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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 15. Juni 2011; 16:00
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Letzte Worte:

> Der Kapitalismuskritiker im Sozialdemokraten

Ein ehemaliger Bundeskanzler gibt Ezzes zur Weltwirtschaft


"Es erstaunt immer wieder die Sprach- und Theorielosigkeit der
Politik, teilweise auch des Journalismus und der Wissenschaft,
angesichts der groessten Krise nach 1945, die diesmal tatsaechlich
weltumspannend und -durchdringend ist, kurzum: tatsaechlich global.
Verschaerft wird diese Krise, die mehr als nur ein grippaler Infekt
unseres oekonomisch-kulturellen Systems ist, durch die schon vor
Jahren erfolgte Ansage eines Endes der Moderne, ohne dass entsprechend
taugliche Ersatzkategorien vorgelegt worden waeren. [...] In der
(nicht alleine) oesterreichischen Sicht scheint es jedoch so zu sein,
dass man es sich moeglichst bequem im `Kriserl' oder 'Apokalypserl',
das dereinst schon wieder vorbeigehen wird, zu arrangieren versucht.
Motto: Bloss keine Experimente, aendern kann man eh nix, und ausserdem
bitte noch ein Achterl vom reschen Weissen, wir haben schon immer
alles runtergeschluckt."

Man muesse "auf den wirtschaftspolitischen Hauptwiderspruch hinter den
aktuellen Entwicklungen immer und immer wieder hinzuweisen: die
Verhaeltnisse von Kapitalrendite versus Beschaeftigung oder auch
Vermoegensverzinsung versus Wachstum. Denn vor allem deshalb wirken
heute die automatischen Stabilisatoren im Falle Griechenlands negativ
(bei einer schrumpfenden Wirtschaft erhoeht sich das Verhaeltnis der
Staatsschulden zum BIP trotz aller Sparmassnahmen laufend)."

Der da so erhellende Worte spricht, war einmal Bundeskanzler. Alfred
Gusenbauer gab (in einer Laudatio zur Verleihung des Kreisky-Preises
an den kanadischen Philosophen Charles Taylor) den
Kapitalismuskritiker. Viel beachtet war diese Rede und fand durch
kurze Zitate eines APA-Berichtes ihren Weg in etliche Medien.

Gusenbauer: "Wachstum und Beschaeftigung auf moeglichst breiter Basis
scheinen also als gemeinschaftliches Ziel abgesagt, die Folge daraus
koennte sein, dass es Richtung soziale Revolution geht. Den Menschen
zu vermitteln, dass sie leiden muessten, weil 'die Maerkte' nervoes
seien, ist keine ausreichende Hinhaltetaktik. Denn was verstanden
wird, ist, dass es kein blosses Boersentheater ist, dem man allenfalls
erste Reihe fussfrei zusehen kann, sondern dass man selbst auf der
Buehne -- besser noch: in der Arena -- steht. Und das Drehbuch ohne
Mitbestimmungsrecht einem eine nicht so wirklich glueckliche Rolle
zugewiesen hat."

Boes gefragt: Stoert Gusenbauer da jetzt die Hinhaltetaktik oder dass
sie nicht ausreichend ist? Und: Wer hat denn immer mit dafuer gesorgt,
dass unsere Demokratien rein "repraesentativ" bleiben? War da nicht
auch die Sozialdemokratie daran beteiligt, die immer nach
josephinischen Massstaeben agierte -- nicht durch das Volk, aber
angeblich fuer das Volk?

"Es braucht eine fundierte und der Ueberlegung von Alternativen
verpflichtete Kritik der derzeitigen politischen Oekonomie und ihres
Umfeldes respektive ihrer Konsequenzen. Und man beachte dabei den
Unterschied zwischen dem blossen 'Sudern' und einer konkreten Kritik,
die an Behebung von erkannten Missstaenden ernsthaft interessiert ist:
Letztere ist in der Wahl ihrer Mittel so praezise wie moeglich, will
ein Mehr, begreift die nicht wuenschenswerten Zustaende in all ihrer
Komplexitaet. Sudern ist dagegen ein Akt emotionaler
Selbstbefriedigung, theoriefrei und ohne Perspektive. Damit ist es
latent selbstbeschaedigend -- und weil der Suderant im Innersten davon
weiss, muss er ganz grundsaetzlich eine Schuldzuweisung an andere auf
sein schlapp in den Winden seiner Empoerung flatterndes Faehnchen
schreiben."

Ja, das ist eher unser Gusi -- jo net sudern! Das Problem dabei:
Unsereiner kann nicht mehr als sudern, denn wir haben keine anderen
Moeglichkeiten. Weil uns, wie von ihm so klar erkannt, die
Mitbestimmungsrechte fehlen. Doch auch Gusenbauer selbst bleibt jetzt
nichts mehr anderes als sudern. Vor ein paar Jahren haette er --
zumindest theoretisch -- die Moeglichkeit noch gehabt, Alternativen
anzugehen. Nur da waren halt die beruechtigten Sachzwaenge dagegen --
so wie diese den Sozialdemokraten immer schon als unueberwindliche
Huerden erschienen.

