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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 13. Jaenner 2010; 12:53
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Wien/Glosse:

> Kampf um den Gemeindebau

Obwohl die Wahlen zum Wiener Landtag erst im Oktober 2010 stattfinden
werden, fuehren die SPOe und vor allem die FPOe offensichtlich schon
seit Monaten Wahlkampf. Besonders umstritten sind dabei die
staedtischen Wohnhausanlagen, in denen rund 500.000 WienerInnen
wohnen.
Zur sozialen Anatomie der "Kampfzone Gemeindebau",
von *Stefan Horvath (RSO)*


"SPOe-Totalversagen im Gemeindebau" titelt die FPOe in einer
Postwurfsendung an alle Wiener Haushalte. Die Freiheitlichen haben die
Wiener Gemeindebauten zur zentralen Kampfzone in Hinblick auf die
kommenden Wahlen erkoren. Kein Wunder, schliesslich wohnt fast ein
Drittel der Wiener Bevoelkerung in den Wohnhausanlagen der Gemeinde
Wien mit ihren ca. 220.000 Wohnungen. Und bei den Wahlen der letzten
Jahre konnte die FPOe in vielen Gemeindebauten, traditionell
sozialdemokratische Hochburgen, stark zulegen.

Monumente der ArbeiterInnenbewegung

Die rund 2.300 staedtischen Wohnhausanlagen - in Wien lieber als
"Gemeindebauten" bezeichnet - praegen die politische
Auseinandersetzung gleichermassen wie das Wiener Stadtbild. Entstanden
sind die Gemeindebauten in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, zur
Zeit des "Roten Wien".

Gleichzeitig mit dem Abebben der revolutionaeren Welle nach dem Ende
des Ersten Weltkriegs kam die SDAP, die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei, im Mai 1919 in Wien an die Macht. Waehrend das
restliche Oesterreich fest in konservativer Hand war, regierten die
SozialdemokratInnen die Hauptstadt mit absoluter, ja mitunter sogar
mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Mit ueber 400.000 Mitgliedern (bei knapp
unter 2 Millionen EinwohnerInnen) und etlichen kulturellen
Vorfeldorganisationen (von den Arbeiter-Stenographen bis zum
Arbeiter-Gebirgstrachtenverein) waren sie die groesste lokale
Parteiorganisation der Welt.

"Erbaut aus den Mitteln der Wohnbausteuer" steht auch heute noch in
grossen Lettern auf fast jedem Wiener Gemeindebau aus der
Zwischenkriegszeit. Die stark progressive Steuer auf Wohnflaeche (80%
der MieterInnen waren von ihr gaenzlich unberuehrt, nur 402 Personen
gehoerten zur obersten Kategorie) brachte zwar nur etwa ein Drittel
der Baukosten ein, liess sich aber sehr plakativ als Wahlwerbung
einsetzen. Ihr Wohnbauprogramm schlachtete die Sozialdemokratie
propagandistisch weidlich aus, schliesslich sicherten ihr Wohnbau und
Mieterschutzgesetze nicht nur die Unterstuetzung der Wiener
ArbeiterInnenklasse, sondern auch betraechtlicher Teile des
KleinbuergerInnentums (Ladenbe­sitzerInnen, HandwerkerInnen,
KaffeehauswirtInnen etc.).

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Sozialdemokratie ihre
Machtposition in Wien erneut festigen. Auch das Wohnbauprogramm nahm
sie wieder auf, allerdings ihrem drastischen ideologischen Wandel
entsprechend. Der architektonische Glanz war verflogen, ebenso der
(ohnehin nie realisierte) politische Anspruch der Sozialdemokratie,
mit den Gemeindebauten "proletarische Gegenwirklichkeiten" zu
schaffen.

In Punkto Architektur (standardisierte Montagebauweise), Ausstattung,
Finanzierung (zunehmende Vermarktwirtschaftlichung!) und
staedtebaulicher Zielsetzung glich sich der kommunale Wohnbau in Wien
immer mehr dem Mainstream des sozialen Wohnbaus in Westeuropa an. Dem
Paradigma des staedtebaulichen Funktionalismus entsprechend, also der
strikten raeumlichen Trennung von Wohnen, Freizeit und Arbeiten
entstanden in den 60er und 70er Jahren immer neue riesige
Wohnhausanlagen an der staedtischen Peripherie die gleichsam schlecht
angeschlossen und infrastrukturell mangelhaft ausgestattet waren.

Politisch waren die Gemeindebauten bis vor wenigen Jahren noch feste
Bastionen der Sozialdemokratie. Noch in den 70er Jahren kassierte der
Hausmeister, meist praktischerweise gleichzeitig der
sozialdemokratische Vertrauensmann, oft gemeinsam mit der Miete (dem
"Zins") den monatlichen SPOe-Mitgliedsbeitrag ein. Boese Zungen
behaupteten, dass man/frau ohne Parteibuch gar nicht zu einer
Gemeindewohnung kam.

Ab den 80er Jahren wurde der Gemeindebau dann gesellschaftlich immer
mehr als Ort der Kriminalitaet, Verwahrlosung und Vereinsamung
wahrgenommen. Dies hatte wohl auch mit dem kleinbuergerlichen
Wohnideal vom Eigenheim im Gruenen zu tun, welches sich in der zweiten
Haelfte des 20. Jahrhunderts auch im oesterreichischen Proletariat
durchgesetzt hat.

Heute gilt der Gemeindebau vielen ArbeiterInnenhaushalten, genauer:
vielen "oesterreichisch-staemmigen", nicht mehr uneingeschraenkt als
erstrebenswerte Wohnadresse. Junge versuchen oft wegzuziehen, fuer sie
bedeutet der Auszug aus der Gemeindewohnung sozialen Aufstieg, die
Alten hingegen bleiben - und klagen. Fuer MigrantInnen hingegen, die
bis vor wenigen Jahren vom Ansuchen um eine Gemeindewohnung
ausgeschlossen waren, stellt der Einzug in den Gemeindebau in der
Regel eine enorme Verbesserung ihrer Wohnsituation dar.

Die Sozialstruktur der Gemeindebau-BewohnerInnen ist heute
ueberdurchschnittlich arm, bildungsfern und in vielen Bauten auch alt.
Im Durchschnitt leben mehr Arbeitslose und Angehoerige unterer
Schichten der ArbeiterInnenklasse im Gemeindebau als in Wien
insgesamt.

"Brennpunkt Gemeindebau?"

So oder so aehnlich lauten die Titel der immer gleichen Reportagen
oesterreichischer Boulevard-Medien. Stets finden sich dafuer dann
irgendwelche PensionistInnen, die, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu
nehmen, ueber "die Auslaender" (zumeist oesterreichische
StaatsbuergerInnen...) in ihrem Hof herziehen. Diese wuerden sich nicht
an die Nachtruhe halten, ihren Muell ueberall ablagern, nicht
gruessen, ihre Kinder wuerden randalieren usw. MigrantInnen hingegen
klagen immer oefter ueber Rassismus im Gemeindebau.

Worum geht es? Tatsaechlich gibt es in den Gemeindebauten Konflikte -
so wie ueberall dort wo viele Menschen zusammen leben. Doch wer sich
naeher damit auseinandersetzt, kann bald zweierlei feststellen.
Einerseits sind die allermeisten Streitereien simple Nachbarschafts-
bzw. Nutzungskonflikte, oft zwischen Generationen - und nicht zwischen
Ethnien. Und diese Konflikte, etwa zwischen Alt und Jung um die Frage
des Laerms am Abend, gibt es in den Hoefen und Hofdurchgaengen mit
ihrer sehr effektiven Akustik, seitdem es die Bauten selbst gibt. Es
sind vor allem rassistische Kraefte wie die FPOe, die solche Konflikte
mit absurden Behauptungen ethnisieren und die Menschen gegeneinander
aufhetzen. "Gewalt durch auslaendische Jugendgangs" sei, laut der oben
erwaehnen Postwurfsendung, eines der groessten Problem in den Hoefen.

Andererseits bauschen Medien diese Konflikte auf und tragen zu einer
Wahrnehmung bei, die oft ueberhaupt nicht mit den Lebensrealitaeten
der BewohnerInnen korreliert. Laut einer Statistik der TGT - Agentur
fuer Soziale Arbeit sind nicht einmal in "hoch gefaehrdeten
Konfliktbauten" mehr als 12% der MieterInnen betroffen.

Sozialdemokratische Ueberwachungsphantasien

Die in Wien derzeit allein regierende SPOe setzt einstweilen einmal
auf eine uebermaessige Betonung von "Recht und Ordnung" im
Gemeindebau. Dies beginnt schon einmal mit dem sinnigen Spruch "Wien
ist wie ein grosses Haus. Es funktioniert nur, wenn sich alle an die
Hausordnung halten", den die SozialdemokratInnen ueberall in der Stadt
plakatieren liessen. Und es geht weiter mit den verschiedenen
Hilfssheriff-Truppen, die in den letzten Monaten ins Leben gerufen
wurden.

