**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 12. Jaenner 2011; 01:05
**********************************************************

Glosse:

> Die Radikalen, die Reformer und das K-Wort

Eine Webrundschau

Irgendwie gibt es sowas wie eine Winter-Saure-Gurken-Zeit, vielleicht
sollte man sie Saurer-Hering-Zeit nennen. Das ist die Zeit zwischen
dem 2.Weihnachtsfeiertag und Dreikoenig. Das ist ueblicherweise die
Zeit der seltsamen Meldungen. Heuer ging es besonders lustig zu.

Sicher waere da einmal Peter Pilz mit seinem Interview im "Standard"
zu nennen (Link 1, siehe auch R. Krenns Beitrag in dieser Ausgabe),
der die Gruenen zu einer Art nichtkorrupter FPOe machen und mehr
Polizei will, um die "moldawischen Bandenchefs" in die Schranken zu
weisen.

Aber vor allem wird jetzt ueber Radikalitaet und Kommunismus
diskutiert. Da kommt die deutsche Ober-Linke Gesine Loetzsch daher und
schreibt ueber "Wege zum Kommunismus". Und alle regen sich auf.
Irgendwie kann man das nicht ganz glauben: Worum geht es da? Was hat
sie geschrieben? Dass Stalin ein ganz ein toller Kerl war oder Pol
Pott doch recht gehabt habe? Iwo, sie hat nur das boese K-Wort
ausgesprochen und alle sind empoert. Aehm, also dass Leute, die sich
als Linke bezeichnen, schon sowas wie den Kommunismus wollen, habe ich
eigentlich als Allgemeingut vorausgesetzt. Nur weil die Rechte
Kommunismus mit Stalinismus gleichsetzt, muessen das auch Linke tun?
Und siehe da: Sie tuns! Zumindest tut es die deutsche Partei gleichen
Namens selbst. Klaus Ernst, der sich mit Loetzsch den Vorsitz der
Partei teilt, meint im Interview zum Begriff "Kommunismus": "In
unserer ganzen Programmdebatte spielt dieser Begriff ueberhaupt keine
Rolle, niemand will den im Programm haben. Das wuerde ich auch fuer
absolut absurd halten. Wir stehen fuer demokratischen Sozialismus."
(2) Tolle Linke, die sich einen ihrer ureigensten Begriffe kampflos
klauen laesst...

Aber auch andere Texte sorgen derzeit fuer Diskussionen. Da waeren
einmal aus Frankreich "Empoert euch!" des 93-jaehrigen frueheren
Resistance-Mitglieds Stéphane Hessel (Bericht darueber unter 3) und
"Der kommende Aufstand" eines "Unsichtbaren Komitees" (Uebersetzung
unter 4) und sowie Slavoj Zizeks "Zeit der Monster -- Ein Aufruf zur
Radikalitaet" in Le Monde Diplomatique (5). Waehrend Hessel den jungen
Menschen von heute "nur" zuruft: "Nehmt das Steuer in die Hand und
empoert euch!", geht es in den beiden anderen Texten definitiv um
kommende, notwendige oder gar schon existierende Proteste, die nicht
mehr reformierend sein wollten, sondern die Systemueberwindung
anstrebten -- im "kommenden Aufstand" werden bereits die
Banlieue-Ereignisse des Jahres 2005 als solche gesehen. Gerade weil
diese Proteste eben keine Forderungen hatten, sehen die Autoren die
Riots als prinzipielle Ablehnung des politischen Systems an.

Ausgerechnet Robert Misik polemisiert dagegen. (6) Er nennt das
"linkradikales Maulheldentum". Ja, es ist schon zu verstehen, wenn er
manche Worte der Radikalitaet ablehnt und meint, er waere mit einem
Wort Willi Brandts mehr fuer "das Bohren harter Bretter" als fuer die
Revolution -- bei manchen Revolutionsaposteln kommt einem ja
tatsaechlich das Grausen. Und er hat wahrscheinlich auch damit recht,
dass wir nicht in revolutionaeren Zeiten leben und ein moeglicher
Umsturz in Europa derzeit wohl nicht auf der Tagesordnung stehe. Nur:
Der Sozialdemokrat Misik vergisst dabei sehr gerne, dass seine eigene
Partei, die er ja selbst immer wieder dafuer kritisiert, den Bohrer
laengst aus der Hand gelegt hat. Ein bisserl Radikalitaet taet also
vielleicht doch nicht schaden. Und: Maulheld ist er selbst einer. Das
sind wir alle, die wir unsere Meinungen publizieren und nur das Wort
als Waffe haben. Der Vorwurf ist ein wenig schofel.

"Und wo bleiben die Jungen?" fragt Andreas Koller in den Salzburger
Nachrichten: "Einst protestierte eine Generation gegen den
Vietnamkrieg, gegen die Bevormundung durch die ,Alten`, gegen
Zwentendorf und Hainburg. Ganze Jahrgaenge junger Menschen wurden
durch diese Protestbewegungen politisiert, die ,68-Generation` --
laengst in die Jahre gekommen -- veraenderte das Gesicht Europas. Und
man fragt sich: Wo sind heute vergleichbare Bewegungen?" Nunja, man
koennte einwenden, dass die Proteste heute oft eine andere Form haben
und eben auch im Internet zu suchen sind. Aber das ist ein schwacher
Trost. Denn auf der Strasse sieht man meistens wirklich nicht mehr als
die Klientelpolitik der Studierenden und den Protest gegen
rechtsradikale Parteien. Das Die-ganze-Welt-veraendern-wollen ist kaum
mehr sichtbar. Doch dazu braucht es wohl auch eine Atmosphaere, die
irgendwo noch eine Hoffnung auf Veraenderungsmoeglichkeit bietet. Und
es braucht eine linke Intelligenzija, die sich nicht fuer Begriffe wie
"Kommunismus" und "Radikalitaet" schaemt oder gar nach mehr Polizei
ruft.
*Bernhard Redl*

Links:

(1) http://derstandard.at/1293369850810/
(2) http://www.fr-online.de/politik/-der-begriff-kommunismus-spielt-keine-rolle-/-/1472596/5116908/-/index.html
(3) http://derstandard.at/1293369967501/
(4) http://linksunten.indymedia.org/node/22964
(5) http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/11/12.mondeText.artikel,a0048.idx,14
(6) http://derstandard.at/1293370284510/
(7) http://mein.salzburg.com/blog/koller/2011/01/und-wo-bleiben-die-jungen.html



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin