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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 31. August 2011; 00:04
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Geschichte/Initiativen/Kommentar/Termin:

> 100 Jahre Wiener Teuerungsrevolte

Am Samstag den 17.September soll dazu am Yppenplatz ein Gedenkfest
gefeiert werden.

Vor hundert Jahren, am 17. September 1911, trieben Truppen von Polizei
und Militaer eine Menschenmenge vom Ring Richtung Ottakring. Dort, und
an ein paar anderen Orten der Stadt, begann eine Revolte, wie sie Wien
vorher wie nachher kaum gesehen hat. Zuvor hatte sich eine
Menschenmenge von rund 100.000 vor dem Rathaus und am angrenzenden
Ring versammelt, um gegen die zuvor seit Monaten anhaltende enorme
Teuerung von Nahrungsmitteln und Wohnraum zu protestieren. Irgendwann,
nachdem von sozialdemokratischer Seite Reden gehalten wurden,
verbreitete sich ein Geruecht, dass vom Palais Epstein her ein Schuss
gefallen sei. Es flogen Steine gegen Rathaus und Palais, die Menschen
wurden Richtung Neubau und Mariahilf abgedraengt.

Ein Teil sammelte sich in Ottakring, errichtete dort
Strassenbarrikaden gegen die bewaffneten Kraefte des Staates.
Amtsgebaeude wurden verwuestet, in grosser Zahl Akten vernichtet, die
Leute holten sich in Pluenderungen, was sie sich sonst nicht leisten
konnten, Schueler_innen zerissen ihre Schulbuecher und warfen sie auf
die Strasse. Teile Ottakrings wurden ueber viele Stunden gegen die
Angriffe von Polizei und Militaer verteidigt. Es soll Tage gedauert
haben, bis wieder vollstaendig "Ordnung hergestellt" war. Die blutige
Bilanz: Mindestens 149 Verletzte, vier Tote durch Schuesse bzw. einen
Bajonettstich auf der Strasse, ein weiterer in Untersuchungshaft, und
nach einem mutmasslichen Attentatsversuch im Reichsrat waehrend dem
Tagesordnungspunkt "Teuerungsrevolte" ein weiterer Toter in einem
Knast ein paar Jahre danach.

Dass wir jetzt, hundert Jahre spaeter diesen Tag in Erinnerung rufen
wollen, hat nichts mit Revolutionsromantik zu tun. Es geht auch nicht
um eine Verherrlichung der damals entstandenen "Schaeden" oder der
ausgeuebten Gewalt, oder darum, die Toten von damals als Held_innen zu
feiern. Das Ziel ist eher, dieses Stueckchen Geschichte aus der
Versenkung zu holen, im Kontext seiner Zeit zu diskutieren, aber auch
einen Bezug zu heute herzustellen.

Wenn wir im Sommer 2011 ueber den 17.9.1911 in Wien nachdenken, dauert
es nicht lange, bis die "Krawalle" in London und anderen britischen
Staedten in den Sinn kommen. Damals in Wien wie heute in London war
das Handeln der Menschen nicht unpolitisch, sondern der unter den
jeweiligen Umstaenden vielleicht naheliegendste Weg, sich direkt zur
Wehr zu setzen gegen ein System, dass fuer viele einfach nur
Ausbeutung und Ausgrenzung bedeutet. Wer innerhalb eines
Ausnahmezustands unbezahlt einen Flachbildfernseher aus einem
Elektromarkt traegt, setzt sich damit sehr direkt ueber die Diktate
der Waren- und Eigentumswelt hinweg, und handelt damit durchaus aus
einer Art "Klassenstandpunkt". Genauso waren die Verwuestungen von
Wien 1911 ein teilweise relativ klar gegen die Verwaltung gerichteter
Akt, weil die Mitschuld an der Misere richtigerweise nicht nur
irgendwelchen Chefs oder Banken gegeben wurde, sondern auch den vor
allem in deren Sinne agierenden staatlichen Einrichtungen.

