**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 14. September 2011; 01:54
**********************************************************

Ägypten/Interview:

> "Es ist eine unterbrochene Revolution"

Hany Temraz ist Aktivist der trotzkistisch orientierten
Revolutionaeren Sozialisten und einer der Gruender der Demokratischen
Arbeiterpartei in Aegypten, einer der staerksten Gruppen der neuen
Linken, die sich im Zuge der Revolution dieses Jahres gebildet hatten.
*

Frage: Zunaechst wuerde ich gerne etwas ueber die Gruendung Eurer
Partei und den Entstehungskontext im Rahmen der Revolution erfahren.

Hany Temraz: Die Geschichte unserer Partei startet mit der Revolution
selbst. Vor der Revolution haben die meisten von uns im Untergrund
gearbeitet, ich zum Beispiel bei den Revolutionaeren Sozialisten. Wir
haben natuerlich obwohl wir verboten waren, politisch gearbeitet,
hatten unsere Zeitungen, Flugblaetter und Treffen. Unsere
Zeitschriften sind zum Beispiel vom Center for Social Studies in Giza
herausgegeben worden. Aber wir wurden politisch verfolgt, viele
Mitglieder wurden immer wieder festgenommen und gefoltert und wir
konnten nicht an der Oeffentlichkeit arbeiten.

Nach der Revolution haben sich einige von uns mit historischen
Fuehrungspersonen der Linken in Aegypten, wie zum Beispiel Kemal
Khalil, getroffen und vorgeschlagen eine gemeinsame Partei zu
gruenden. Was uns dabei von anderen linken Parteien unterscheiden
soll, ist die Verankerung in der Arbeiterbewegung. Es gibt hier in
Aegypten einige linke Parteien, aber die meisten dieser Parteien sind
nicht in den Gewerkschaften und in der Arbeiterklasse verankert. Wir
dachten, dass es eine Partei braucht die vor allem auf die Kaempfe der
Arbeiter fokussiert und eng mit den neuen unabhaengigen Gewerkschaften
zusammenarbeitet. Viele von uns kommen aus den Revolutionaeren
Sozialisten, aber wir haben auch viele Gewerkschaftsaktivisten, vor
allem von den Transport- und Textilarbeitern und eben einigen
historischen Fuehrern der aegyptischen Linken.

Wir haben jetzt zwar schon einige Parteikomitees gegruendet. Bis jetzt
hat unsere erste Parteikonferenz aber noch nicht stattgefunden und
deshalb gibt es auch noch keine gewaehlte Fuehrungsstruktur.


Frage: Seid Ihr schon als Partei registriert?

H.T.: Nein, seit der Revolution wurden aber auch nur ganz wenige neue
Parteien, wie zum Beispiel die Partei der Muslimbruderschaft,
offiziell registriert. Die meisten neuen Parteien haben noch keine
offizielle staatliche Anerkennung. Trotzdem arbeiten diese Parteien
jetzt oeffentlich und beteiligen sich an den politischen
Auseinandersetzungen.


Frage: Wie sieht es denn mit der Zusammenarbeit mit anderen
Linksparteien aus? Ich habe gelesen, dass es mit der Koalition der
Sozialistischen Kraefte nun ein Sammelbecken geben soll, in dem Ihr,
die Kommunistische Partei, die Sozialistische Allianzpartei und die
Sozialistische Partei zusammenarbeiten.

