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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 16. Februar 2011; 05:40
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Debatte/Recht/Staat:

> Wenn die Schminke abgeht

Der Staat wird rabiater. Es wird immer aerger. Aber auch besser.
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"Wien Westbahnstrasse, Freitag abend: Ein Polizist, der eine Frau
anrempelt, weil sie fotografisch dokumentiert, wie drei Polizisten
einen Demonstranten mit dem Gesicht nach unten auf den Boden druecken.
Ein weiterer Polizist, der diese Frau anbruellt, sie als 'Sau'
beschimpft, sie mehrmals stoesst und schliesslich in den -- bereits
geschlossenen -- Polizeikessel draengt Als 'Strafe' fuers
Fotografieren, sozusagen. Eine Stunde spaeter, selber Ort: Der
Einsatzleiter der Polizei hat eine 'Bannmeile' vor dem Polizeikessel
errichten lassen. MedienvertreterInnen duerfen das Geschehen im Kessel
nur aus etwa siebzig Metern Abstand betrachten -- Interviews mit
DemonstrantInnen im Kessel oder auch nur Film- oder Fotoaufnahmen aus
der Naehe werden dadurch unmoeglich."

Eine Schilderung von der heurigen Anti-WKR-Demo. So oder aehnlich
kennen wir das seit, naja, eigentlich immer schon in der Zweiten
Republik. Interessant ist aber, diese Empoerung immer haeufiger auch
in der buergerlichen Presse zu lesen -- obiges Zitat stammt nicht aus
Indymedia, sondern aus dem Online-Standard. Aehnliches gilt fuer das
Wochenmagazin profil. Dessen aktuelle Ausgabe duerfen wir entnehmen,
dass vier Studierende wegen einer im Rahmen einer Projektarbeit
produzierten Dokumentation vom Verfassungsschutz verfolgt werden. Die
Studierenden der Akademie der Bildenden Kuenste hatten eine
Abschiebung bis hin zum Flughafen filmisch verfolgt -- die Polizei
machte jetzt daraus den Verdacht auf "Terroristische Vereinigung",
§278b StGB. Unter anderem, weil mit der filmischen Dokumentation ja
Beeintraechtigungen des Flugverkehrs vorbereitet werden koennten.

Wird es wirklich immer aerger? Man koennte es beinahe meinen, wenn man
sich so die Berichte ueber seltsame Aktivitaeten von Polizei und
Justiz in letzter Zeit ansieht. Da wird ein Monsterprozess gegen eine
heterogene Gruppe aus der Tierrechtsszene abgefuehrt, der von Tag zu
Tag mehr an Kafka als an Rechtsstaat erinnert. Eine
Strafrechtsprofessorin protestiert dagegen und wird von der
Richtervereinigung der "Verleumdung" und "Ueblen Nachrede"
verdaechtigt. Ein Polizist wird disziplinarrechtlich verfolgt, weil er
sich oeffentlich Luft darueber gemacht hatte, dass politische Stellen
und seine Kollegen Sorge dafuer tragen wuerden, dass bei Ermittlungen
gegen eine Nazi-Website nichts herauskaeme.

Der Staat ist in Gefahr. In den letzten zehn Jahren hat der alte
278er-Paragraph immer mehr Junge gekriegt. Mittlerweile stehen wir bei
ingesamt 6 Paragraphen dieser Familie, der juengste heisst 278e. Und
diese Paragraphen werden sehr originell verwendet, sei es eben bei
Tierrechtsaktionen, Filmdokus oder dem Drehen eines bloedsinnigen
Videos, das von Polizei, Justiz und Presse hocherfreut zur
islamistischen Gefahr in Oesterreich hochstilisiert wurde.

Aehnliches gilt fuer das Fremdenrecht, das seit Anfang der 90er nahezu
jaehrlich immer wieder verschaerft und mit einer grauslichen Praxis
von Polizei und Justiz kombiniert wurde. Seit zwei Jahrzehnten waechst
aber nicht nur die Repression sondern auch der Widerstand dagegen.
Eine solidarische Bewegung ist entstanden, die immer haeufiger
Abschiebungen nicht nur anprangern, sondern bisweilen sogar verhindern
oder rueckgaengig machen kann. Der Innenministerin ist ein
zivilgesellschaftlicher Gegner erwachsen, den sie nicht mehr
ignorieren kann. Auch in diesem Licht sind immer absurder werdende
Anzeigen zu sehen. Doch ist das beileibe keine isoliert
oesterreichische Entwicklung. Das Erstarken des Repressivstaates
inclusive seiner pressure group der rechtsextremen Parteien ist eine
europaweite Entwicklung -- der Widerstand dagegen allerdings auch.

Einher geht damit eine Spaltung der Gesellschaft -- und eine der
Medienlandschaft. Da gibt es die Kronenzeitung, die nach wie vor
Horrormeldungen ueber die angeblich grassierende
"Auslaenderkriminalitaet" lanciert und buergerliche Blaetter, die
genau diese Berichterstattung thematisieren. Da sind die embedded
journalists wie jene von ATV, die Polizeiwesten bei ihrem gemeinsam
Ausruecken mit der WEGA tragen und da sind ihre Kollegen, denen sehr
wohl auffaellt, dass es doch ein wenig seltsam ist, wenn ATV
verkuendet, diese Westen wuerden die Reporter zu ihrem eigenen Schutz
tragen, damit die Polizei wisse, wer auf ihrer Seite stuende. Denn die
Frage draengt sich auf: Sind Journalisten Freiwild fuer die Polizei,
wenn sie nicht versprechen, brav das Gewuenschte zu reportieren?

Die neue Oeffentlichkeit

Keine Polizeiweste trug zum Beispiel ein Mitarbeiter von Radio Orange,
der ausnahmsweise nicht nur mit Mikrophon, sondern auch mit Kamera
unterwegs war -- der Journalist wurde von einem Polizisten taetlich
attackiert, weil er Personenkontrollen am Wiener Westbahnhof
dokumentieren wollte. Der Kollege des bad cop verstieg sich vor
laufender Kamera dann zu der Meldung: "Mia hams net gern, wamma uns
mitten in der Amtshandlung auf die Finger schaut."

Genau diese alternativjournalistische Arbeit ist es aber, die einen
massiven Einfluss auf die herkoemmliche Medienlandschaft hat. Schon
bisher mussten Reporter auch der Massenmedien sich von der Polizei
drangsalieren lassen, zumeist aber fand sich darueber nichts und ueber
Polizeiuebergriffe beispielsweise auf Demonstranten nur wenig in den
Berichten wieder -- zum Teil, weil Chefredaktionen das nicht wollten,
zum Teil, weil man auf Polizeikontakte angewiesen war. Nun aber, wo
Blogger, Videoblogger, spontane Handyfilmer, Alternativradiomacher
und, und, und,... massiv auch ganz andere Berichte praesentieren und
diese dank der Segnungen der besseren Vernetzungsmoeglichkeiten im
Internet (Web 2.0, Social Networks etc.) auch zu einer relativ grossen
Oeffentlichkeit bringen koennen, sieht die Sache anders aus.
Buergerliche Medien geraten unter Zugzwang, wollen sie nicht als
Vertuscher und Verharmloser dastehen.

Vielleicht wird es wirklich aerger. Das erfahren wir auch bisweilen in
der Redaktion, wenn wir von Geschichten hoeren, ueber die wir nicht
berichten koennen. Geschichten ueber massive Drohungen und Uebergriffe
bis hin zu "Warnschuessen" -- doch die Betroffenen und deren
Angehoerige werden in diesen Faellen von Polizei oder Staatsanwaelten
so sehr eingeschuechtert, dass sie damit nicht an die Oeffentlichkeit
wollen.

Die Radikalisierung der Normalitaet

Aber warum wird es aerger? Sicher auch, weil die oekonomischen
Widersprueche zwischen arm und reich schaerfer werden und eine banale
Verwaltung des sozialpartnerschaftlichen "Leben und Lebenlassen" immer
weniger moeglich wird. Aber wir koennen es auch positiv sehen. Denn
die Widersprueche waren immer da und die Polizei war immer schon der
Meinung, sie sei stets im Recht -- was ihr die Justiz auch fast immer
bestaetigte. Doch das wird von Vielen heute einfach nicht mehr so
hingenommen. Das ganz Normale wird immer weniger akzeptabel. Der
permanent existierende autoritaere Staat wird immer besser als solcher
erkannt. Wenn aber die herrschende Ordnung sich in Gefahr sieht,
radikalisiert sie ihren Normalzustand. Dann zeigt sie ungeniert ihr
wahres Gesicht.. Dieses Antlitz erscheint jedoch immer haeufiger
ungeschminkt auch auf den Titelseiten. Und immer Menschen stehen vor
der Frage, zu welcher Seite sie jetzt eigentlich gehoeren sollen.

Der Staat fuerchtet sich wieder mehr vor der ausserparlamentarischen
Opposition. Und das ist -- trotz aller Repression, die wir noch zu
gewaertigen haben werden -- gut so.
*Bernhard Redl*

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Links:

Kritik an Polizeiverhalten bei Anti-WKR-Demo:
http://derstandard.at/1295571262536

Terroristische Studierende:
http://www.profil.at/articles/1106/560/288752

Disziplinarverfahren gegen Aufdecker-Polizisten:
http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/633724

Uebergriff auf Orange-Reporter:
http://www.youtube.com/?v=A6iOIfA_McY



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