Ein kleiner Vorstadt-Aufstand macht noch keine Revolution, und wenn am
Ende nicht der Sozialismus, oder heute vielleicht "echte Demokratie"
in Aussicht steht, dann versuchen fortschrittlich-Liberale und Linke
damals wie heute, sich von allem zu distanzieren, dass auch sie
niemals kontrollieren koennten. "Konsumorientiert" seien die Unruhen
in London gewesen, weil sie sich Waren unrechtmaessig angeeignet
haben. "Lumpenproletariat" nannte der Sozialdemokrat Otto Bauer damals
in Wien die Menschen, die eine Gelegenheit beim Schopfe packten und
pluenderten, was sie brauchen oder verkaufen konnten.

Am naechsten Tag rief die Sozialdemokratie die Menschen wieder an die
Arbeit, um nicht in einem moeglicherweise ausbrechenden Streik die
Kontrolle ueber die Geschehnisse komplett zu verlieren, und lieber
wieder im Parlament weiter zu reden, aus gemuetlicher Entfernung zum
Poebel. Einerseits wurde die Revolte spaeter als politisches Pfand
eingesetzt, um die eigene politische Linie zu bestaerken, andererseits
wurde veraechtlich herabgeschaut.

Statt dieser buergerlich gepraegten Distanz sollte eher hervorgehoben
werden, unter welchen Verhaeltnissen solche Zustaende entstehen. Die
Gewalt geht naemlich immer schon vorher von der anderen Seite aus. Die
ganze Gesellschaft, wenn auch damals offensichtlicher als heute,
beruht auf Gewaltausuebung durch den Staat im Interesse der
Eigentumssicherung, die letzten Endes vor allem im Interesse derer
ist, die unglaublich viel haben im Vergleich zur breiten Masse der
Menschen. Zu Tage bricht die Gewalt spaetestens dann, wenn sich
Menschen ueber diese Ordnung hinwegsetzen, und der Staat
zurueckschlaegt.

Auch heute ist die soziale Lage prekaer, auch heute gibt es viele, die
nicht einmal an der faden Warenwelt wirklich teilhaben koennen, auch
wenn sie bezahlte Arbeit haben. Auch heute steigen die Preise von
Lebensmitteln und Mieten betraechtlich, wenn auch etwas weniger
schlagartig als damals.

Hoffentlich finden wir auch andere Wege, dem zu begegnen, unserer Wut
und unserem Aenderungswillen Ausdruck zu verleihen, als spontane
Revolten, die meist schnell niedergeschlagen werden und grosse
Repression zur Folge haben. Aber sie zu verteufeln, waere eine
Verweigerung der Realitaet, die eben im jeweiligen historischen Moment
diese spezifische Ausdrucksform der gesellschaftlichen Widersprueche
gefunden hat.

Vielmehr muessen wir uns fragen, was die Gruende sind, wenn der
Gedanke des Aufstands nicht ueber die paar Tage und Naechte hinaus
wirken kann. Welche andere Formen gibt es, aufstaendisch zu sein, sich
in Bewegung zu setzen und die bestehende ungerechte und brutale
Ordnung zu unterwandern und zu zersetzen? Was muessen wir aufbauen, um
nicht wenn die Supermarktregale leer gepluendert sind wieder den alten
"Normalzustand" herstellen zu muessen, damit wir etwas zum Essen
haben? Was koennen wir gegen die Vereinzelung tun, die der Grund
dafuer ist, dass wir im taeglichen Leben in diesem System nie den
selben Grad an spontaner Solidaritaet unter "Fremden" aufbauen
koennen, wie es ihn waehrend einer aufstaendischen Situation zwischen
den Menschen auf der selben Seite der Barrikaden gibt? Wie kommen wir
an den Punkt, an dem ein Teil der Soldat_innen und Polizist_innen ihre
Uniform ablegen, und auf diese Seite der Barrikaden gehen, weil ein
grosser Teil ihrer Familie und Freund_innen eh schon da sind?

Der technische Fortschritt der Aufstandsbekaempfung ist hinter den
Kulissen schon laengst noch weiter, als das was wir taeglich von
Strassen irgendwo auf der Welt sehen koennen. Gegen Polizei und
Militaer auf deren Ebene, mit deren Mitteln einen "Sieg" zu erringen,
ist heute noch unrealistischer als damals.

Die Gesellschaftsordnung, die staatliche Gewalt ueberhaupt erst
notwendig macht, koennen wir aber aendern. Das wird nur moeglich sein,
wenn ihr von vielen Menschen die Legitimation abgesprochen wird. Wenn
wir gemeinsam diskutieren, was wir nicht wollen, und was wir statt
dessen wollen. Und dann damit anfangen. Wir werden sicher nicht den
Weg gehen, den die Sozialdemokratie 1911 gegangen ist, naemlich die
Legitimation der Herrschaft nicht in Zweifel zu ziehen, die angebliche
Kriminalitaet des Aufstands zu verurteilen, sie aber gleichzeitig als
Grund zu nehmen, wieder einmal soziale Reformen zu fordern.

Es ist eben dieser linke Reformismus, der zusammen mit dem Unwillen,
die hinter den angeprangerten Ungerechtigkeiten stehenden Strukturen
zu benennen, der revolutionaere Bewegungen immer wieder in eine
Sackgasse gefuehrt hat.

Genau so wie es keinen "gruenen" Kapitalismus geben kann wird es auch
keinen "sozialen" geben. Die Frage die wir uns stellen muessen ist
also, wie Revolution im 21. Jahrhundert gedacht werden kann. Ein
militaerischer Aufstand oder ein irgendwie gearteter Putsch, der dann
eine "revolutionaere Regierung" zur Folge haette, ist nicht nur
angesichts der hochgeruesteten Waffensysteme heutiger Polizei und
Armeen voellig illusorisch, auch hat uns die Geschichte gezeigt, dass
so nur wieder neue Unterdrueckungsmechanismen eingefuehrt werden.

Nur ein Entziehen der Zustimmung zu dieser Ordnung durch breite Teile
der Bevoelkerung und der gleichzeitige Aufbau von selbstorganisierten
Strukturen und einem solidarischen Miteinander scheint ein Weg zu
sein, wenn nicht nach einer Umwaelzung wieder Macht und Herrschaft in
neuem Gewand auftreten sollen.

Mit dem Fest am Yppenplatz soll ein Schritt gemacht werden, um
vielleicht in Ottakring und anderswo ein paar Dinge aus der Geschichte
zu lernen, vor allem aber von Mensch zu Mensch ein viel verzweigtes
soziales Wurzelwerk zu errichten und zu verdichten, im Graetzel rund
um den Platz, in Ottakring, in anderen Bezirken und in der ganzen
Stadt, mit Verbindungen zu Kommunen am Land, das uns hilft, unser
materielles, gesellschaftliches, kulturelles Leben nach und nach
unabhaengiger zu machen, damit wir nicht von Zugestaendnissen der
Herrschenden abhaengig bleiben, sondern diese irgendwann einmal
nachhaltig vom Sockel stossen koennen.

Alle sind aufgerufen, sich selbst einzubringen, Ideen beizusteuern,
"Programm" von Workshops ueber Theater und Musik bis zu bildender
Kunst zu organisieren, Infostaende mit emanzipatorischen Inhalten
aufzubauen, das Datum bekannt zu machen, eigene Aufrufe zu
veroeffentlichen, andere Veranstaltungen am selben Tag zu planen,
Nahrung, Getraenke, Spiele, Sitzmoeglichkeiten mitzubringen, bei der
Vokue mitzuhelfen, in der Geschichte des Widerstands zu wuehlen und
neue Erkenntnisse zu Tage zu foerdern, und ueberhaupt: die ganze Welt
Stueck fuer Stueck umzukrempeln.

Es wird, ziemlich sicher am Wochenende davor, noch ein
Vorbereitungstreffen geben, bei dem sich verschiedene Personen und
Gruppen, die an dem Fest mitwirken wollen, noch einmal koordienieren
koennen. Der Termin dafuer wird noch angekuendigt, ein Raum wird
gerade angefragt. Es ist aber sicher kein Fehler, wenn andere Leute
bereits vorher selbst Treffen organisieren und diese vielleicht auch
oeffentlich ankuendigen.

Das Fest wird am fruehen Nachmittag beginnen, die genau Uhrzeit ist
noch nicht festgelegt.
(gek.)

Quelle und weitere Infos: http://17september.noblogs.org/


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