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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 28. Juni 2011; 22:45
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Buecher:

> Die Lehren des Oktobers

Alexander Rabinowitch:
Die Sowjetmacht - Das erste Jahr
Mehring Verlag, Essen, 2010, 652 Seiten, EUR 35,90
ISBN: 978-3-88634-090-3

Das nun auf Deutsch vorliegende Buch von Alexander Rabinowitch ist das
richtige Buch zur richtigen Zeit. Heute, wo sich auch in Europa die
Dinge stark zuspitzen, am Horizont wieder die Moeglickeit
(vor)revolutionaerer Situationen auftaucht, ist es unerlaesslich, sich
erneut mit der Oktoberrevolution auseinanderzusetzen. Sie ist nach wie
vor ein extrem wichtiges "Laboratorium" fuer konsequent linke,
letztlich revolutionaere Politik.

Rabinowitch versteht sich v.a. als "Empiriker" und hat eine Unmenmge
neuer Quellen ueber die russische Revolution und speziell ueber
1917/18, das "erste Jahr der Sowjetmacht", durchforstet. Die
zentralen, aber vorsichtigen Schluesse, die er daraus zieht, sind :

- Quer zu allem Gerede, dass es sich im Oktober 1917 um einen "Putsch
der Bolschewiki" handelte, legt er eine enorme Fuelle von Material
vor, die zeigen, dass die (buergerliche) Februarrevolution enge
Grenzen hatte (Weiterfuehrung des imperialistischen Krieges, kein
Boden an die Bauern...), breite Arbeiter-, Bauern- und Soldatenmassen
aktiv die Weiterfuehrung der Revolution forderten, sie auch aktiv
betrieben und die Bolschewiki in diesen revolutionaeren Massen eine
starke Verankerung hatten (u.a. Mehrheit in diversen Sowjets -- bei
freien Wahlen!)

- Der "Sturm auf das Winterpalais" - organisiert vom Petrograder
Revolutionaeren Militaerkommitee unter der umsichtigen Leitung von
Trotzki -- stellte nur die unerlaessliche Initialzuendung fuer die
Machtergreifung durch die Arbeiterklasse dar.

- Der Sowjetkongress verfasste -- gegen den Widerstand der
"gemaessigten Sozialisten", die keine soziale Revolution wollten (S.2)
und zu einem Gutteil mit der (militaerischen) Konterrevolution im
Bunde waren -- revolutionaere Beschluesse bzw. sanktionierte die
vollzogenen revolutionaeren Tatsachen. Die buergerlich-demokratische
verfassungsgebende Versammlung, in der die Rechte die Mehrheit hatte,
wollte das Rad der Geschichte zurueckdrehen. Ihre Aufloesung war so
ein Akt der historischen -- revolutionaeren -- Notwendigkeit. (S.174)

- Trotz grosser politischer Differenzen gab es bedeutende Phasen der
Kooperation zwischen Bolschewiki und linken Sozialrevolutionaeren --
sogar eine gemeinsame Regierung und die Zusammenarbeit in der
Exekutive des Petrograder Sowjets.

- Vor dem Hintergrund der starken nationalen und internationalen
Konterrevolution (bis hin zu direkter imperialistischer Intervention)
betrieb ein betraechtlicher Teil der Bolschewiki leichtfertigen Umgang
mit dem "roten Terror" ("Blut gegen Blut", pro "Lynchjustiz",...) -
oft mit einem fragwuerdigen positiven Bezug zur franzoesischen
Revolution 1789, obwohl diese buergerlichen Charakter hatte und die
Jakobiner als revolutionaere Kleinbuerger gegen Arbeiter und ihre
Forderungen massiv vorgingen (S.419 ff).

- Eine ungerechtfertigte Verquickung von notwendigen Schritten gegen
die Konterrevolution mit repressiven Massnahmen gegen andere durchaus
ernsthafte, linke Kraefte durch die Bolschewiki.

Der Umstand , dass sich Rabinowitch als Empiriker versteht, fuehrt
allerdings zu gewissen Schwaechen , die SOLIDARISCH zu diskutieren
sind. Hier zwei Beispiele:

- Die Einteilung der Bolschewiki in "Gemaessigte, Zentrum und Rechte"
(u.a. S.3) -- kann man machen, ist aber nicht sehr tiefgehend. Viel
wichtiger ist allerdings , dass es bei Rabinowitch keine genauere
Abhandlung ueber den Charakter der russischen Revolution gibt. Lenin
schwankte lange ("Demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern").
Erst mit den Aprilthesen 1917 ("Alle Macht den Raeten") erfolgte bei
ihm eine definitive Klaerung der Position. Trotzki brachte die Dinge
bekanntlich schon frueher auf den Begriff "Permanente Revolution". Das
festzuhalten stellt keine unnuetze, vergilbte theoretische
Haarspalterei dar, sondern ist deshalb wichtig, weil Lenin bei
Rabinowitch gelegentlich sogar als "Ultralinker" einstuft wird, weil
er -- gegen alle Widerstaende -- die Notwendigkeit der Machtergreifung
durch die Arbeiterklasse einforderte und die Einbettung der russischen
in die allgemein erwartete internationale Revolution unterstrich.

- Umgekehrt wird der Mord an dem deutschen Botschafter Mirbach durch
linke Sozialrevolutionaere (die linken Sozialrevolutionaere lehnten
den Brest-Litowsker Seperat-Friedensvertrag mit Deutschland am Beginn
des Jahres 1918, der tatsaechlich ein "Schandfrieden" war, ab und
optierten fuer den "revolutionaeren Krieg") ziemlich verharmlosend als
" toerichter und unausgerorener Plan" heruntergespielt (S.535), obwohl
der Friedensvertrag realistisch gesehen unerlaesslich war und
Rabinowitch selbst dazu eine Fuelle von Fakten liefert. Tatsaechlich
war die Ermordung blankes politisches "Abenteurertum" und haette der
Revolution durch den erneuten Vormarsch der deutschen Truppen auf
Petrograd beinahe den Garaus gemacht. Trotz dieser Einschraenkungen
sollte sich jede/r Linke das herausragende Buch zu Gemuete fuehren.
Wir werden um die Debatte ueber die in ihm angeschnittenen Themen in
"stuermischen Zeiten wie diesen" nicht herumkommen.
*Hermann Dworczak*


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