Das ist leider ein ziemliches Problem. Die Zusammenarbeit zwischen
verschiedenen Teilen der Linken entwickelt sich nicht so gut, wie wir
uns das wuenschen wuerden. Fuer uns ist zum Beispiel die
Zusammenarbeit mit Stalinisten eine Rote Linie ueber die wir nicht
gehen koennen. Eine Reihe dieser Parteien sind aber immer noch
stalinistisch und hassen Trotzkisten. Es gab den Vorschlag einer
solchen Koalition, allerdings war dieser nicht umsetzbar. Mit einigen
Linken gibt es eine bessere Zusammenarbeit, mit anderen weniger. In
der Sozialistischen Allianzpartei sind zum Beispiel auch einige
Trotzkisten aktiv, die frueher bei den Revolutionaeren Sozialisten
dabei waren und die sich dann abgespalten haben. Teile der
aegyptischen Linken haben aber ein voellig falsches Bild des
Trotzkismus und glauben wir waeren Chaoten, die alle 20 Minuten eine
Revolution machen und alles zerstoeren wollen. Mit diesen
Ressentiments gegen uns gibt es wird eine Zusammenarbeit dann
schwierig. In der derzeitigen Situation ist es schwer zu sagen wie
sich das weiter entwickelt. Ich persoenlich hoffe aber, dass wir zu
einer groesseren gemeinsamen Plattform zusammenfinden.


Frage: Derzeit gibt es also keine institutionalisierte Zusammenarbeit?

H.T.: Es gibt eine Saekulare Allianz einiger Linker mit Liberalen in
der aber auch Vertreter des alten Regimes sind. Wir lehnen diese
Zusammenarbeit ab. Es war ein historischer Fehler mancher Linker sich
mit dem Regime gegen die Islamisten zusammenzutun und damit das Regime
zu staerken. Die Tagammu (1) hat diesen historischen Fehler gemacht
und damit die Kritik am Regime einzustellen. Wir wollen diesen Fehler
nicht wiederholen.


Frage: An Euch gerichtet habe ich hingegen schon den Vorwurf gehoert,
dass Ihr wiederum mit den Muslimbruedern zusammengearbeitet habt und
kein Problem damit hattet mit Islamisten gegen das Regime zu arbeiten.

H.T.: Das stimmt nicht. Wir lehnen die Islamisten ab. Wir wollen aber
fuer Bildung unter den Arbeitern sorgen, denn denkende Arbeiter werden
keine Islamisten. Unser Kampf gegen die Islamisten ist deshalb einer
der ueberzeugen will und nicht unterdruecken.


Frage: Kommen wir zurueck zu den Ereignissen vom Jaenner und Februar.
Was war das? Eine Revolution, ein Putsch oder sonst etwas?

H.T.: Das ist eine schwierige Frage. Aber man kann das eigentlich nur
als Revolution betrachten. Wie sonst soll man zu einer Bewegung von 10
oder 12 Millionen Menschen sagen, die auf die Strasse gehen um Mubarak
zu stuerzen und damit Erfolg haben? Aber es ist eine unterbrochene
Revolution. Wir sehen, dass das alte Regime immer noch die
wesentlichen Institutionen kontrolliert und nicht verschwunden ist.


Frage: Es gibt ja auch neue politische Gefangene, die vom
Militaerregime festgenommen wurden.

H.T.: Ja, aber die aegyptische politische Landschaft hat sich
veraendert. Wir haben schrittweise Erfolge. Die Revolution ist noch
nicht zu Ende. Wir erreichen eben ein Ziel nach dem Anderen. Wenn wir
uns zurueckerinnern: Am Anfang ging Mubarak einfach nur nach Sharm
al-Sheikh und wurde dort in Ruhe gelassen. Wir haben dann seine
Festnahme und den Prozess gegen ihn erzwungen. Eine fortgesetzte
Revolution ist eine siegreiche Revolution.


Frage: Was heute am Midan Tahrir geschieht, dass die Leute wieder
zurueckkommen und demonstrieren, ist also eine Fortsetzung der
Revolution?

H.T.: Ja, wir haben die ersten beiden Schritte getan, aber wir muessen
jetzt den dritten, vierten und fuenften setzen um eine wirkliche
Demokratie zu erreichen. Wir werden weitermachen bis alle unsere
Forderungen erreicht sind.

Meine Angst ist ja, dass das Regime Mubarak geopfert hat um an der
Macht zu bleiben. Vielleicht haengen sie ihn sogar auf um das Volk
zufriedenzustellen und dann koennen sie weitermachen wie bisher. Und
auch wenn man mit Leuten auf der Strasse spricht sagen viele, dass sie
genug von der Unsicherheit haben und einen starken Mann an der Spitze
sehen wollen. Ich habe in Kairo oft gehoert, dass Aegypten einen
Pharao braucht, aber eben einen besseren als Mubarak. Vielleicht geht
diese Rechnung des Regimes also sogar auf. Was wollt Ihr dagegen
machen? Koennt Ihr die Leute noch erreichen, nachdem das Feindbild
Mubarak weg ist?

H.T.: Der Militaerrat und Mubarak sind zwei Seiten derselben Medaille.
Man kann diese beiden nicht voneinander trennen. Das ist richtig, dass
der Militaerrat Mubarak einfach nur geopfert hat. Wir sind uns sicher,
dass es einen Deal gab, der Mubarak ermoeglichen haette sollen mit
entsprechend viel Geld auszureisen. Wir haben aber erzwungen, dass das
so nicht umsetzbar war.

Unser Problem war ja kein persoenliches Problem mit Hosni Mubarak.
Mubarak war nur die Spitze der Pyramide und diese Pyramide ist riesig
und alle anderen sind da noch in Amt und Wuerden. Deshalb
unterscheiden wir nicht zwischen dem Militaerrat und Mubarak. Deshalb
fuehren wir denselben Kampf weiter.

Das Problem ist, dass wir keine gemeinsame Vision fuer die Zukunft
Aegyptens haben. Natuerlich haben wir unsere Vorstellungen, aber die
unterscheiden sich massiv von denen aller anderen. Wir und die
Muslimbrueder, die Salafiten, die Liberalen, jeder hat seine eigenen
Vorstellungen und bis jetzt haben wir alle immer nur auf die
Entscheidungen des Militaerrats reagiert und nicht agiert.

Wir sind aber ueberzeugt, dass gerade die Gewerkschaften hier eine
sehr wichtige Waffe darstellen. Der Militaerrat weiss ueber die Macht
der Gewerkschaften. Gerade gestern hat es Verhandlungen der
streikenden Arbeiter in Mehalle al-Kubra gegeben und da wurde den
Arbeitern eine Lohnerhoehung von 200% versprochen. So etwas waere
unter normalen Umstaenden unvorstellbar. Das zeigt, dass sich der
Militaerrat von der Arbeiterbewegung fuerchtet und wir auch weitere
Veraenderungen erzwingen koennen.


Frage: Glaubt ihr, dass Ihr damit auch demokratische Wahlen erzwingen
koennt?

H.T.: Ja, die Wahlen werden demokratisch sein. Nicht wegen des
Regimes, sondern wegen der Menschen. In Aegypten gibt es nun 80
Millionen Aktivisten. Jeder redet ueber Politik. Deshalb werden es
demokratische Wahlen sein.


Frage: Ich habe aber von vielen Seiten Kritik am Wahlgesetz gehoert,
das Kandidaten des alten Regimes und der Muslimbrueder bevorzugen
wuerde.

H.T.: Ja, das stimmt, aber auch hier hat das Regime auf unsere Kritik
reagieren muessen. Jetzt gilt das nur noch als Vorschlag. Das zeigt,
dass wir hier noch Veraenderungen erzwingen koennen.


Frage: Kommen wir nun zu einigen heikleren Punkten. Die aegyptische
Gesellschaft ist sehr konservativ und gerade fuer junge Menschen, die
in der Revolution entscheidend waren, spielen auch Fragen der
sexuellen Selbstbestimmung oder der Freiheit fuer Homosexuelle eine
wichtige Rolle. Ist es moeglich solche Fragen innerhalb der neuen
Linken Aegyptens zu diskutieren?

H.T.: Nein, dafuer ist die aegyptische Gesellschaft leider zu
konservativ. Diese Themen koennen wir derzeit ueberhaupt nicht
ansprechen. Das Regime behauptet ohnehin immer, dass wir unmoralisch
waeren und wenn wir das nun thematisieren wuerden, dann wuerden wir
ihnen da nur Recht geben. Man kann Jahrtausende der Erziehung nicht so
einfach ueberwinden. Themen der Sexualitaet oder der Religion sind
hier leider immer noch nicht offen diskutierbar.


Frage: Genauso heikel ist die Frage des Verhaeltnisses zu Israel. Auch
in der aegyptischen Linken gibt es einen weit verbreiteten Hass auf
Israel. Wenn ich mir einige antiisraelische Karikaturen in Euren
Publikationen ansehe, dann waere das in linken Publikationen im
deutschsprachigen Raum kaum vorstellbar. Da werden auch klassisch
antisemitische Motive verwendet.

H.T.: Antisemitisch koennen wir nicht sein, weil wir selbst Semiten
sind.


Frage: Das ist jetzt aber Rassenlehre des 19. Jahrhunderts. Es gibt
keine Semiten, nur semitische Sprachen. Es gibt in Aegypten einen Hass
gegen Israel, der sich nicht nur gegen den Staat, sondern oft auch
gegen Juden richtet.

H.T.: Ja, es stimmt, dass Israel unser Erzfeind ist. Nach all den
Kriegen mit Israel ist das aber kein Wunder. Und wir bekommen diesen
Hass gegen Israel schon mit der Muttermilch mit. Wir lernen vom
Kindergarten ueber die Schule bis zu den Medien, dass Israel unser
Feind ist. Und Israel benimmt sich auch so, dass dieser Hass immer
wieder bestaetigt wird. Das wird sich so schnell nicht aendern. Ich
selbst bin fuer die Koexistenz eines unabhaengigen
Palaestinenserstaates neben einem unabhaengigen Israel. Aber ich muss
dazu sagen, dass das nicht die Haltung von allen in unserer Partei
ist. Ich habe auf einem Treffen unserer Partei gesagt, dass Israel ein
normaler Feind Aegyptens ist und es besser waere wir wuerden Israel
nicht staendig attackieren, sondern uns selbst entwickeln und Aegypten
aufzubauen, damit wir nicht staendig die Unterlegenen in diesem
Konflikt sind. Diese Rede hat bei uns aber vielen nicht gefallen und
ich wurde dafuer auch scharf kritisiert. Bei uns gibt es auch Leute,
die diesbezueglich eher Nazis als Linke sind.

Aber es gibt natuerlich gleichzeitig auch eine gewisse Bewunderung von
Israel als einzige Demokratie in der Region, als wirtschaftlich
entwickeltes und modernes Land. Ich persoenlich bin der Meinung, dass
es besser ist, wenn wir ein demokratisches und starkes Aegypten
aufbauen als nur Israel bekaempfen, damit mit unserem Feind endlich
auf einer Ebene verhandeln koennen.

Frage: Dass man jetzt auf die israelische Botschaft losgeht, ist doch
wieder nur eine Fortsetzung der Politik die Wut ueber die eigenen
Regime auf Israel umzulenken. Damit wird doch auch der
Demokratiebewegung schweren Schaden zugefuegt.

H.T.: Ich halte es fuer falsch die israelische Botschaft anzugreifen.
Voelkerrechtlich ist das ja sogar israelisches Territorium und auch
wir haben mit unserer Botschaft ein Stueck aegyptisches Territorium in
Israel und wuerden uns dagegen wehren, wenn dieses angegriffen werden
wuerde. Die Israelis werden das als Aggression werten. Viele glauben
hier, dass die Leute ein Recht haetten ihre Wut auszudruecken. Das
stimmt schon, aber sie haben das Recht das so auszuruecken, wie wir
das in friedlichen Demonstrationen auf dem Midan Tahrir getan haben.
Warum muss man deshalb gleich alles zerstoeren und damit dem Image
Aegyptens und der Demokratiebewegung solchen Schaden zufuegen?

Das Interview fuehrte in Kairo *Thomas Schmidinger*.


(1) Legale Linkspartei waehrend des Sadat- und Mubarak-Regimes, in der
MarxistInnen, SozialdemokratInnen und NasseristInnen organisiert
waren.

(2) Textilarbeiterstadt im Nildelta, in der schon 2006 und 2008 grosse
Streikbewegungen stattfanden



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero@gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.redaktion@gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin