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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 21. Dezember 2010; 21:42
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Glosse:

> Der Idiot von nebenan

Ich bin ganz aufgeregt. Seit zehn Jahren wohne ich in Wien Ottakring.
Vor wenigen Tagen hatte ich meine erste heftigere Auseinandersetzung
mit einem Menschen mit Migrationshintergrund aus der Gegend. Ein
Spaziergang mit meinem Hund ueber den Brunnenmarkt. Fuer Dingo sind
die vielen Gerueche und Geraeusche aufregend. Er wird bald acht Monate
alt und muss erst die Welt entdecken. Bei diesen Spaziergaengen halte
ich ihn an der kurzen Leine. Zumal es ganz schoen wurlen kann am
Brunnenmarkt. Ein langsames Gehtempo, aber wenn nicht gerade Stau ist
in der Menschenmenge, kann man problemlos vorbei.

Das konnte auch ein eher aermlich gekleideter junger Mann. Was ihm
nicht reichte. "Geh gefaelligst schneller mit deinem Hund", hat er
mich im Vorbeigehen angefahren. Ich bin an sich ein friedliebender
Mensch und habe als jemand, der selbst lange Angst vor Hunden hatte,
Verstaendnis fuer Menschen, die keine Hunde moegen. Nur, anfahren lass
ich mich nicht. "Das kannst du auch normal sagen", hab ich dem 20- bis
25-Jaehrigen nachgerufen. Der offenbar tuerkischstaemmige Mann
pflanzte sich vor mir auf: "Was willst du" usw. usf. Ich versuchte ihm
nochmals klarzumachen, dass ich einfach nur einigermassen hoefliche
Umgangsformen erwartete, was mir die Bezeichnung Idiot eintrug. Er
habe es eilig.

Danach war ich auch nicht mehr ganz so hoeflich. Der verbale Austausch
war von meiner Seite her nicht nett, er war wesentlich aggressiver
drauf und wollte es sich mit mir in der Grundsteingasse hinter einem
Baugeruest "ausmachen". Woraufhin ich ihm anbot, das doch bei der
Polizei zu erledigen, die keine zwanzig Meter entfernt ist. Eine Frau
schaltete sich ein und bot an, mir zu helfen - was ich dankend
ablehnte. Der unangenehme Zeitgenosse war ohnehin dabei, fluchend zu
verschwinden. Sein Plan, eine Schlaegerei anzuzetteln, war nicht
aufgegangen.

Die Frau, die mir Hilfe anbot, erging sich in einer Tirade: "Ich hab
nichts gegen Auslaender, aber wenn sie streiten wegen meiner Hunde,
sage ich ihnen: Meine Hunde haben eine oesterreichische
Staatsbuergerschaft und du nicht." Ich versuchte, sie ein wenig zu
kalmieren: "Trotteln gibt's ueberall".

Ein banaler Zwischenfall. Ein Idiot zettelt einen Streit an. Der wird
gleich zum Integrationsproblem hochstilisiert. Ginge es nach der FPOe,
muesste ich deren Hotline gegen Inlaenderdiskriminierung anrufen.
Wobei ich mir nicht sicher bin, inwieweit ich hier diskriminiert
worden sein soll, aber freuen taeten sie sich ueber meinen Anruf.

Der junge Mann war offenkundig frustriert. Vielleicht hatte er den Job
verloren, seine Freundin hatte ihn verlassen, vielleicht war's ein
Streit mit einem guten Freund. Was weiss ich. Es ist mir offen
gestanden auch eher egal. Er wollte seinen wahrscheinlich sogar
verstaendlichen Frust an irgendjemandem abreagieren.

Dass er Tuerke zweiter Generation ist, war moeglicherweise
entscheidend, dass er sich einen Hundebesitzer, in dem Fall mich,
ausgesucht hat. Haette er keinen Migrationshintergrund gehabt, waere
er vielleicht den Passanten neben mir angegangen oder einen
tuerkischstaemmigen Standl-Besitzer. Irgendjemanden haette es
getroffen. Ein zorniger junger Mann, der nicht gelernt hat, mit
Frustrationen und Aggressionen umzugehen. Da gibt's viele.

Es gibt auch aeltere Maenner, die das nicht koennen. So wie ein
Radfahrer mit ausgepraegten FPOe-Sympathien, der mich vor wenigen
Jahren auf offener Strasse ohrfeigte. In seinem Fall wuerde jeder
Mensch, der seine fuenf Sinne beisammen hat, das Ereignis auf die
Biografie des Angreifenden zurueckfuehren. Soweit ich das aus seinem
damaligen Verhalten ableiten kann, wuerde ich sagen: Eher ungebildet,
relativ gutes Einkommen (das Fahrrad war teuer) und mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit gewalttaetige Zusammenstoesse in der
Vergangenheit.

Im juengsten Fall bietet sich auch fuer an sich vernunftbegabte
Menschen die "Erklaerung" an, der junge Mann habe ein
"Integrationsproblem". Der Reisepass und/oder das (vermeintliche)
religioese Bekenntnis, ob ausgelebt oder nicht, sind genug, um einen
banalen Zwischenfall zum Beweis fuer das Scheitern der
Zuwanderungspolitik hochzustilisieren. Nachfragen tut kaum jemand, das
System wird selbstreflexiv.

So oder so aehnlich laufen die meisten sogenannten
Integrationsprobleme ab. Der Idiot von nebenan wird nicht mehr als das
gesehen, was er ist: Als Idiot von nebenan. Er ist lebender Beweis,
dass "die" sich nicht "anpassen" wollen/koennen. Hat man sich frueher
in Gemeindebauten ueber spielende Kinder gefreut oder fallweise auch
geaergert, schimpft man heute ueber die lauten "Tuerkenkinder."

Wobei sicher eine Rolle spielt, dass viele BewohnerInnen von
Gemeindebauten aelter geworden sind und sich mit Kinderlaerm schwerer
tun als vor zwanzig Jahren. Nur kommen immer weniger Menschen auf die
Idee, die laermenden Kinder als das zu sehen, was sie sind: Laermende
Kinder. Und, sollten sich, wie frueher auch, Konflikte zwischen denen
ergeben, die spielende Kinder als laestig empfinden, und den Muettern
der Kinder, wird auch das als Beweis fuer die
Integrationsunwilligkeit/unfaehigkeit der "Auslaender" herangezogen.
Welch bestechende Logik.

Das Integrationsproblem, was wir haben, ist grossteils ein soziales.
ZuwanderInnen haben es bedeutend schwerer in Schulen und am
Arbeitsmarkt. Das fuehrt zu Armut, Ghettobildung usw. In vielen
Faellen, auch das sei nicht bestritten, zu eher seltsamen bis
problematischen Einstellungen.

In Gegenden, wo es keine oder wenige "Auslaender" gibt, gibt es die
gleichen Probleme mit "Inlaendern". Dort schimpft man ueber die
"Proleten". Auch das kein Ansatz zur Problemloesung. Nur einer, um die
eigenen Zukunftsaengste an irgendjemandem abzureagieren. Womit man
genauso dumm reagiert wie der junge Mann, der mich angepoebelt hat.
Wie er fuehlt man sich vermutlich dann auch besser. Am eigenen Leben
hat sich nichts geaendert. An den Problemen sowieso nicht. Und die
FPOe bekommt 25 Prozent der Stimmen.
*Christoph Baumgarten* (gek)

Volltext:
http://www.politwatch.at/stories/der-idiot-von-nebenan-als-integrationsproblem



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