebel beleumundete Gelddrucken kann ja wohl nicht
das Problem sein, schliesslich haben die EZB und die Notenbanken der
anderen fuehrenden Industriestaaten genau das Anfang Dezember
gemacht -- allerdings typischerweise nur, um Bankkredite zu
ermoeglichen und nicht, um die Regierungen zu entschulden. Kann es
sein, dass die Politik der Geldverknappung zur Inflationsverminderung
einfach ein Schwachsinn war?

Oder: Warum keine Eurobonds? Und zwar ausschliesslich! Die
institutionellen Anleger suchen verzweifelt nach akzeptablen
Anlagemoeglichkeiten. Wenn es in der Eurozone statt Staatsanleihen nur
mehr Euroanleihen gibt, werden sie sie zu geringen Verzinsungen kaufen
muessen, egal, was die Ratingagenturen sagen.

Und so weiter und so weiter und so weiter -- aber ich bin kein
Volkswirt, habe daher keine Ahnung von der Materie und spinne einfach
mal so rum. Momentan dilletieren da viele, warum also nicht auch ich?
Denn genau das ist der Punkt: Wir sehen uns einem hypertrophen
Finanzsystem gegenueber, dessen Komplexitaet nicht einmal die
sogenannten Experten immer hundertprozentig verstehen -- wie sollten
wir Normalverbraucher es dann? Und Lehrmeinungen sind in der
Volkswirtschaft sowieso eher theologischer Natur. Abgesehen davon:
Unsere unaussprechliche Finanzministerin ist auch nur studierte
Betriebswirtin und hat daher bei dieser Materie, wie so viele der
Verantwortlichen, auch kaum mehr Qualifikation als wir Untertanen.

Die Frage, die sich stellt, ist daher schon: Wie kann ein System, das
kaum jemand ungefaehr und niemand gaenzlich versteht, auch nur
ansatzweise einer demokratischen Kontrolle unterworfen werden? Es ist
schon klar, es besteht bei den hohen Herren ueberhaupt kein Interesse
an einer demokratischen Kontrolle, aber waere sie ueberhaupt auch nur
theoretisch moeglich? Wir sehen uns einem selbstlaufenden System
gegenueber, das seine eigenen Regeln hat. Und wir haben Regierungen,
die entweder als ahnungslose Getriebene agieren oder vielleicht die
Krise dieses Systems nur ausnutzen, um Dinge durchzusetzen, die sie
sowie schon immer vorhatten -- denn dass die Zurueckdraengung von
Sozialstaatsregelungen und leistbaren Bildungszugaengen im Interesse
des Kapitals sind, ist ja wohl auch klar. Eine Blackbox aber, in die
man alles hineinfantasieren kann, was man will, ist zur Machtausuebung
natuerlich ideal.

Aber wir muessen diese Blackbox gar nicht verstehen. Wenn ich mir --
wie oben versucht -- den Kopf zerbreche, was es fuer Alternativen
innerhalb des Systems gaebe, ist das voellig sinnlos. Schliesslich
sehen wir klar, dass in der EU enorme Reichtuemer vorhanden sind und
dass man uns wenig betuchten Untertanen noch weniger davon zukommen
lassen moechte als bisher. Das geht ganz problemlos in unsere kleinen,
ungebildeten Hirne. Wir sollten uns daher nicht mehr von irgendwelchen
Experten erklaeren lassen, dass "Sparmassnahmen" unbedingt noetig
seien. Vielleicht dienen diese Massnahmen deren Interessen, unseren
aber ganz bestimmt nicht.
*Bernhard Redl*

*

WWWebtip

> http://www.youtube.com/watch?v=ui2FaoG24no

Falls jemand doch zumindest den Derrivatenhandel verstehen moechte,
dann sei dieses YouTube-Video empfohlen. Anhand einer fiktiven
"Fuselanleihe" wird dieser dort recht anschaulich erklaert.



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