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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 23. Maerz 2011; 00:53
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Libyen-Debatte

> Flieg, Maikaefer, flieg!

Fragen zum Krieg in Libyen

Auf den ersten Blick scheint alles klar: Weil es um ein "globales
Mitgefuehl" (Hubert Patterer) geht, gibt es ihn, den "Krieg gegen das
Gaddafi-Regime" (Kleine Zeitung-Titel vom So, 20.3.). "Ein Voelkermord
wie in Ruanda oder Bosnien darf sich nicht wiederholen", so Patterer
in seiner Kolumne.

Scheint, wie gesagt, auf den ersten Blick klar. Andere Stimmen: Um
Schlimmeres zu verhindern, begruessen Europasprecherin und der
aussenpolitische Sprecher der Gruenen, Ulrike Lunacek und Alexander
Van der Bellen die entsprechende Sicherheitsresolution der UNO.

Da ist schwer was darauf zu sagen: Irgendwie hohl klingen die
Argumente der Kriegsgegner/innen, dass die Zivilbevoelkerung unter der
erneuten Eskalation besonders leiden wuerde - wenn doch womoeglich so
der Schrecken abgekuerzt werden koennte.

Auch ein weiteres (Gegen-)Argument der Gegner/innen einer
Intervention, dass es nur ums Oel ginge, zieht nicht. Denn einerseits
wollte Gaddafi ja keineswegs den Oelhahn abdrehen und andererseits
kann man ja trotzdem der Meinung sein: Der Zweck - die Verhinderung
von Massakern - heiligt die Mittel.

Und dennoch: Mir stellen sich so viele Fragen und so viele Annahmen
schwirren durch den Kopf, dass ich die Erleichterung ueber das
angeblich Unvermeidliche, das Rettende der "chirurgischen Schlaege"
nicht teilen kann. Und zwar auf den verschiedensten Ebenen:

Zunaechst einmal auf der banalsten Ebene der Zweck-Mittel-Relation:

Wer garantiert denn die Praezision? Sind nicht all die Bilder von den
punktgenauen Einschlaegen pures Wunschdenken? Und: Was ist, wenn all
die Schlaege eine Eigendynamik ausloesen, wenn sie womoeglich die
sogenannte Demokratiebewegung schwaechen, weil sie aus dem Ausland
kommen, als als 5. Kolonne des Imperialismus fungierend dargestellt
werden koennen? Hat man sich nicht schon in Afghanistan in einen
langwierigen Krieg hineinbegeben?

Dann: Was wissen wir ueberhaupt, was wissen die militaerischen
Fuehrungsstaebe, die Politiker/innen des Westens? Was wissen wir ueber
die Struktur der libyschen Gesellschaft, ueber die verschiedenen
Interessen der Volksgruppen? Wird nicht im Umfeld des Krieges noch
mehr als sonst gelogen?

Etwas grundsaetzlicher: Stimmt ueberhaupt das einfache Bild einer
zweigespaltenen Gesellschaft: Da die Unterdruecker - dort die
Unterdrueckten? Was ist dran an den Angaben, wonach z.B. die libysche
Bevoelkerung ein hoch entwickeltes Gesundheitssystem habe, dass es ihr
materiell eigentlich recht gut gehe...

Die Motive

Okay, das Argument der Interventionsgegner/innen mit dem Oel ist
wirklich an den Haaren herbeigezogen. Aber sonst gibt es doch bei den
"Retter/innen" einige handfeste, nicht gerade lautere Motive und
Ungereimtheiten:

* Innnenpolitisch punktet sicher ein energisch auftretender, ansonsten
schwer angeschlagener franzoesischer Praesident. Und auch die
britischen Sparpakete lassen sich auf einer Welle des Patriotismus
leichter verkaufen.

* Wie selbstlos ist es, wenn sich im Gefolge der Libyenintervention
die Militaermacht EU mit ihren Battle-Groups konsolidiert? Soll mit
der Intervention der militaerische Fluegel der EU gestaerkt werden?

* Geht es auch um eine Verschiebung der Kraefteverhaeltnisse innerhalb
der EU?

* Welche sonderbare Rolle spielen manche arabische Staaten wie
Saudi-Arabien, die einerseits in Bahrain bei der Aufstandsbekaempfung
mithelfen, andererseits in Libyen auf der anderen Seite stehen? Welche
alten Rechnungen werden da mit einem sich in vergangenen Jahrzehnten
in linker Rhetorik ergehenden Unbequemen beglichen?

Rettungspaket "Demokratie"

Auch ohne die Lage in den einzelnen Laendern zu kennen (wer kann
ueberhaupt sagen, dass er sie genau kenne?), so kann man - no na net -
sagen: Die Rebellion wird aus verschiedenen Motiven gespeist, sie ist
sehr heterogen. Und mit Fug und Recht kann man wahrscheinlich
behaupten, dass insbesondere ein Teil der "gebildeten" Schichten sich
als Teil einer Bewegung versteht, die als "colour revolutions" bekannt
geworden sind. Diese orientieren sich am liberalen Ideal von freedom
and democracy. Im Mittelpunkt dieser Art von Kritik steht das
politische Machtgefuege. Die grundlegende These: Sei der Staat nur
genuegend liberal-demokratisch, dann koennte man erfolgreich an den
Westen anschliessen.

Exkurs

Eine solche liberale Ideologie, die saemtliche Erkenntnisse der
Dependenztheorie (sowie verwandte Theorien - Weltsystemtheorie von
Wallerstein, Imperialismustheorie...) und anderer Erklaerungsmodelle
ignoriert, wonach die Unterentwicklung die Kehrseite der Entwicklung
der kapitalistischen Zentren ist, konnte nur deswegen ein
erfolgreiches Revival erleben, weil ab den 70erJahren mit dem Ende des
Fordismus auch und v.a. die Staaten mit einem Projekt der nachholenden
Entwicklung als schwaechste Glieder in der Verwertungskette ins
Schleudern kamen. Das Zerbrechen der Entwicklungsillusionen und der
damit verbundenen Delegitimierung der Entwicklungsdiktaturen (die sich
oft als irgendwie sozialistisch/antikolonial definierten oder einfach
nur so bezeichneten, im arabischen Raum kann man bei allen
Unterschieden hier Nasser in Aegypten, Sadam Hussein im Irak und
Gaddafi in Libyen einordnen) fuehrt nun aber nicht zu einem Abschied
vom immer schon problematischen Entwicklungsideal, sondern teils in
den Ethnowahn (Jugoslawien) und religioesen Fundamentalismus oder
einfach in von Strukturanpassungsprogrammen gebeutelten Regimen der
Krisenverwaltung, die sich oft jahrzehntelang hielten, soferne sie nur
militaerische Bedeutung fuer die Hegemonialmaechte hatten.

Mit dem Aufbrechen der kapitalistischen Nationaloekonomien in
globalisierte Produktionsketten besteht fuer einzelne Regionen und
soziale Gruppen als "Modernisierungsgewinner" die Chance, sich
vergleichsweise besser zu positionieren.

"Demokratiemehrwert" fuer die Zentren

In den im Abstieg befindlichen Zentren (USA,Westeuropa...) haben die
farbenen Revolutionen die alle moeglichen Farben haben, nur nicht die
Farbe Rot - einen enormen ideologischen Mehrwert, spiegeln sie doch
das exportierte liberale Idealbild von freedom and democracy auf die
Ursprungsregionen zurueck. Und das in einer Zeit, in der mit der
kapitalistischen Krise tendenziell klassisch buergerliche Freiheiten
abgebaut werden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich nochmal in aller Schaerfe die Frage
nach dem Grundcharakter des buergerlich-demokratischen Systems fuer
uns alle - vor allem einmal fuer uns, aber auch fuer die
"Revolutionaere" in den arabischen Laendern:

* Reicht es aus, als Perspektive eine Demokratie zu wollen, in der
zunehmend nicht einmal mehr ueber Wirtschaftspolitik abgestimmt werden
kann, sondern ueberhaupt nur mehr das Personal periodisch abgewaehlt
werden darf?

* Was heisst eine Strategie der Integration in den Weltmarkt fuer die
Mehrzahl derer, die innerhalb der Peripherie die Peripherie bilden
(Kleinbauern und -baeuerinnen, die sogenannten "ungebildeten"
Massen...) und die ja per Definition in einem Siegersystem nicht alle
auf dem Stockerl stehen koennen?

* Und schliesslich: Was heisst es fuer die gesamte Menschheit, sich
einer - demokratisch legitimierten - Verwertungsautomatik
auszuliefern, die bei Strafe des kapitalistischen Untergangs nichts
anderes kennt als endloses Kapitalwachstum?

Zurueck zum Ausgangspunkt: Die Flieger fliegen, unabhaengig davon, ob
man der Ueberzeugung ist, dass damit Menschenleben gerettet werden
oder der Imperialismus nur wieder einen weiteren Sieg errungen hat.
Wovor man sich aber nicht druecken kann, ist die Beantwortung einer
Reihe von Fragen, die sich einfach stellen und die ich versucht habe
zu benennen. Ohne den geringsten Anspruch auf Vollstaendigkeit.
*Walther Schuetz*

Quelle (mit weiteren Links):
http://www.kaernoel.at/cgi-bin/kaernoel/comax.pl?page=page.std;job=CENTER:articles.single_article;ID=2997



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