Seit Oktober sind in Wiens Gemeindebauten so genannte
"Ordnungsberater" unterwegs, die nach dem Reinhaltegesetz auch
Abmahnungen aussprechen und Strafmandate ausstellen duerfen, wenn sich
jemand nicht an ihre gute Ratschlaege haelt. Einstweilen in fuenf
Bezirken, ab 2010 in ganz Wien, sind weiters die "Nightwatcher" aktiv,
die aufpassen sollen, dass es in den Gemeindebauten in den spaeten
Abendstunden nicht zu laut wird. Darueber hinaus gibt es noch die
"Wohnpartner" der Gebietsbetreuungen sowie die "Waste-Watcher" (vom
Volksmund lieber als "Hundstruemmerl-Sheriffs" bezeichnet) in
oeffentlichen Gruenflaechen nahe der Gemeindebauten.

Komplettiert werden die sozialdemokratischen Ueberwachungsphantasien
von der Videoueberwachung, die seit April in acht Gemeindebauten
erprobt wird und demnaechst ausgeweitet werden soll. Durch die
Ueberwachung von Aufzuegen, Tiefgaragen und sogar Muellraeumen habe
sich die Anzahl der Schadensfaelle um 52% verringert, die durch
Vandalismus verursachten Kosten seien um 68% gesunken, meinte
Wohnbaustadtrat Michael Ludwig unlaengst. Welche Kosten die
Videoueberwachung verursacht, sagte er nicht dazu.

Ueberwachen und Strafen

Nun wollen wir Reformen im kommunalen Wohnen nicht pauschal schlecht
machen. Sicherlich ist es sinnvoll, wenn es mehr Mediation,
mehrsprachige Betreuung, Gespraeche mit Verantwortlichen der
Stadtverwaltung etc. gibt. Aber der Ton macht die Musik. Und die
Begleitmusik der SPOe-Reformen ist durch und durch von
Law&Order-Mentalitaet gepraegt und dadurch latent rassistisch. Sicher,
die SPOe gibt den Leuten nur, wonach sie verlangen. Aber warum
verlangen sie ueberhaupt danach?

Der noch aus der Monarchie stammende, in der ehemaligen kaiserlichen
Residenzstadt Wien besonders ausgepraegte, Untertanengeist wurde von
der Sozialdemokratie nicht konsequent bekaempft sondern auf
spezifische Art und Weise geradezu kultiviert. Es war der
Austromarxismus, der behauptete, er muesse zuerst die ungebildeten
Massen von oben herab erziehen, den "neuen Menschen" erschaffen, bevor
ueberhaupt an Sozialismus gedacht werden koenne. Proletarische
Selbstorganisation und Aktivitaet hingegen war ihm stets suspekt.

Im heute oft verklaerten Gemeindebau der Zwischenkriegszeit schlug
sich diese Haltung in einer Atmosphaere buerokratischer
Reglementierung und Ueberwachung nieder. Einmal im Monat besuchte der
so genannte Wohnungsinspektor den Hof und konnte unangemeldet in
Wohnungen nachsehen, ob dort auch ausreichend gelueftet wurde oder der
Zustand der Fenster, Tueren und Boeden in Ordnung war. Wie auf diese
Art ein "neuer Mensch" geschaffen werden sollte, ist fraglich.

In den Waschkuechen gab es Waschkuechenmeister - uebrigens die
einzigen Maenner, die Zutritt zur Waschkueche hatten (!) - die unter
anderem darueber wachten, dass Frauen ihre Kinder nicht mit zum
Waschen nahmen. Die oftmals grosszuegig angelegten Rasenflaechen der
Hoefe durften nicht betreten werden (und dienten damit aehnlich wie in
feudalen Schlossanlagen einzig der Repraesentation), Kinder die
dagegen verstiessen, konnten vom Hausmeister beim Wohnungsinspektor
gemeldet werden.

Die Geister, die sie rief...

In der Zweiten Republik wurde die Gaengelung der ArbeiterInnen durch
die SPOe auf die Spitze getrieben. Gemaess der
sozialpartnerschaftlichen Logik versicherte die Partei ihrer
proletarischen WaehlerInnenschaft stets, sie wuerde schon alles
erledigen, man/frau muesse sie nur waehlen.

Heute wird die SPOe von der Geschichte ihrer eigenen Politik
eingeholt. Anstatt das Gespraech mit Nachbarn zu suchen und sich
selbststaendig fuer ein gutes Auskommen im Gemeindbau zu engagieren,
glauben viele, ihre Probleme waeren nur dadurch loesbar, indem sie
vermeintliche "Boesewichte" irgendwo vernadern koennen, damit diese
dann bestraft werden. Die SPOe hat die ArbeiterInnen nicht zu
Aktivitaet, Auseinandersetzung und Diskurs erzogen, sondern zu blinder
Disziplin und Autoritaetsglaeubigkeit. Bloss will ihr die einstige
Basis nun immer weniger folgen, sondern sucht Law&Order vor allem
dort, wo dies am lautesten propagiert wird: Bei der FPOe. (leicht
gek.)

Quelle: http://www.sozialismus.net//content/view/1328



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