**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. September 2008; 16:41
**********************************************************

Soziales:

> Armut als Sicherheitsrisiko

Der Traisener Amoklauf mag die Verzweiflungstat eines Verrueckten
gewesen sein. Doch er offenbart, was Armut aus einem Menschen machen
kann.
*

"Ich will auf die Bedingungen aufmerksam machen, unter denen viele
prekaer Beschaeftige leben", hat der mutmassliche Amoklaeufer von
Traisen geschrien, als er sich im VOEST-Werk verschanzt hatte.
"Schiesst mir in den Kopf. Meine Pistole hat eine Ladehemmung", hat er
die Polizisten angefleht, die ihn nach viereinhalb Stunden
ueberwaeltigen. Laut Polizei hat er einen Arbeiter angeschossen.
Offenbar aus Rache. Ein Streit mit dem Mann hatte dazu gefuehrt, dass
der Verdaechtige nach einem Monat Leiharbeit im Stahlwerk entlassen
worden war. Auch Kollegen hatten gegen ihn Stimmung gemacht, zum Teil
ebenfalls Leiharbeiter. "Er hat zu wenig Pfeffer", sagten sie den
Verantwortlichen. Die Personalueberlassungsfirma, bei der er
beschaeftigt war, liess ihn ebenfalls fallen. Ein klassischer Fall von
Mobbing.

Der Mann fiel ins Bodenlose. Mit dem Arbeitslosengeld kam er kaum
ueber die Runden. Dabei hatte er Schulden von 50.000 Euro - zuhause
fuehrte das nicht nur einmal zum Streit. Das hat seine Frau gegenueber
Medien gesagt. Das Selbstwertgefuehl des Verdaechtigen, den Bekannte
ohnehin als schwierig beschreiben, war dahin. Er verbrachte seine Zeit
in AMS-Kursen und versuchte, sich um seine Kinder zu kuemmern. Kurz
vor den Schuessen auf dem VOEST-Werksgelaende hatte er seine
vierjaehrige Tochter in den Kindergarten gebracht.

"Mit ihm hat es immer wieder Probleme gegeben", schildert ein
Bekannter des Verdaechtigen der akin. "Aber dass er faehig ist, auf
einen Menschen zu schiessen, das haette niemand hier geglaubt. Auch
keiner, der ihn besser kannte als ich". Immer wieder duerfte sich der
49-Jaehrige mit Freunden ueberworfen haben, oft wegen Kleinigkeiten.
"Er war eher ein Einzelgaenger", sagt sein Bekannter. "Seine Frau
hingegen ist eine Nette, die auf Menschen zugeht, mit der man auch
reden kann. Alleine, wie gut sie heute Deutsch spricht". Sie hatte den
wesentlich Aelteren in Rumaenien kennengelernt und war mit ihm nach
Oesterreich gezogen. Laut den Schilderungen des Bekannten nicht nur
aus Liebe. Die Hoffnung auf ein besseres Leben duerfte auch eine Rolle
gespielt haben. "Das hat er ihr nicht bieten koennen". Die 31-Jaehrige
tut ihm Leid. "Schade, dass sie da hineingezogen worden ist". Sie habe
sich blenden lassen.

Als die Frau ihm wegen Untreue mit Scheidung droht, wird es zu viel
fuer ihn. Seine ganze Wut duerfte sich auf den Mann konzentriert
haben, den er fuer den Schuldigen gehalten hat. "Ich war emotional
sehr geladen und wollte ihn nur erschrecken", hat der Verdaechtige
seinem Anwalt erzaehlt. Er bestreitet den Amoklauf nicht."Er hat in
dem Menschen den Grund allen Uebels gesehen", sagt Verteidiger
Nikolaus Rast gegenueber Medien.

Die klassischen Zutaten fuer einen Amoklauf: die vage Hoffnung auf
Gelegenheitsarbeiten durch die Leiharbeitsfirma, die finanzielle Lage,
die zu Streit zu Hause fuehrt, moeglicherweise auch einen
Versicherungsbetrug ausloest, der der juristischen Aufarbeitung harrt,
dann Mobbingopfer und Arbeitslosigkeit und eine Pistole, die auf dem
Dachboden des Vaters herumliegt. Mag der Mann vorher das gewesen sein,
was gemeinhin als Querulant bezeichnet wird. Die Arbeitslosigkeit, die
Armut haben ihm nach den aktuell vorliegenden Informationen den Rest
gegeben.

Ein Extremfall, zugegeben. Bei aller Vorsicht illustriert er aber,
dass Armut mehr ist als das Leid der Betroffenen. Armut ist eine
latente Gefahr in dieser Gesellschaft. 83 Prozent aller Arbeitslosen
liegen laut einer Studie der niederoesterreichischen Arbeiterkammer
mit ihrem Arbeitslosengeld unter der Armutsschwelle. Macht gut 150.000
Menschen, die wegen Arbeitslosigkeit in struktureller Armut leben oder
strukturell armutsgefaehrdet sind. "Dass "nur" 30 Prozent der
Arbeitslosen in akuter Armut leben, haengt damit zusammen, dass das
Einkommen der Partner den Rest vor dem Absturz bewahrt", sagt ein
AK-Experte. Der Sozialstaat greift nicht mehr. 60 Prozent aller
derzeit Beschaeftigten wuerden bei Arbeitslosigkeit mit dem ALG unter
die Armutsschwelle rutschen. Wer weniger als 2.150 Euro brutto
verdient, den rettet nur ein Partnereinkommen vor Armut. Angesichts
der letzten Wirtschaftsdaten fuer viele eine mehr als nur theoretische
Gefahr. Es gibt keinen ernstzunehmenden Oekonomen, der nicht erwartet,
dass Tausende Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Und es
wird vor allem die treffen, die weniger als 2.150 Euro brutto
verdienen. Prekaer Beschaeftigte wie Leiharbeiter und Freie
Dienstnehmer, Hilfsarbeiter, Frauen, Migranten, schlecht ausgebildete
Menschen. "Diese Gruppen haben ein ueberdurchschnittlich hohes Risiko,
arbeitslos zu werden", sagt ein AK-Experte. Flaut die Konjunktur ab,
werden zuerst die Billigarbeitskraefte abgebaut, die die Firmen zur
Abdeckung der Auftragsspitzen in der Hochkonjunktur aufgenommen
hatten. Das erhoeht den sozialen Druck unter denen, die noch einen Job
haben. "Unter Freien Dienstnehmern ist die Konkurrenz am groessten",
sagt ein Bildhauer der akin. Der junge Mann arbeitet fuer eine Firma,
die diverse Bau- und Transportarbeiten im Kulturbereich macht.
"Mobbing ist da keine Ausnahme. Jeder hofft, dass er aufsteigt, wenn
ein Kollege den Arbeitsplatz verliert. Oder er erwartet, seinen
Arbeitsplatz dadurch zu halten". Ein Phaenomen, das es - zumindest
teilweise - auch bei Leiharbeitern gibt. Der mutmassliche Amoklaeufer
aus Traisen ist keine Ausnahme. Die Angst, ins finanzielle Nichts zu
stuerzen, setzt Menschen psychologisch unter Druck. Stress mit all
seinen sozialen Konsequenzen, mit psychologischen und
gesundheitlichen, ist ein Phaenomen der Arbeiterklasse, vor allem der
Gruppen, die am prekaersten leben.

Aggressivitaet ist eine der moeglichen Konsequenzen dieses
finanziellen Drucks. Je hoeher der Druck wird, je mehr Menschen er
betrifft, desto mehr wird sich diese Gesellschaft mit diesem Phaenomen
auseinandersetzen muessen. Armut ist nicht nur ein Problem der
Betroffenen. Armut ist ein Sicherheitsrisiko. Ein Risiko, dass sich
diese Gesellschaft auf Dauer nicht leisten kann. Repression
funktioniert nicht und ist auf Dauer eine sehr teure Angelegenheit.
Die einzige Moeglichkeit, dieses Sicherheitsrisiko auszuschalten, ist
die Bekaempfung von Armut. Konzepte liegen in ausreichender Zahl am
Tisch.
*Viktor Englisch*


***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin