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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 26. Jaenner 2011; 00:57
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Albanien:

> Die Frustration steigt

Drei Tote und mehrere Dutzend Verletzte sind die vorlaeufige Bilanz
einer Demonstration, die am Freitag, in Tirana ausser Kontrolle
geraten war.
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Am 21.Januar hatte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Edi
Rama, zu Demonstrationen gegen die von Sali Berisha gefuehrte
Regierungskoalition aufgerufen. Etwa 20.000 Anhaenger/innen der
Opposition hatten sich am Nachmittag im Zentrum Tiranas zu Protesten
gegen die juengsten Korruptionsfaelle in der Regierung versammelt. Am
spaeteren Nachmittag setzten sich mehrere hundert Demonstrant/inn/en
von der Versammlung ab und versuchten einen Sturm auf das
Regierungsgebaeude. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Traenengas
ein, ueber die Koepfe der Demonstrant/inn/en hinweg wurden
Warnschuesse mit scharfer Munition abgegeben.

Vor der "Pyramide", dem neben dem Amtsgebaeude von Premierminister
Sali Berisha gelegenen und urspruenglich fuer den Fuehrer des
stalinistischen Albanien Enver Hoxha errichteten Baues, wurden unter
anderem Autos in Brand gesetzt. Die Polizei wurde mit Steinen und
Molotow-Cocktails beworfen, ein Nebeneingang des Regierungsgebaeudes
wurde demoliert. Allerdings scheiterte der Sturm auf das
Regierungsgebaeude, Unter zurzeit noch nicht voellig geklaerten
Umstaenden duerften in der Folge mindestens drei Menschen von der
Spezialpolizei erschossen worden sein.

Dass die Demonstration eskalierte, ist hierbei kein Zufall, sondern
letztlich das Ergebnis von mehreren miteinander verbundenen Faktoren:

Erstens ist das politische Klima seit den Wahlen von 2009 in Albanien
alles andere als entspannt: Traditionell wird in den letzten 20 Jahren
die Politik des Landes von zwei Parteien bestimmt - der Demokratischen
Partei und der Sozialistischen Partei. Zurzeit regiert die
Demokratischen Partei in einer Koalition mit der von den SP
abgespaltenen LSI, der von Ilir Meta gefuehrten Sozialistischen
Integrationsbewegung. Von der Sozialistischen Partei werden der
Regierung und insbesondere der regierenden Demokratischen Partei von
Berisha Wahlfaelschungen vorgeworfen.

Die Sozialistische Partei boykottierte die Parlamentsarbeit, mehrere
Parlamentarier traten ebenso wie etwa 200 SP-Sympathisant/inn/en in
den Hungerstreik. Erst im Mai 2010 entschied sich die SP auf Druck
seitens der Europaeischen Union fuer eine Beendigung des
parlamentarischen Boykotts. Ende Dezember 2010 lehnte das Parlament
die von der Sozialistischen Partei geforderte Untersuchungskommission
ab, wenige Tage spaeter wurde von der Zentralen Wahlkommission
entschieden, dass die Wahlurnen nicht noch einmal geoeffnet werden
sollten - eine Neuauszaehlung wurde endgueltig abgelehnt, mit der
Verbrennung der Wahlzettel begonnen.

Skandale als Ausloeser

Zweitens: Unmittelbarer Anlass der Proteste war, dass in der auf die
Aufdeckung von Skandalen spezialisierten, aeusserst populaeren
TV-Sendung Fiks Fare vor kurzer Zeit ein Video auftauchte, das den
Vizepremier Ilir Meta in einem geheim mitgefilmten Gespraech zeigte
bei dem, was ohnehin allgemein bei allen Regierenden vermutet wird:
Offen wurde ueber die Hoehe von Bestechungsgeldern im Falle eines
Projektes fuer ein neues Wasserkraftwerkes verhandelt. Ilir Meta ist
inzwischen zurueckgetreten, nachdem seine Versuche, die Baender als
manipuliert zu bezeichnen, als gescheitert betrachtet werden mussten.
Trotzdem ist dies nur die Spitze eines Eisberges: Korruption ist
alltaeglich in Albanien, Bestechungsgelder und Gefaelligkeiten fuer an
sich kostenlose Dienstleistungen sind ueblich. Das beginnt bei der
Behandlung im Krankenhaus und endet eben bei der politischen
Verwaltung des Landes. Der von der SP organisierte Protest richtete
sich vordergruendig gegen diese allgegenwaertigen Praktiken, die bis
in die hoechsten Regierungskreise reichen.

Dazu kommen drittens die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die mit
einiger Verzoegerung 2010 auch Albanien erreicht haben. Nicht so sehr
wegen der direkten Auswirkungen auf die albanische Industrie - diese
ist ohnehin kaum konkurrenzfaehig: 2009 exportierte Albanien nur Waren
fuer nicht ganz 1.1 Milliarden US-Dollar, die Importe beliefen sich
hingegen auf fast 4.3 Milliarden Dollar. Das Handelsdefizit entspricht
mit 3.2 Milliarden US-Dollar mehr als einem Viertel des
Bruttoinlandsprodukts.

Die Luecke wurde und wird geschlossen mit den Ueberweisungen der
Auslandsalbaner/innen. Etwa ein Drittel der Bevoelkerung im
erwerbsfaehigen Alter ist inzwischen vor Armut und Perspektivlosigkeit
ins Ausland emigriert - ganze Doerfer sind verlassen worden. Durch die
Wirtschaftskrise verloren nun viele Albaner/innen im Ausland ihre Jobs
und mussten zurueckkehren.

Keine Jobs

Gerade in den letzten Monaten ist daher die Frustration im Land
kontinuierlich gestiegen. Zwar sind die Horrorszenarien von
Hunderttausenden zusaetzlichen Emigrant/inn/en nach Wegfall der
Visapflicht fuer den Schengenraum im Dezember 2010 ausgeblieben, aber
die Perspektiven sind schlecht - und die offizielle
Arbeitslosenstatistik von etwa 13 % Arbeitslosigkeit (aus der die
landwirtschaftlich Erwerbstaetigen - immer noch fast 60 % aller
albanischen Erwerbstaetigen! - ohnehin schon herausgerechnet sind)
spiegelt die Realitaet nicht einmal annaehernd wieder: Viele
Jugendliche, die die Hochschulen verlassen, bekommen keine Jobs -
unzaehlige Kellner auch in kleinen Bars verfuegen ueber einen
Uni-Abschluss - und der offizielle Durchschnittslohn von etwas ueber
200 Euro (bei Preisen, die fuer viele Produkte hoeher liegen als in
der EU, immerhin muss ein grosser Teil des Bedarfs ausser
Grundnahrungsmitteln nach wie vor importiert werden) deckt sicher
nicht das, was zu einem ordentlichen Leben notwendig waere.

Natuerlich ist der Unmut, der zu den Zusammenstoessen vom 21. Januar
gefuehrt hat, verstaendlich. Allerdings bietet auch die Sozialistische
Partei keine grundsaetzliche Alternative. Sie ist eine durch und durch
buergerliche Partei, die sich mit der Demokratischen Partei seit 1990
in der Regierung abgewechselt hat. Die Sozialistische Partei wird
einen Teil des Unmuts fuer ihre Anti-Regierungs-Proteste auf ihre
eigenen Fahnen lenken koennen, sie wird aber ebenfalls nicht in der
Lage sein, die grundlegenden Probleme des Landes zu loesen. Sie ist
nichts anderes als das etwas linkere Spiegelbild der zurzeit
regierenden Demokratischen Partei; Edi Rama, der charismatische
Buergermeister von Tirana, wuerde auch nicht wesentlich anders
regieren als der "demokratische" Sali Berisha. Nicht zufaellig hat Edi
Rama in einer dramatischen Pressekonferenz am Abend des 21. Februar
zwar das unverhaeltnismaessige Vorgehen der Polizei angeprangert, aber
auch bereits zur Maessigung aufgerufen.

Das Interesse der SP geht dahin, die Proteste auf einen
parlamentarischen Weg zu kanalisieren und ihre Anhaenger/innen auf
einen "demokratischen Machtwechsel" einzuschwoeren, Diese Strategie
geht sicher auch auf den Druck der Europaeischen Union zurueck, die
fuer die herrschende Elite Albaniens, nennt sie sich nun sozialistisch
oder demokratisch, unverzichtbar ist und nicht zur Disposition steht.

Politische Wueste

Das, was allerdings Interesse an der Demonstration vom 21. Januar
beansprucht, sind die fuer Albanien neuen Protestformen. Seit den
unruhigen Jahren um 1997, als das Land nach dem Zusammenbruch der
Pyramidengesellschaften in Chaos versank, waren Demos in Albanien
weitgehend friedlich verlaufen. Nach Jahren buergerkriegsaehnlicher
Unruhen war die Periode seit etwa 2000 von einem fragilen, aber doch
ueber Jahre aufrecht erhaltenen relativen inneren Frieden
gekennzeichnet. Fuer viele war daher der Ausbruch an Wut
ueberraschend, der sich am 21.Januar in umgestuerzten Polizeiautos und
unzaehligen Steinwuerfen gegen die Symbole der politischen Macht
ausdrueckte. Die relativ friedlichen Zeiten der letzten Jahre koennten
also dem Ende entgegen gehen. Allerdings gibt es keine Kraft der
Linken, die in der Lage waere, diesen Protest zu organisieren. Die
politische Landschaft Albaniens gleicht vor allem auf der Linken einer
Wueste. So steht zu befuerchten, dass sich das politische Karussell
nur eine Runde weiter dreht, ohne dass sich Albanien aus der
Umklammerung der beiden Grossparteien, die das Land seit zwei
Jahrzehnten im Wuergegriff halten, befreien koennte. Die politischen
Alternativen wie die Bewegung "Mjaft!" ("Genug!") setzen auf
"zivilgesellschaftlichen Protest" und "alternative Protestformen", die
in der sterilen politischen Landschaft Albaniens seltsam fremdartig
wirken. Die Gewerkschaften sind kaum existent und streng in
sozialistische und demokratische Syndikate, die weitgehend ohne Anhang
im luftleeren Raum agieren, aufgeteilt. Was fehlt, ist eine den Frust
organisierende radikale Kraft. Sie haette auch die Aufgabe, die
Proteste aus der Hauptstadt Tirana hinauszutragen und im Lande zu
verallgemeinern. Zwei der drei Toten sind zwar vom Land, aus dem
ostalbanischen Diber und dem suedalbanischen Gjirokaster, aber
ausserhalb von Tirana ist es bis dato voellig ruhig geblieben. Noch
ist es zu frueh, um die laengerfristige Dynamik, die vielleicht durch
die Demo ausgeloest worden ist, einzuschaetzen. Eines ist aber klar:
Ohne eine organisierende linke Kraft, zu der heute der Grundstein
gelegt werden muesste, wird der Zorn und die Wut ueber die drei
Polizeimorde verpuffen muessen.
(Julia Masetovic, RSO /gek.)

Quelle: http://www.sozialismus.net//content/view/1587



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