Weiter im Text: "Wie laeuft es derzeit? Staaten und ihre diversen
kapitalistisch unregulierten Instrumentarien wie Banken verschulden
sich dramatisch; der wahre Raubzug kommt allerdings beim Schuldenabbau
(und das laesst sich nun wahrlich ohne Muehe weltweit beobachten): Wer
fuer diese Miseren und Fehlspekulationen nicht verantwortlich war,
kommt in vollem Umfang dafuer auf. Die Politik zieht sich aus den
Marktfragen zurueck (...). Sie gibt ihre diesbezueglichen Primate
jetzt auch expressis verbis auf und kann dann tatsaechlich nur mehr
die Moderation der Maengelverwaltung betreiben. Wenn ueberhaupt. Den
Umverteilungsprozess im ganz grossen Stil, den von unten nach oben,
beobachtet sie dann nur mehr aus der Deckung, ahnend die Sprengkraft,
die sich hierbei aufbaut, fuerchtend nicht durchzudenkende
Konsequenzen."

Welch erstaunlich Erkenntnis! Aber auch hier: Waren es nicht weltweit
auch sozialdemokratische Politiker, die die Aufgabe von
Staatseigentum, Protektionismus, Wirtschaftssouveraenitaet und
Marktregulation gefoerdert haben? Hat Gusenbauer da nicht selbst
dazugehoert? Ist diese Rede vielleicht gar an seine eigene Partei
gerichtet? Oder etwa an "das Volk"? Explizit benennt Gusenbauer in der
ganzen Ansprache jedenfalls keine Adressaten. Einmal bemaengelt er
zwar, dass "Christlichsoziale und Sozialdemokratien ihr jeweils zu
huetendes Erbe der Aufklaerung" verdraengten -- aber wer eine
gerechtere Gesellschaft befoerdern soll, kommt nicht vor. Staendig
stolpert der Leser hier ueber Passivkonstruktionen oder ein
unbestimmtes "man"; fast will es scheinen, der ehemalige
Entscheidungstraeger spraeche in den luftleeren Raum. An wen er da
appelliert, bleibt unklar.

Wenn Gusi aber doch einmal so etwas aehnliches wie konkret wird,
bleibt es peinlich sozialdemokratisch: "Meines Erachtens wird man bei
der Suche nach alternativen Szenarien, die es zu erarbeiten --
moeglicherweise: zu erkaempfen -- gilt (abgesehen von Elementen der
Aufklaerung, des Humanismus, der Kultur des Buches und der umfassenden
Bildung fuer alle sowie der wesentlichen Errungenschaften der
Moderne), nur eine Moeglichkeit gegenzusteuern finden. Diese
Moeglichkeit stellt die Europaeische Union dar, nur aus dieser heraus
kann die Verfasstheit fuer das Gegensteuern kommen, koennen abgesehen
von nationalistischen Eitelkeiten ohne Sinn und Verstand auch
Wirtschafts- und Ausbeutungsexzesse hintangestellt werden. Der
Eingriff in die Oekonomie und ihre spezifischen Spielregeln der
Gegenwart muss heute auf relevanter Aggregationsebene erfolgen. Die EU
braucht dafuer selbstverstaendlich andere Mehrheitsverhaeltnisse, sie
braucht sozial inspirierte Kraefte, die ein neues Projekt auf den
Tisch legen koennen. Gewiss. Aber grundsaetzlich und von den
Strukturen her waere das eben tatsaechlich denkbar, waere es zu
betreiben -- und nicht nur ein Luftschloss als letzter Rueckzugsort
desperater Gegenwartswahrnehmung."

Es braucht also "sozial inspirierte Kraefte". Wo sollen die herkommen?
Und wie sollen die auf eine EU Einfluss nehmen, deren Primat immer ein
kapitalistisches war? "Grundsaetzlich und von den Strukturen her"
waere eine solche Veraenderung denkbar? Wo lebt Herr Gusenbauer
eigentlich? Will er jene, die an dem System blendend verdienen, durch
gute Worte dazu bringen, dass diese Herren von ihrem Reichtum auch ein
bisserl was abteilen? Wenn er sagt: "moeglicherweise zu erkaempfen"
hat er einen lichten Moment, nur das "moeglicherweise" koennte er sich
sparen. Aber wenn er es so sagt, spuert man gleich, wie mutig unser
Sozialdemokrat sich auf einmal duenkt, dass er sich sogar getraut, an
einen moeglichen Kampf zu denken.

Nur: Ein Machtmoloch wie der europaeische Zentralstaat, als der er
immer mehr erkennbar wird, und die Gemeinschaft der Konzernherren, auf
die er hoert, werden ohne die von Gusenbauer offensichtlich
befuerchtete "soziale Revolution" wohl kaum ihre guten Positionen
aufgeben. Weder die EU noch die Nationalstaaten werden so ohne
weiteres etwas gegen die Ungerechtigkeiten der Verteilung etwas tun.

Offensichtlich geht es Gusenbauer darum, worum es allen
Sozialdemokraten geht, naemlich den Kapitalismus vor sich selbst zu
schuetzen. Damit ist die Rede keineswegs so beachtenswert, wie sie in
Tageszeitungen und Webforen rezipiert wurde. Und dass
sozialdemokratische Politiker nach ihrer Abdankung den
Kapitalismuskritiker in sich entdecken, ist auch nicht gerade neu.
Wenn diese dann auch noch -- wie Gusenbauer -- in mehreren
Aufsichtsraeten sitzen, ist die Kritik vollends laecherlich.

Dennoch ist Rede lesenswert -- wenn man sich einmal ein buendiges
Beispiel des Elends der sozialdemokratischen Intelligenzija zur
Gemuete fuehren moechte. Diesbezueglich ist einem nach der Lektuere so
manches klarer.
*Bernhard Redl*


Die Rede (fast) im Volltext:
http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/669331/Ihr-zahlt-drauf-und-es-tut-uns-eh-leid



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