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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 23. Februar 2010; 20:57
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Debatten:

> "Autonome Rechtssysteme"

Replik auf "Patriarchale Gewaltstrukturen und autonome Gegenentwuerfe"
von -postcore- in akin 4/2010 (zur "Totschlag-Debatte")


Eigentlich wollte ich mich in die aktuelle Debatte um das sogenannte
"Skandalurteil" ja nicht einbringen. Zum einen, weil es offenbar ein
Ding der Unmoeglichkeit ist, juristischen Lai/inn/en den Unterschied
zwischen der Begreiflichkeit einer Gemuetsbewegung und der
Begreiflichkeit einer Tat zu verdeutlichen. Zum anderen, weil die
Themengebiete "Gewalt gegen Frauen" und "Migration/Islam" dermassen
emotionsgeladen sind, dass eine sachliche Diskussion mittlerweile
nahezu unmoeglich erscheint - und ich es satt habe, von der einen
Seite als "maennerhassende Emanze" und von der anderen Seite als
"Unterstuetzerin des Islamismus" beschimpft zu werden. Der in der
letzten akin erschienene Artikel "Patriarchale Gewaltstrukturen und
autonome Gegenentwuerfe" [gez. ‚postcore'] strotzt allerdings derart
vor Ungereimtheiten, dass ich ihn nicht unerwidert lassen will.

So werden bereits die Fakten unrichtig wiedergegeben, wenn zu Beginn
von einer Verurteilung "zum (sic!) Totschlag" und gegen Ende von "der
erstochenen Tuerkin" die Rede ist, obschon der Taeter an der
Vollendung seiner Tag gehindert wurde und das Opfer ueberlebt hat,
weshalb das (nicht rechtskraeftige) Urteil auch auf ‚versuchten
Totschlag' lautete. Im Schlusssatz wird dann noch die "Meucheltat" mit
der "heftigen Gemuetsbewegung" gleichgestellt und die vom Staatsanwalt
ins Treffen gefuehrte "schwierige Lebenssituation", in der sich
"gerade Auslaender oder Personen mit Migrationshintergrund haeufig
befinden", dahingehend umgedeutet, dass es die "kulturelle Praegung"
des Taeters sei, welche die Gemuetsbewegung (und faelschlicherweise
auch die Tat!) "allgemein begreiflich" machen solle.

Die folgenden Betrachtungen "unserer" Judikatur bzw des Strafrechts,
"wie es in Europa und in den weitesten Teilen der Welt zur Anwendung
kommt", lassen den Schluss zu, dass die Autorin bei dieser Diskussion
tatsaechlich "etwas abseits" stehen duerfte. Die Vorstellung von
Justitia als "breitschultrigem Mann mit Dreitagebart" liess mich
zumindest schmunzeln, das Bild von den "maechtigen, weissen Maennern"
ignoriert allerdings nicht nur jene maechtigen dunkelhaeutigen Maenner
(mit langen Baerten), die in etlichen Teilen der Welt die wohl
patriarchalste Form der Rechtsprechung repraesentieren, naemlich die
Scharia (was gerade in diesem Kontext verwundert), es blendet neben
historischen und gegenwaertigen "maechtigen" Frauen aber auch die
Tatsache aus, dass sich gerade "unsere" (oesterreichische) Justiz
durch eine stetig steigende Anzahl an Richterinnen und
(Staats-)Anwaeltinnen auszeichnet(1) und auch das oesterr.
Justizministerium seit einigen Jahren in weiblicher Hand ist.

Ich moechte im Folgenden aber vor allem auf die vorgestellten
Gegenentwuerfe eingehen. So ist die Vorstellung von "Rechtssystemen,
die nicht die Bestrafung des Taeters zum Ziel haben", zwar eine
durchaus romantische, doch wird leider weder erlaeutert, bei welchen
"afrikanischen Staemmen" oder "matriarchalischen Kulturen" nach
solchen Rechtssystemen zu suchen sei(2), noch worin die Zielsetzung
dieser Rechtssysteme denn bestehe. Stattdessen folgt eine Ueberleitung
zum Konzept der "Definitionsmacht der Betroffenen" (Defma), das dann
offenbar doch eine Bestrafung ‚des Taeters' zum Ziel hat. Und dies
unter voelliger Ausschaltung saemtlicher Grundsaetze eines
demokratischen Rechtsstaats. So sollen Unschuldsvermutung und
Beweislast dadurch ausser Kraft gesetzt werden, dass es dem/der
Betroffenen ueberlassen wird, eine Handlung als Uebergriff (und damit
als erfuellten Straftatbestand) zu klassifizieren. Auch soll auf ein
faires Verfahren und die Moeglichkeit zur Verteidigung verzichtet
werden, um "dem Taeter keine Chance zu geben, den Uebergriff [gemeint
ist wohl ‚das Verfahren'] als Buehne fuer seine Ausreden zu
verwenden". Darueber hinaus besteht fuer die diesem Konzept
Unterworfenen keinerlei Rechtssicherheit, wenn es keine klar
definierten Tatbestaende gibt, sondern eine gesetzte Handlung erst im
Nachhinein durch die Klassifizierung durch den/die Betroffene/n zum
Tatbestand gemacht wird - selbst wenn "dem Taeter" immerhin
grosszuegigerweise "erklaert" wird, "was er eigentlich falsch gemacht
hat". Doch auch dann kann niemand davon ausgehen, durch kuenftige
Vermeidung genau dieser "falschen" Handlung nicht zum Taeter zu
werden, da einerseits praktisch jede Handlung von dem/der Betroffenen
als Uebergriff klassifiziert werden kann und anderseits ein- und
dieselbe Handlung nicht zwangsweise von jedem/jeder Betroffenen als
Uebergriff klassifiziert werden muss.

Auch vom Prinzip der Gewaltentrennung wird sich mit dem DefMa-Konzept
weitgehend verabschiedet, da zumindest die Gesetzgebung (die
Definition eines strafbaren Tatbestandes) und ein Grossteil der
Rechtsprechung (die Klassifizierung als Taeter, somit der
Schuldspruch) in einer Hand (naemlich der des/der Betroffenen) liegt -
auf die Vollstreckung wird nicht naeher eingegangen. Genau genommen
findet eine Gesetzgebung im eigentlichen Sinn aber gar nicht statt,
wenn ein Tatbestand nicht im Vorhinein allgemeingueltig definiert,
sondern erst nach Tatsetzung durch den/die Betroffene/n
"klassifiziert" wird. Dass Anklaeger/in und Richter/in nicht bloss
ein- und dieselbe Person, sondern der/die Betroffene selbst ist,
erinnert zudem stark an Lynchjustiz.

Nicht zuletzt wuerde es natuerlich den verfassungsrechtlich
gewaehrleisteten Gleichheitsgrundsatz verletzen, sollte das Konzept
tatsaechlich - wie angedacht - "nur fuer Frauen gueltig" sein bzw
werden. Es stellte sich neben dem praktischen Problem des
Nebeneinanderherbestehens zweier unterschiedlicher Rechtssysteme
innerhalb eines Rechtsgebiets ("autonome Kreise") aber vor allem die
Frage, wie ein Konzept, das "Taeter" rein maennlich benennt, mit
Taeterinnen umgeht. Sollen jene - als Frauen - prinzipiell auch dem
DefMa-Konzept unterliegen? Oder soll dieses nur in Faellen, wo die
Betroffenen Frauen sind, zur Anwendung kommen?

Nun wird zwar eingeraeumt, dass das Konzept "keineswegs perfekt,
unstreitbar oder immer anwendbar" sei. Es bleibt aber offen, wer
entscheidet, wann das Konzept zur Anwendung kommen soll, wer es
bestreiten und/oder sich an seiner Weiterentwicklung beteiligen soll
bzw darf und inwieweit sich Menschen, die sich "in autonomen Kreisen"
bewegen, diesem Konzept unterwerfen muessen.

Jedenfalls ist die (theoretische) Anwendung eines Konzepts, das - wie
an dieser Stelle festgehalten wird - hauptsaechlich zur Loesung
"szeneinterner" Konflikte gedacht ist, weder noetig noch geeignet, um
verstaendlich zu machen, "warum so viele Leute ein Problem mit dem
Urteil haben"(3). Tatsaechlich haette das DefMa-Konzept auf den
Anlassfall angewandt laut Eigendefinition naemlich gar nicht erst zu
einer Belangung des Taeters gefuehrt, da die Betroffene gegen den
Taeter nicht ausgesagt, ihn also nicht als Taeter "klassifiziert" hat.
Gerade im Fall von Beziehungs- und Sexualtaten kann es leicht zu einer
Beeinflussung des Opfers durch den Taeter kommen, weshalb ich das
Prinzip der Amtswegigkeit der Verfolgung von Gewalttaten (als sog.
‚Offizialdelikte') fuer sinnvoll und wuenschenswert erachte. Im Fall
Polanski beispielsweise wuerde das Eingehen auf die Wuensche der
Betroffenen (nach einer Einstellung des Verfahrens) eine
Parteilichkeit und Verharmlosung bedeuten, mit der ich persoenlich
tatsaechlich ein Problem haette.

Obschon ich mir der Problematik der Beweisfuehrung im Falle von
Sexualstraftaten (auch aus eigener Erfahrung) durchaus bewusst bin -
um eine solche geht es im Anlassfall aber gar nicht -, halte ich eine
Umkehr der Beweislast oder die gaenzliche Abkehr von der Beweislast
gleichwohl auch in solchen Faellen nicht fuer zielfuehrend. Denn
ebenso wie niemand auf Grund des Geschlechts, der Rasse, Religion,
sexuellen Orientierung oder allgemein der Zugehoerigkeit zu einer
bestimmten Gruppe vor dem Gesetz schlechter gestellt sein darf als
andere, soll auch niemand aus einem solchen Grund bevorzugt werden
koennen. Wenn wir Entwicklungen wie die Anerkennung von
Scharia-Gerichten in Grossbritannien ablehnen, wo die Aussage eines
Mannes mehr Gewicht hat als die einer Frau, duerfen wir auch keine
"autonomen" Rechtssysteme zulassen, in denen die Aussage einer Frau
mehr wert ist als die eines Mannes.

Ich moechte mich daher ausdruecklich dagegen aussprechen, vom
Grundsatz eines fairen Verfahrens abzugehen, das die Moeglichkeit zur
Verteidigung beinhaltet, selbst wenn nach diesem Prinzip die
Moeglichkeit besteht, dass ein/eTaeter/in nicht verurteilt, sondern in
dubio pro reo freigesprochen wird. Denn im Zweifelsfall kann ich damit
immer noch besser leben als mit der Moeglichkeit, Unschuldige allein
auf Grund der Aussage der "Betroffenen" zu verurteilen.
-EH-

*

(1) Siehe u.a.:
http://www.news.at/articles/0501/610/102054/die-frauen-justiz-bereits-50-3-prozent-frauen-bereich
http://www.bmj.gv.at/internet/html/default/2c9484852308c2a601230f0ff6a70141.de.html
http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20006128

(2) Immerhin laesst das "oder" den Schluss zu, dass Erstere jedenfalls
nicht Zweiteren angehoeren.

(3) Die Gruende dafuer sind ohnehin hinlaenglich bekannt: naemlich der
Vorwurf einer Bagatellisierung bzw Billigung maennlicher Gewalt
gegenueber Frauen (von feministischer Seite) sowie der Vorwurf einer
milderen Beurteilung "auslaendischer" Taeter durch die
Beruecksichtigung der Herkunft des Taeters (von rechter Seite bzw von
Seiten des "gesunden Volksempfindens").

(4) Siehe zB: http://www.heise.de/tp/blogs/8/115931


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