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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 24. Maerz 2009; 19:23
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Frankreich:

> Aufsteigende soziale Mobilisierung und Radikalisierung

Am 19. Maerz fand der zweite Generalstreik dieses Jahres statt. Drei
Millionen Menschen gingen auf 220 Demonstrationen in ganz Frankreich
auf die Strasse.
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"Ein bisschen nachgeben heisst viel kapitulieren!", "Die Krise sind
sie - Die Loesung sind wir!" Dies waren nur zwei zentrale Losungen auf
der Demonstration in Paris. Sie geben jedoch den Ton an, dass die
Gewerkschaftsbuerokratie keine faulen Kompromisse eingehen darf und
dass der Widerstand an Selbstbewusstsein gewonnen hat.

Der zweite Aktionstag in diesem Jahr - der erste hatte am 29. Januar
stattgefunden- drueckte sich durch eine noch um 20% hoehere
Mobilisierung aus, als der erste. Nach Angaben der Gewerkschaft CGT
haben 3 Millionen Menschen ihren Unmut und ihre Wut gegen die Krise
und Sarkozys passive Krisenpolitik ausgedrueckt. Alle acht
Gewerkschaften (CGT, CFDT, FO, SUD, UNSA, CFE-CGC, FGACC; CFTC)
konnten bis dato die Einheit wahren. Obwohl es diesmal eine etwas
geringere Streikbeteiligung gab (29. Jaenner: 25% - 19. Maerz: 21%),
waren eine halbe Million Menschen mehr auf die Strasse gegangen als im
Jaenner. Die geringere Streikbeteiligung laesst sich auf die immer
prekaerere Situation der Menschen, die meist weniger als € 1.000,--
pro Monat verdienen, zurueckfuehren und auf einen einzelnen
Aktionstag, der nicht geeignet ist, die Regierung und den
Unternehmerverband (Medef) zurueckweichen zu lassen.

Rueckendeckung erhielt der Widerstand von mehr als zwei Drittel der
Bevoelkerung, die die Proteste als gerechtfertigt ansehen und grosse
Sympathien dafuer hegen. Standen die Proteste am 29. Jaenner noch
unter dem Motto einer Anhebung der Kaufkraft, so trat diesmal der
Kampf gegen die Entlassungen und Auslagerungen in den Vordergrund. Die
Krise hat sich innerhalb von nur 7 Wochen schon so vertieft, dass sie
bereits deutliche Spuren hinterlaesst. Die Protestbewegung antwortet
mit Forderungen von einer Anhebung des Mindestlohns auf 1.600 Euro bis
zur Ruecknahme der Zerstoerung von zehntausenden Arbeitsplaetzen im
oeffentlichen Dienst, in dem Sarkozy nur jeden zweiten Pensionsabgang
nachbesetzen will, aber auch gegen massive Entlassungen,
Fabrikschliessungen und Auslagerungen im privaten Sektor. So im
Automobilsektor bzw. bei Continental (Reifen): 1.200 ArbeiterInnen
wehren sich seit Wochen gegen die Fabrikschliessung und fuehlen sich
reingelegt, da sie vor 2 Jahren akzeptiert hatten, von der 35
Stundenwoche abzuruecken und wieder 40 Stunden pro Woche zu arbeiten.
Als Gegenleistung erhielten sie die Zusicherung, dass bis 2011 keine
Stellen abgebaut werden. Jetzt soll mit der "Begruendung" Krise gleich
das ganze Werk geschlossen werden.

Bei den massiven Demonstrationen in 220 Staedten in ganz Frankreich
stellten die Beschaeftigten des Oeffentlichen Dienstes immer noch den
groessten Teil der DemonstrantInnen, aber im Vergleich zum letzten
Aktionstag hat der Privatsektor deutlich zugelegt. Ob die
Hafenarbeiter in Marseille, die gesamte Continental-Belegschaft, die
von ihrem besetzen Werk bis in die 5 km entfernte Kleinstadt Compiègne
zogen, in der sie auf 10.000 solidarische Demonstranten stiessen...

Die Belegschaft von Sony sperrten ihren Fabriksdirektor Foucher
kurzerhand eine ganze Nacht lang ein, als er vor der Schliessung des
Betriebes ein letztes Mal dort auftauchte. Und siehe da: Nach dieser
Nacht war er wieder bereit, ueber die versprochenen hoeheren
Abfindungen fuer die Entlassenen zu sprechen.

In der Nacht vom 17. zum 18. Maerz bewarfen in Paris etwa 200
StudentInnen die Polizei mit Flaschen und Steinen.

Seit 6 Wochen gibt es Streiks auf universitaerer Ebene gegen die
"Autonomie der Unis" zur Mangelverwaltung und in gegenseitiger
Konkurrenz sowie gegen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen.
Lehrende und StudentInnen hatten sich massiv an den Protesten
beteiligt, ebenso auch die Generation der PensionistInnen, die nach 40
Beitragsjahren weniger als tausend Euro bekommen und bei zunehmend
steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr ueber die Runden kommen.
Sie haben das Bild im Vergleich zum letzten Protesttag spuerbar
veraendert.

Am 29. Jaenner hatte Sarkozy noch eine Auslandsreise verschoben, auf
den Protesttag gehoert und auf einem Sozialgipfel am 16. Februar
versprochen, 2,6 Milliarden fuer soziale Belange locker zu machen (was
die Gewerkschaften allerdings als laecherlich empfanden). Diesmal war
er in Bruessel und liess durch seinen Premier Francois Fillon
ausrichten, dass die Staatskassen leer seien und mit keiner Anhebung
der Kaufkraft zu rechnen sei. Es wurde lediglich wiederholt, dass bis
Juni die 2,6 Milliarden im sozialen Bereich eingesetzt wuerden.

Die Oppositionspolitiker der SP und KP zeigten sich auf den Demos. Da
es aber um gewerkschaftliche Proteste geht, sind die Parteien nicht
als solche in den Demozuegen vertreten. Die Opposition ist jedoch noch
immer zerstritten und konzeptlos gegenueber der Finanz- u.
Wirtschaftskrise. Zwei Drittel der Franzosen sprechen der SP jegliche
Kompetenz in Fragen der Wirtschaftskrise ab.

Die neu gegruendete NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) mit Olivier
Besancenot -- der als SUD-Gewerkschafter demonstriert -- versucht, die
Idee eines unbefristeten Streiks und die Blockade des Landes
voranzutreiben, um eine echte Kraftprobe mit den Herrschenden
anzupeilen. Momentan wird das Beispiel Guadeloupe und Martinique
propagiert - Ueberseegebiete, in denen es gerade 44 bzw. 38 Tage
andauernde Generalstreiks gegeben hat - die von einem ganz breiten
Buendnis getragen worden waren und wo 200 Euro Lohnerhoehung und
zahlreichen anderer Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Angesichts der ansteigenden Mobilisierungsbereitschaft ueberlegen die
Gewerkschaftszentralen, nicht bis zur 1. Mai Demonstration warten,
sondern im April dezentrale Aktionen in allen Regionen durchzufuehren,
die sich gegen Entlassungen und Betriebsauslagerungen richten sollen.
Dies wuerde die gewerkschaftliche Einheit staerken und bewahrt die
Gewerkschaftsleitungen davor, nochmals zu einem einzelnen Aktionstag
aufzurufen, der die Regierung wieder nicht zum Handeln zwingen kann.
Die Regierung will nicht verhandeln und die Unternehmerschaft hatte
sogar provokativ auf diesen Aktionstag reagiert. Obwohl sich sogar in
Sarkozys UMP Proteststimmen gegen die Steuergeschenke an die
Millionaere erhoben hatten, beschloss er, daran nichts zu aendern. Im
Gegenteil haben gerade 834 Millionaere eine Steuerrueckerstattung von
jeweils im Schnitt 368.000 Euro fuer das Jahr 2008 erhalten. Die
Aktionaere vom CAC 40 erhielten fuer 2008 eine Ausschuettung von 65
Milliarden Euro. Derartige Provokationen stossen gerade in Zeiten der
Krise auf mehr als nur Unverstaendnis in der Bevoelkerung.

Zum Vorwurf, Sarkozys Partei UMP und die dahinter stehende
Medienlandschaft beguenstige Olivier Besancenot und die neugegruendete
antikapitalistische Partei (NPA), um die Opposition, d.h. SP und KP,
zu schwaechen, um so das Terrain fuer eine weitere Regierungsperiode
die Mehrheit der Rechten zu sichern (So wie dies Mitterrand einst tat,
indem er die Rechtsextreme Front National von Le Pen beguenstigt, die
Rechte spaltete und so fuer die SP die Macht behielt): Sarkozy hatte
diese Strategie ganz offen angekuendigt.

Zurzeit ist die SP nach ihrem Kongress jedoch immer noch ein
Truemmerhaufen, der nicht wirklich in die politischen Belange
eingreifen kann. Die KP haengt an ihrem Gaengelband, um ihre Mandatare
bei den Wahlen zu retten und tatsaechlich sieht die Mehrheit der
Franzosen und Franzoesinnen -- vor allem bei SP-Sympathisanten -- in
Olivier Besancenot den einzig echten, glaubhaften oppositionellen
Widersacher gegenueber der Politik von Sarkozy.

Die NPA traegt zur Radikalisierung bei und plaediert fuer einen
"unbefristeten Streik", der immer wieder von der Basis neu beschlossen
wird. Das gelungene Beispiel auf Guadeloupe [Anm. siehe auch weiteren
akin-pd von heute] inspiriert und ermutigt sie dazu.

Wie weiter? Die Bildungsgewerkschaften kuendigten bereits weitere
Streiktage fuer April an. Die acht Gewerkschaftsgruppierungen, die
bisher gemeinsam die zwei Aktionstage organisiert hatten, beschlossen
am 20. Maerz lediglich, sich wieder am 30. Maerz zusammenzusetzen, um
weitere Schritte zu ueberlegen.

"Ein 24-stuendiger Streik und Demonstrationen werden nicht ausreichen,
die Regierung und die UnternehmerInnenschaft zum Nachgeben zu zwingen.
Um Entlassungen zu verbieten, die Loehne anzuheben und die Preise zu
senken, wird ein verlaengerter Generalstreik noetig sein, damit diese
Forderungen umgesetzt werden koennen" heisst es in einer Erklaerung
der NPA vom 20. Maerz.
(Johann Schoegler auf linke.cc / gek.)

Quelle: http://linke.cc/news/article.php?story=20090321014737137


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