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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 13. Oktober 2009; 19:38
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Italien/Festung Europa:

> Cap Anamur -- der Prozess, den es niemals haette geben duerfen

Elias Bierdel und seine beiden Kollegen sind doch noch freigesprochen
worden. Doch das sind nicht die einzigen Prozesse dieser Art...


Hunderte von Lichtern brennen auf der Piazza Aldo Moro im
sizilianischen Agrigento am Vorabend der Urteilsverkuendung im Fall
Cap Anamur. Eine Delegation der Luebecker Fluechtlingshilfe ist
angereist, um "ihren" Kapitaen Stefan Schmidt vor Ort zu
unterstuetzen. Sie wollen auf die Fluechtlinge aufmerksam machen, die
auf See den Tod gefunden haben, immerhin belegbar schon ueber 400 im
ersten Halbjahr 2009.

"Europa laesst sterben" heisst die kleine theatrale Inszenierung von
Heike Brunkhorst, Mitglied von Borderline Sicilia. Agostino liest aus
Schicksalen wie dem des Corrado Scala. Er war ebenfalls ein Kapitaen,
der 2002 150 Fluechtlinge aus Seenot gerettet hatte. Auch er wurde vor
Gericht gestellt und erst in dritter Instanz freigesprochen. "Europa
laesst sterben" berichtet von weiteren Kapitaenen, welche, die
retteten, wie die tunesischen Fischer, die seit 2007 vor der selben
Richterin in Agrigento auf ihr Urteil warten (Verkuendung ist auf den
17.11.2009 angesetzt) und welche, die zu 12 Jahren Haft verurteilt
wurden, da sie nicht retteten. Die traurige Geschichte der
eritreischen Fluechtlingsfrau Titti wird verlesen, die neben vier
Maennern und Jugendlichen als einzige Frau die Nichtrettung im August
2009 ueberlebte. Drei Wochen hatte man das Schlauchboot mit seinen
anfangs 82 Passagieren auf dem Mittelmeer treiben lassen, alle haben
zugesehen, niemand hat sie retten wollen.

"Wir muessen uns dafuer einsetzen, dass humanitaere Hilfe nicht
verurteilt wird! Sollte es zu einer Strafe fuer Bierdel und Schmidt
kommen muessen wir hier morgen wieder stehen und lautstark dagegen
protestieren!" Der Buergermeister der Gemeinde Palma de Montechiaro,
unweit von Agrigento, findet klare Worte und ruft die Zuhoerer auf,
dieses Unrecht nicht hinzunehmen.

7. Oktober 2009. Zwei Jahre Vorverhandlung und knapp drei Jahre
Prozess haben Elias Bierdel und Stefan Schmidt hinter sich. Beihilfe
zur illegalen Einreise im besonders schweren Fall und Gewinnstreben
durch Medienwirksamkeit wurde ihnen vorgeworfen. Um 9:30 Uhr tritt das
Gericht zusammen und fragt die Staatsanwaltschaft, die immerhin vier
Jahre Haft und jeweils 400.000 Euro Geldstrafe von beiden gefordert
hatte, ob sie etwas auf die Plaedoyers der Verteidigung vom letzten
Verhandlungstag entgegnen moechten. Die Staatsanwaltschaft verneint.
Das Gericht zieht sich fuer drei Stunden zur Beratung zurueck.

Kurz vor 13 Uhr tritt es erneut unter dem Blitzlichtgewitter der
Kamerateams und der Presse zusammen. Kurz und knapp verliest Antonina
Sabatino, vorsitzende Richterin das Urteil: Freispruch! In keinem der
Anklagpunkte wird der Staatsanwaltschaft recht gegeben. Bierdel,
Schmidt und auch der erste Offizier, sind frei. Ein begeistertes
Klatschen geht durch den Gerichtssaal, Freunde und Unterstuetzer
freuen sich ebenso wie die Medienvertreter.

Alle hatten auf dieses Urteil gehofft, dennoch gab es auch bei den
Verteidigern bis zum Schluss Zweifel: "2 und 2 ist 4 in der
Mathematik, aber nicht in der Justiz", so Verteidiger Vittorio Porzio.

"Wir bedanken uns fuer die Unterstuetzung, dir wir in diesen fuenf
Jahren von Menschen erhalten haben, die wir nicht kannten und die uns
nicht kannten. Ohne sie haetten wir das nicht durchgehalten", so Elias
Bierdel auf der von Borderline Europe und Borderline Sicilia
organisierten Pressekonferenz nach der Urteilsverkuendung. Stefan
Schmidt beschreibt noch einmal den Zweck, den die Cap Anamur hatte:
Hilfslieferungen fuer Krisengebiete zu organisieren. So hatte die Cap
Anamur bei ihrer Fahrt im Juni 2004 Container mit einer
Krankenhauseinrichtung fuer den Irak an Bord.

Schmidt aeussert sich froh um den Ausgang des Prozesses, fuegte aber
auch hinzu, dass das viele Geld, das in fuenf Jahre Prozess gesteckt
worden war, besser fuer die direkte Fluechtlingshilfe haette
ausgegeben werden koennen. Verteidiger Vittorio Porzio betont noch
einmal, dass die Angeklagten den Gerichtssaal durch den Freispruch
wenigstens mit Wuerde haben verlassen koennen. Wichtig sei zudem das
Zeichen, das der Freispruch setzt: internationales Recht, vor allem
internationales Seerecht habe sehr wohl einen Stellenwert und findet
Beachtung! Das Gericht habe somit die fundamentalen Prinzipien dieser
Rechte bekraeftigt. Porzio erklaert noch einmal, warum die Cap Anamur
so lange einen Hafen gesucht habe: ein Kapitaen habe die Verantwortung
fuer die Schiffbruechigen und er muss laut internationalem Seerecht
einen fuer Leib und Leben sicheren Hafen finden. Sein Kollege Ivan
Simeone ergaenzt, dass dieser Prozess niemals haette stattfinden
duerfen. Er hat in den langen Jahren seiner Dauer falsche Signale
ausgesendet. Durch den Freispruch sei den Angeklagten aber immerhin
die Wuerde wieder gegeben worden, die man ihnen in fuenf Prozessjahren
versucht hat zu nehmen.

Porzio betont, dass das harte Durchgreifen in der Migrationspolitik
jedoch nicht nur ein italienisches, sondern ein europaeisches Thema
sei, welches man auch auf der europaeischen Ebene diskutieren - und
aendern - muesse.

Auf die Frage, ob es Schadensersatzforderungen geben wird antworten
die Anwaelte, dass die vier Tage Haft sowie der Reputationsverlust
sehr wohl Grundlage fuer eine Forderung seien, aber man warte erst
einmal die Urteilsbegruendung ab.

(Judith Gleitze, borderline-europe /bearb.)

Quelle: http://www.borderline-europe.de/news/news.php?news_id=90


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Anmerkung: Bierdel und seine Leidensgenossen sind dennoch abgestraft
worden -- durch den Prozess. Bierdel, der Begruender der
Hilfsorganisation Cap Anamur, musste den Vorsitz der Organisation
zuruecklegen und hatte mit schweren oekonomischen Problemen zu
kaempfen. In einem kuerzlich erschienen Interview mit MO, dem Magazin
von SOS Mitmensch, erzaehlte er: "Bei der ARD meinten sie: Den kann
man nicht mehr beschaeftigen, der steht ja vor Gericht. Und was die
anderen Jobs betrifft, scheitert es daran, dass die
Verhandlungstermine in Italien spontan festgesetzt werden. Und wenn du
hin musst, dann immer gleich fuer ein paar Tage. Ich hatte mal einen
Producer-Job fuers Fernsehen, und sie wollten von mir eine Zusage,
dass ich beim ganzen Dreh dabei bin. Erst wollte ich Ja sagen, musste
dann aber prompt in der Woche, als in Kiew gedreht wurde, nach
Sizilien. Ich habe in den fuenf Jahren alle Jobs verloren, und als
dann meine Ersparnisse weg waren, Sozialhilfe bezogen. Seit dem
Jahreswechsel versuche ich mich da wieder rauszuarbeiten - mit
Vortraegen, kleinen Auftragsarbeiten." Auch so kann Strafe aussehen.
Ob man sowas mit einer Schadenersatzforderung wieder hereinbringen
kann, ist mehr als fraglich. Denn dann muessten die Beklagten der
Staatsanwaltschaft wohl Boeswilligkeit und Amtsmissbrauch
nachweisen... (red)



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