**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 1. Dezember 2009; 20:19
**********************************************************

Buecher:

> Eine Fundgrube


Helmut Dahmer:
Divergenzen
Holocaust, Psychoanalyse, Utopia
Verlag Westfaelisches Dampfboot, Muenster 2009
649 Seiten, EUR 49,90 (D)
ISBN 978-3-89691-770-6

Helmut Dahmers gesammelte Aufsaetze aus mehr als drei Jahrzehnten
bereiten ein nicht endenwollendes Vergnuegen: in relativer Autonomie
vom politischen Tageskampf, Grundfragen der Politik und der kritischen
Wissenschaft zu reflektieren.

Schon Gramsci, urspruenglich Literaturwissenschafter, entfuhr es
einmal: er moechte endlich mal was fuer die "Ewigkeit" produzieren -
also nicht staendig unter dem Diktat des - politischen - hic et nunc
stehen und nur das Alltagsgeschaeft besorgen. Bei der Lektuere von
Dahmers "Divergenzen" erging es mir aehnlich. Hier bietet sich die
Moeglichkeit, sich theoretisch an zentralen Fragen des 20.Jahrhunderts
und eines moeglichen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" zu reiben.

Der Bogen der zum Teil bisher unveroeffentlichten Aufsaetze spannt
sich vom "Souterrain", also dem, was "unter dem Boden sich abspielt,
auf dem wir stehen" (S.9) ueber den "Verfall der Freudschen
Aufklaerung" (S.10) bis zum "moeglichen Uebergang der gegenwaertigen
Gesellschaft in eine negative Utupie" ( ebd.).

Souterrain ist vor allem "Politik im Schatten des Holocaust" (S.11ff).
Praegnant heisst es in dem Aufsatz "Derealisierung und Wiederholung":
"Isoliert gesehen, bleibt er (der Massenmord an Juden, Polen, Russen,
Zigeunern und anderen, H.D.) so raetselhaft wie ein riesiger Schatten
ohne den, der ihn wirft. Zu fragen ist danach, welche Funktion(en) das
grosse Morden fuer das NS-Regime erfuellte, und was Millionen
Menschen, die daran beteiligt waren und es ermoeglichten, davon
hatten" (S.42). "Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert verwickelte
sich die deutsche Armee in einen ruinoesen Zweifrontenkrieg. Dem
aussichtslosen Kampf gegen die aeuesseren Feinde - den "Bolschewismus"
und die "Plutokratien"- entsprach der Vernichtungsfeldzug gegen die
"inneren Feinde" hinter den Fronten, der institutionalisierte
Dauer-Pogrom gegen Fremde und Kranke, ueberlegen Geglaubte und
Unterlegene. Darin fanden die weder oekonomisch noch militaerisch
realisierbaren Wunschtraeume der faschistischen
Zwischenklassen-Massenbewegung eine schaurige Ersatzbefriedigung"
(S.42 f.).

Die genaue, sprich historisch-konkrete Kenntnis oekomischer, sozialer
und politischer Prozesse ist unerlaesslich (insbesonders fuer die
revolutionaere Arbeiterinnenbewegung), sie allein reicht jedoch nicht
aus. Die "Innenseite" der handelnden Subjekte ist ebenso von zentraler
Relevanz - wie gerade die Machtergreifung und Machterhaltung des
deutschen Faschismus zeigt (z.B. "Volksgemeinschafts"- Ideologie ).

Die von Freud entwickelte Psychoanalyse bietet prinzipiell die
Moeglichkeit fuer solch eine "Innenschau". In dem Abschnitt "Unterm
Scheffel - Aufstieg und Niedergang der Psychoanalyse" wird diese einer
kritischen Bilanz unterzogen. Dahmer schildert die Genealogie der
Psychonalyse und beleuchtet die durchaus widerspruechliche
Persoenlichkeit ihres Gruenders (S.21ff.). Freud , der so scharf in
"Massenpsychologie und Ich-Analyse" (1921!) die regressive
Verschmelzung von Individuen zu Cliquen und Massen analysiert hatte,
versuchte die "Politik" aus der internationalen psychoanalytischen
Bewegung rauszuhalten. Selbst nach der Machtergreifung der Nazis
versuchte er - vergeblich - die Psychoanalyse in Deutschland durch
mehr als fragwuerdige " Kompromisse " mit den faschistischen
Machthabern zu retten.

Dahmer widmet sich ebenso den Versuchen, Psychonalyse
und -undogmatischen - Marxismus zu verbinden. Irr spannend sein
Beitrag ueber Siegfried Bernfeld S.218ff) oder die kritische
Wuerdigung des Schaffens von Wilhelm Reich (S.254ff).

Eine wahre Fundgrube ist die dritte Abteilung "Utopia". Von Rimbaud zu
Trotzki, von Radek bis Bloch. Wer mehr und Neues ueber Samjatin,
Lukacs, Bloch, Brecht, Radek oder Trotzki erfahren moechte - hier
bietet sich eine schier unerschoepfliche Quelle. Besonders
erschuetternd der Wandel Radeks (S.478ff.) vom Mitstreiter Lenins und
Trotzkis zum Apologeten und "Narren" (S.480) Stalins.
Ich gehe in fast allen Analysen mit meinem langjaehrigen Freund und
Kampfgefaehrten Helmut Dahmer konform. In einer nicht unwichtigen
Frage suche ich mit ihm die solidarische Debatte. In einem Beitrag aus
dem Jahre 2004 schreibt Helmut: "Soll unsere Zukunft nicht der
Vergangenheit gleichen, ist es hoechste Zeit fuer ein Minimalprogramm
der Weltbuerger des 21.Jahrhunderts." Das ist meiner Meinung nach eine
nicht ganz passende Analogie zwischen einem Trotzki - Artikel aus dem
Jahre 1939 ("Die UdSSR im Krieg") und der heutigen Situation.

Ich denke nicht, dass die Linke auf Weltebene total zusammengestutzt
ist und dass es passend waere, die von Helmut selbst, in der Tradition
des revolutionaeren Marxismus immer wieder gegeisselte Trennung in
Minimal - und Maximalprogramm aufleben zu lassen. Realistisch laesst
sich sagen , dass die internatioinale ArbeiterInnenbewegung schon seit
laengerem in der Defensive steckt (Einverleibung Osteuropas und der
ehemaligen SU in den kapitalistischen Westen; die ideologischen
Verwuestungen durch den

"Krieg gegen den Terror"). Wie bruechig die Herrschaft des Kapitals
werden kann, zeigt ihre aktuelle globale Krise und das schwindende
Vertrauen in ihre "Heilungskraefte". Ein positiver Ausweg wird nicht
ueber ein bisschen Neokeynesianismus, gepaart mit politischen
Oberflaechenkorrekturen zu erzielen sein. Daher ist die Debatte ueber
eine postkapitalistische, sprich sozialistische, selbstverwaltete
Gesellschaft, die mit dem Stalinismus aber schon gar nichts gemein
hat, GERADE JETZT notwendig (um eben die Not zu wenden). Und dort, wo
sich breite Abwehrkaempfe ergeben, sollten sie in einem
"Aktionsprogramm", und bei aufsteigender Linie der Kaempfe in einem
"Uebergangsprogarmm" zusammengefasst werden.
*Hermann Dworczak*



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin