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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 20. September 2011; 22:15
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Sozial/Versicherung/Kommentar:

> Nicht die SVA, sondern niedrige Einkommen sind der Sargnagel

Stellungnahme des *Kulturrats Oesterreich* zur Debatte um die
Gewerblichen-Sozialversicherung


Wenn dieser Tage die oesterreichischen Systeme sozialer Absicherung
(fuer Selbststaendige) ihr Fett abbekommen, dann nicht zu Unrecht. Die
SVA (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft) steht als
Wegbereiterin der Schuldenfalle im Kreuzfeuer der Kritik. Rufe nach
einer Senkung der Versicherungsbeitraege werden laut und Betroffene
beginnen sich zu organisieren.

Doch welche Rolle spielt die SVA im Dschungel oesterreichischer
Sozialversicherungen? Banal gesprochen ist die SVA zustaendig fuer
Sozialversicherungen gemaess dem Gewerblichen
Sozialversicherungsgesetz (das laengst nicht nur fuer Selbststaendige
mit Gewerbeschein gilt), frei entscheiden ueber Versicherungsbeitraege
kann sie freilich nicht. Doch eines ist klar: Die sozialen
Sicherungssysteme hinken den veraenderten Erwerbsrealitaeten
hinterher. Unsichere Beschaeftigungsformen nehmen zu, ebenso die Zahl
der - nicht immer freiwillig - (Neuen) Selbststaendigen. (Freie)
Kunst-, Kultur- und Medienschaffende sind schon lange viel zitierte
Anschauungsbeispiele im vorherrschenden Prekarisierungsprozess. Seit
Jahren stagnierende oder gar sinkende Honorare, Versicherungsluecken
sowie Phasen der Erwerbslosigkeit ohne Auffangnetz stehen an der
Tagesordnung.

Sozialversicherungsbeitraege reduzieren?

Wenn bei leeren Kassen auch noch Beitragsvorschreibungen der SVA ins
Haus flattern, gehen die Wogen hoch. Wen wundert's? Zwar machen die
Sozialversicherungsbeitraege grundsaetzlich rund ein Viertel der
Einkuenfte aus, doch treffen sie Selbststaendige mit niedrigen
Einkommen ungleich haerter, denn weniger als der Mindestbeitrag von
derzeit 151,68 pro Monat fuer ausschliesslich Selbststaendige ist
nicht moeglich.

Andererseits gibt es einen Maximalbeitrag fuer Gutverdienende
(Einkommen ueber der Hoechstbeitragsgrundlage sind gaenzlich
sozialversicherungsfrei!). Prozentuell besteht bei der finanziellen
Belastung dadurch eindeutig eine Schieflage. Die nun auftauchenden
Rufe nach einer Senkung der Versicherungsbeitraege als Problemloesung
irritieren dennoch in ihrer Kurzsichtigkeit.

Der wenig ueberraschende Konter aus der SVA: Ueber eine Reduzierung
der KrankenversicherungsLEISTUNGEN fuer diejenigen, die weniger
einzahlen, werde schon jetzt nachgedacht!

Damit wuerde die Armutsspirale weitergetrieben: Wer wenig verdient und
krank wird, wird durch Zusatzausgaben noch aermer oder wird die
ausserhalb des Leistungspakets liegende medizinische Versorgung dann
eben nicht erhalten.

Klar, die Ausgabenseite zu reduzieren, ist ein naheliegender Gedanke,
auch fuer die Versicherten. Nur: Eine wirkliche Abhilfe kann die
Senkung der Sozialversicherungsbeitraege vor allem bei (laengeren)
Einkommensausfaellen sicher nicht schaffen. Hier liegt schliesslich
nicht der Grund der Misere.

Wie kurzsichtig eine solche Forderung ist, laesst sich anschaulich mit
einem aus der Bildungsprotestbewegung umgemuenzten Zitat beantworten:
"Bei der sozialen Absicherung zu sparen, ist so intelligent wie bei
Kaelte in die Hose zu pinkeln, damit es warm wird."

Eine gute soziale Absicherung fuer alle schaffen!

Existenzsicherung unabhaengig von Erwerbsarbeit ist eine langjaehrige
Forderung des Kulturrat Oesterreich. Die Mindestsicherung ist ein
Reinfall, fuer Selbststaendige de facto nicht zugaenglich. Auch die
seit 2009 moegliche freiwillige Arbeitslosenversicherung fuer
Selbststaendige ist ueberhaupt nur der Kritik wegen erwaehnenswert.
Ein absehbarer Flop, wie laengst auch die Zahlen bestaetigen: Zur
Jahresmitte 2011 waren es oesterreichweit gerade einmal 867 von rund
570.000 Selbststaendigen, die sich dafuer entschieden haben.

Wie sich KleinstverdienerInnen, die erwerbslose Phasen kaum aus
eigenen Mitteln finanziell ueberbruecken koennen und damit eine
wichtige Zielgruppe waeren, diesen "wichtigen Baustein zum Schutz der
selbststaendig Erwerbstaetigen" (Sozialminister Hundstorfer) leisten
koennen sollen, haben die GesetzgeberInnen offensichtlich zur Gaenze
ingnoriert. Zudem ist die Entscheidung fuer oder gegen die freiwillige
Arbeitslosenversicherung acht Jahre lang bindend - ein Zeitrahmen, der
ausserhalb jeder Planungsperspektive von Prekaeren liegt.

Auch die Definition von Arbeitslosigkeit ist fuer Selbststaendige
unbrauchbar: Wer weiterarbeiten will, gilt auch ohne Auftraege und
Einkommen nicht als arbeitslos.

Eine kleine Verbesserung gibt es immerhin in diesem Detail. Seit
1.1.2011 koennen nun auch Kunstschaffende - wie schon bisher alle
Gewerbetreibenden auch - ihre Taetigkeit ruhend melden, alle anderen
Neuen Selbststaendigen sowie Kunstschaffende, die nicht nur Kunst
machen, haben jedoch weiterhin das Nachsehen und bleiben damit
kategorisch von einem moeglichen Arbeitslosengeld ausgeschlossen.

Solidarisch statt arm!

Ganz klar gilt es zunaechst, offensichtliche Armutsfallen zu
schliessen: Abschaffung der Selbstbehalte in der Krankenversicherung
bei der SVA - zumindest aber Anhebung der Einkommensgrenze fuer eine
Befreiung von Selbstbehalt und Rezeptgebuehr bis zur
Armutsgefaehrdungsschwelle und hierfuer eine offensive Information an
die SVA-Versicherten. Kostenlose Bereitstellung von SteuerberaterInnen
im selben Einkommenssegment. Verzugszinsenfreie Stundung von kleineren
Beitragsrueckstaenden bis zur Besserung der Einkommenssituation.
Moeglichkeit des Ruhendmeldens fuer alle Neuen Selbststaendigen, um
somit ggf. Arbeitslosengeld beziehen zu koennen. Mit den
Erwerbsrealitaeten kompatibler Zugang zur Mindestsicherung auch fuer
Selbststaendige. Krankengeld auch im Rahmen einer
SVA-Pflichtversicherung. Und ganz im Sinne des Solidaritaetsprinzips:
Abschaffung der Hoechstbeitragsgrundlage.

Unerlaesslich ist selbstverstaendlich die Organisierung der
Betroffenen: Richtwerte fuer Mindestgagen und Honorare sind
beispielsweise hilfreiche Instrumente gegen Lohndumping durch
AuftraggeberInnen wie auch gegen Selbstprekarisierung durch
gegenseitiges Unterbieten.

Ebenso Fair-Pay-Kampagnen, die sich fuer die Verankerung von
Mindeststandards einsetzen. Problematisch ist hier einmal mehr die
freie Marktwirtschaft: Ohne Regelungsmechanismen ist dem
Einkommensdruck nach unten kaum eine Grenze zu setzen.

Das Gesamtziel ist klar: Angemessene Einkommen und eine soziale
Absicherung, die der prekaeren Arbeitssituation - nicht nur ! - von
Kunst-, Kultur- und Medienschaffenden Rechnung traegt. Das bedeutet:
Zugang zur Arbeitslosenversicherung, Entwicklung von Massnahmen zur
sozialen Absicherung im Krankheitsfall und umfassende
Versicherungsleistungen muessen auch fuer Selbststaendige moeglich
werden.

Darueber hinaus lautet die grundsaetzliche Forderung des Kulturrats
Oesterreich: Recht auf soziale Rechte fuer alle! Existenzsicherung
muss von Erwerbsarbeit entkoppelt werden - bedingungsloses
Grundeinkommen fuer alle! Jetzt! ###

Kontakt: http://kulturrat.at



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