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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 24. November 2010; 03:30
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Wiener Koalition:

> 10 antirassistische Forderungen

Offener Brief des European Network Against Racism Austria (ENARA)an
SPOe und Gruene

Sehr geehrter Herr Buergermeister Dr. Michael Haeupl, sehr geehrte
Frau Vizebuergermeisterin Maria Vassilakou!

Hiermit uebermitteln wir Ihnen 10 antirassistische Forderungen an die
neue rot-gruene Regierungskoalition in Wien.

Das European Network Against Racism Austria (ENARA) begruesst die
Bildung einer rot - gruenen Koalitionsregierung in Wien in der
Hoffnung, dass politische Innovationen eingeleitet werden, die dem
steigenden Rassismus entgegenwirken. Vor diesem Hintergrund will ENARA
die neue Regierung von Beginn an in die Pflicht nehmen.

1 - Integration

ENARA fordert die Abschaffung des Integrationsressorts. Es geht nicht
um Integration im Sinne des Hereinnehmens von Fremden in ein
bestehendes Ganzes, sondern schlicht um Anerkennung der Gleichheit
aller Menschen und dementsprechend um eine faire Gestaltung der sich
globalisierenden Gesellschaft. Das neue Gleichstellungsressort soll
insbesondere auf eine faire, d.h. diskriminierte Gruppen
privilegierende Verteilung des Budgets achten. Ausserdem sind mittels
Investitionen in Organisationsentwicklungs- und Mentoring-Programme
die Erwerbs- und Bildungschancen von Personen aus diskriminierten
Gruppen in Betrieben und Bildungsinstitutionen zu erhoehen.

In aller Deutlichkeit wendet sich ENARA gegen die Idee der rot-gruenen
Koalition, dass Neuzuwandernde einen "Wiener Vertrag" unterzeichnen
sollen, der die zentralen Wertvorstellungen einer modernen und
weltoffenen Gesellschaft und die Spielregeln fuer ein gutes
Zusammenleben in Wien enthaelt. Damit wird faelschlicherweise
unterstellt, dass unsere Gesellschaft modern und weltoffen ist und
dass sich alle Wiener_innen im Rahmen eines modernen und weltoffenen
Wertekanons bewegen, was derzeit sicher nicht der Fall ist, und
umgekehrt, dass die Neuzuwandernden ausserhalb eines modernen
Wertekanons stehen, diese Werte gar nicht kennen oder fundamental
andere Werte vertreten, was eine Unterstellung von Rueckstaendigkeit
darstellt.

2 - Wirtschaft, Arbeit

ENARA fordert serioese Vorarbeiten fuer die Einfuehrung eines
bedingungslosen Grundeinkommens fuer Alle, die in Oesterreich ihren
Lebensmittelpunkt haben, eine Abkehr vom Wachstumsparadigma und als
Sofortmassnahme die Foerderung von sozialoekonomischen Projekten zur
Reduktion der Arbeitslosigkeit.

3 - Wohnen

ENARA fordert die sofortige und vollstaendige Oeffnung des Zugangs zu
kommunalen Wohnbauten auch fuer Menschen, die nicht die
oesterreichische Staatsbuergerschaft haben. Allen Menschen, die hier
leben und arbeiten sind gleiche Rechte hinsichtlich des Zugangs zu
qualitativ hochwertigen und leistbaren Wohnungen zu gewaehren.
Ausserdem fordert ENARA eine Grundsatzdiskussion "unter Einbeziehung
der betroffenen Bevoelkerungsgruppen" ueber die sogenannte
"Stadterneuerung", im Zuge derer vor allem sozial schlechtergestellte
Familien (insbesondere mit Migrationshintergrund) aus Stadtvierteln
mit relativ erschwinglichen Mieten vertrieben werden
("Gentrifizierung"). Weiters fordert ENARA eine grossangelegte,
mehrsprachige Informationskampagne zum Mietrecht.

4 - Bildung

ENARA fordert den gezielten Ausbau der Mehrsprachigkeit und der
Ganztagsschulen im Bildungswesen. Aufgrund der Globalisierung werden
die kommenden Generationen in einer transnationalen und
transkulturellen Welt leben. Die Dominanz der deutschen Sprache muss
ueberwunden werden, um Wien nicht zu einem Provinzort in der Welt der
Zukunft zu degradieren. Das Problem im Bildungswesen sind nicht Kinder
und Jugendliche "mit Migrationshintergrund", sondern das Problem sind
mangelnde gleichberechtigte und mehrwertige Foerderungen fuer alle
Kinder und Jugendlichen nach ihren jeweiligen Beduerfnissen. Der
Mehrfachdiskriminierung von Migrantinnen als Frauen, insbesondere in
der stereotypisierenden Reduktion auf ein Sprachproblem, ist
entschieden entgegenzuwirken.

