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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 24. November 2010; 04:06
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Lateinamerika/Buecher:

> Keine Vizekoenige mehr?

GABRIEL, Leo / BERGER, Herbert (Hg.)
Lateinamerikas Demokratien im Umbruch
340 Seiten Format 12 x 19
EUR 19,-
ISBN: 978385476-354-3
Mandelbaum Verlag 2010. 340 Seiten.

Leo Gabriel umreisst im Einleitungskapitel die "schwere Geburt der
Demokratie in Lateinamerika" ( S.7 ff): Was sich so als "Demokratie"
praesentierte war nichts nichts als historischer Zynismus. Nach der
offenen kolonialen Diktatur folgte die brutale Herrschaft der --
international -- brustschwachen nationalen Bourgeousie. Sie zeichnete
sich vor allem dadurch aus, dass sie die Mehrzahl der - indigenen -
Bevoelkerung aus dem politischen, ja oeffentlichen Prozess auschloss.
Sie befand sich weiter im Schlepptau der Kolonialmaechte und war
spaeter Anhaengsel des US-Imperiums. "Bis vor kurzem glich die
Symbolfigur des Senor Presidente jener eines Vizekoenig der spanischen
Krone" ( S.8).

Erst in juengster Zeit erfolgten Ansaetze von Umbruechen: Nicht
zuletzt die Serie wichtiger Wahlerfolge wie in Venezuela, Brasilien,
Bolivien oder Ecuador. Leo Gabriel problematisiert dankenswerter Weise
auch die Tatsache, wie trotz dieser parlamentarischen Erfolge "man bis
heute von keinem einheitlichen, den gesamten Kontinent uebergreifenden
System der Demokratie sprechen kann" (S.119).

Chile ist ein signifikantes Beispiel wie bei "gemaessigter" Politik,
also dem Ausbleiben grundsaetzlicher sozialer Reformen, wieder die
Rechte ans Ruder kommt ( Chile: Die Abwahl der Mitte"- Neoliberalismus
versus Kosmovision" ; S.27 ff). Herbert Berger haelt krtisch fest:
nach dem Ende der Pinochet-Diktatur "ist den linken Parteien der
Concertation anzukreiden, dass sie keinen Versuch unternahmen, das
neoliberale System zu ueberwinden" (S. 29).

Heute gibt es in Chile nur einige mutige Aktivitaeten von unten.
"Anders ist dies beim Kampf des indigenen Volkes der Mapuche, hier
kann man sehr wohl von einer sozialen Bewegung sprechen " (S.40).

Zu Mexiko steuert Gilberto Lopez y Rivas eine hervorragende Analyse
eines sogenannten "fake" Staates bei ("Mexiko: zwischen
"gescheitertem" Staat und einer Demokratie der Autonomien"; S.70 ff),
der jedoch immens "erfolgreich" ist bei der extrem repressiven
Aufrechtererhaltung der kapitalistischen Ordnung (S. 80).

Zu einseitig und blauaeugig erscheint mir seine Bewertung der
Zapatisten. Nach etlichen Jahren realer zapatistischer Praxis sollte
man sich schon die Frage stellen, ob die Strategie des
"gesellschaftlichen Aufbaus von der Basis her ... unabhaengig vom
Staat und seinem System von politischen Parteien" (S.92) -- also
"autonom" herrschen ohne selbst die Macht zu ergreifen, nicht zu kurz
greift. Zeigt nicht die Analyse von Gilberto selbst, dass die --
fragile -- Autonomie der Zapatisten nur in einem kleinen, regionalen
Bereich erfolgt, auf gesamtstaatlicher, nationaler Ebene jedoch die
Oligarchen fester denn je im Sattel sitzen ?

In Venezuela und Bolivien sind die Umbrueche am weitesten gediehen:
"Venezuela: partizipative und direkte Demokratie" (S 225 ff.) sowie
"Bolivien: der steinige Weg auf dem Weg zum plurinationalen Staat"
(S.145 ff). Den Autoren (Christian Cwik bzw. Robert Lessman) ist hoch
anzurechnen, dass sie nicht nur die unbestreitbar grossen Erfolge in
beiden Laendern darstellen, sondern auch auf bedenkliche Punkte den
Finger legen: wie das unreflektierte Weitersetzen auf ein
"extraktives" Wirtschaftsmodell oder die nach wie vor fehlende
entwickelte direkte, sozialistische Demokratie (S. 249ff).

Ein kluges, interessantes Buch. Es gehoert ungedingt gelesen - auch
von denjenigen, die sich sich nicht gleich auf den Weg nach
Lateinamerika machen...
*Hermann Dworczak*



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