5 - Wissenschaft

ENARA fordert einen mit 20 Mio. EUR dotierten Finanzierungstopf fuer
sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte zur transkulturellen
Zukunft Wiens. Aufgrund der Entwicklung der Altersstrukturen wird ab
2015 der Bedarf an neuen Arbeitskraeften EU-weit steigen muessen,
allein um das Pensionssystem weiter finanzieren zu koennen. Als
Weltstadt muss Wien auf diese absehbaren Entwicklungen vorbereitet
sein und daher rechtzeitig die Erarbeitung entsprechender
wissenschaftlich fundierter Konzepte finanzieren; Konzepte, die nicht
im Elfenbeinturm, sondern gemeinsam mit Migrant_innenorganisationen
und NGOs zu erarbeiten sind.

6 - Finanzen

ENARA fordert equality budgeting. Die neue Regierung in Wien soll bei
den naechsten Budgetverhandlungen mit gutem Beispiel vorangehen.
Einwohner_innen ohne oesterreichische Staatsbuergerschaft sind nach
der neuesten Studie des Bundesministeriums fuer Arbeit, Soziales und
Konsumentenschutz noch immer Nettoeinzahler_innen in das Sozialsystem.
Sie zahlen 10,7 Prozent aller Beitraege, waehrend ihr Anteil an den
Geldleistungen bei 6,2 Prozent liegt. Diese sehr deutliche
Umverteilung von unten nach oben trifft v. a. aermere Haushalte, ist
somit unsozial und nicht vertretbar.

7 - Kunst & Kultur

ENARA fordert die Umsetzung der Impulse fuer eine transkulturelle
Offensive im Wiener Kunst- und Kulturbetrieb. Die museale Tradition
braucht ein lebendiges transnational orientiertes innovatives
Gegengewicht. Die Errichtung von multifunktionalen Kunst- und
Kulturzentren in jenen Bezirken, wo die meisten Migrant_innen wohnen,
ist eine geeignete Massnahme, um den Ueberhang des Kulturbudgets in
Richtung sogenannter Hoch- und Mehrheitskultur auszugleichen.

8 - Partizipation

ENARA fordert von der neuen Stadtregierung eine Abkehr von der
bisherigen Tabula-Rasa-Politik zum Thema Wiener Integrationskonferenz.
Stattdessen soll sie aktiv daran arbeiten, dass eine optimale
Beteiligung von Selbstorganisationen von Migrant_innen in Wien wieder
eingerichtet wird, damit die Zielsetzung der Gleichberechtigung aller
Bewohner_innen dieser Stadt mit diesen Organisationen verhandelt und
verwirklicht werden kann.

9 - Wahlrecht

Die oben dargestellten Forderungen basieren auf der Tatsache
jahrzehntelanger, struktureller Diskriminierung von Menschen ohne
oesterreichische Staatsbuergerschaft, nicht zuletzt aufgrund des
Ausschlusses rund eines Fuenftels der Wiener Bevoelkerung vom
Wahlrecht. Um dieses eklatante Demokratiedefizit zu beheben, fordert
ENARA das volle aktive und passive Wahlrecht fuer alle Menschen, die
in Wien ihren Lebensmittelpunkt haben. Die rot-gruene Koalition moege
den Gemeinderatsbeschluss von 2002 bekraeftigen und erweitern, sodass
das Wahlrecht fuer Alle nicht nur auf Bezirks- sondern auch auf
Gemeindeebene eingefuehrt wird, und sich in weiterer Folge um eine
entsprechende Aenderung der Bundesverfassung bemuehen.

10 - Legalisierung

Darueber hinaus fordert ENARA eine klare oeffentliche Positionierung
der rot-gruenen Stadtregierung fuer die sofortige Legalisierung aller
illegalisiert in Oesterreich lebenden Menschen.

Mit freundlichen Gruessen
*Karim Duarte, ENARA*

*

ENARAversteht sich als ein Zusammenschluss von NGOs oesterreichweit in
Kooperation mit gleichgesinnten NGOs ueber Oesterreich hinaus,
insbesondere im Europaeischen Raum, die sich zur Gleichheit aller
Menschen bekennen und insbesondere gegen rassistische
Diskriminierungen auftreten.
http://www.enara.at/



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