**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 2. September 2008; 14:57
**********************************************************

Schweden:

> Das Volksheim broeckelt

Die Gewerkschaften wollen die Sozialpartnerschaft retten - mit
Werbekampagnen und Einschraenkungen bei Kuendigungsschutz und
Streikrecht


Jahrzehntelang galt Schweden unter Sozialdemokraten als Modell fuer
den "Dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Inzwischen
broeckelt das "Volksheim" an allen Ecken und Enden. Waehrend die
Sozialdemokratische Partei auch in Schweden nach dem Fall der Mauer
und dem Beginn der "Globalisierung" in die "Neue Mitte" gerueckt ist
und bis zu ihrer Abwahl im September 2006 eine neoliberale Politik
betrieb, wollen die Gewerkschaften ihren zunehmenden Bedeutungsverlust
nun mit groesserer Verzichtsbereitschaft stoppen.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist seit 1993, als er infolge
der schweren Wirtschaftskrise seinen hoechsten Stand erreichte, von
85% auf 72% im Oktober 2007 gefallen, wobei der Niedergang unter den
Arbeitern noch staerker ausfiel als bei den Angestellten. Besonders
besorgniserregend ist allerdings, dass von den Beschaeftigten im Alter
von 16 bis 24 Jahren nur noch 52% Mitglied einer Gewerkschaft sind und
sich der Mitgliederverlust in den letzten zwei Jahren deutlich
beschleunigte. Der groesste Gewerkschaftsbund, die Landsorganisationen
i Sverige (LO) verlor allein im vergangenen Jahr 130.000 Mitglieder.
Dem Zentralverband der Angestellten (TCO) erging es aehnlich, waehrend
die Akademikerzentralorganisation (SACO) noch am besten abschnitt.

In Mittel- und Suedeuropa koennte das als Leiden auf beneidenswert
hohem Niveau betrachtet werden, liegt doch z.B. der Organisationsgrad
der Gewerkschaften in Deutschland gerade mal bei gut einem Drittel.
Die zahlenmaessige Staerke der schwedischen Gewerkschaften haengt
allerdings in starkem Masse mit ihrer Rolle in der
Arbeitslosenversicherung zusammen. Bislang besitzen sie das Monopol
darauf, weshalb von der LO-Vorsitzenden Wanja Lundby-Wedin und ihren
Vorstandskollegen in erster Linie die Reform der Sozialversicherung
fuer den eigenen Niedergang verantwortlich gemacht wird. Die neue
konservativ-liberale Regierung Reinfeldt hatte unmittelbar nach ihrem
Amtsantritt im Oktober 2006 tiefgreifende Veraenderungen beschlossen.
So wurden die Beitraege ab dem 1.Januar 2007 auf monatlich 300 Kronen
(31,73 Euro) angehoben, die Zugangsbedingungen heraufgesetzt, die
Leistungen gesenkt und die Zumutbarkeitsbedingungen verschaerft.
Angesichts der guten Wirtschaftsentwicklung verzichteten viele
Beschaeftigte fortan auf eine solche Absicherung.

Das untergraebt nicht nur die tarifpolitische Verhandlungsposition der
drei grossen Gewerkschaftsbuende, sondern bedeutet auch einen
empfindlichen Einnahmenverlust, da die Versicherungsbeitraege auch zur
Finanzierung ihrer Apparate dienten.

Die Reaktion der Gewerkschaften erfolgte auf zwei Ebenen. Zum einen
haben LO und TCO umfangreiche Mitgliederwerbekampagnen gestartet.
Waehrend die vor allem Arbeiter organisierende LO etwas hoelzern "Fuer
ein staerkeres Gewicht der Gewerkschaft!" wirbt, initiierte die
Zentralorganisation der Angestellten gleich eine
"Gewerkschaftstransformation". Ueber eine virtuelle Internetplattform
koennen Mitglieder Veraenderungsvorschlaege machen, ohne sich von
ihrem Sessel zu erheben und an einer realen Versammlung teilnehmen zu
muessen. Dass damit, wie proklamiert, bis 2012 die grosse "Wende"
gelingt, glauben vermutlich nicht einmal die fuehrenden Funktionaere.

Zumindest signalisieren sie parallel dazu den Arbeitgeberverbaenden
grosses Entgegenkommen, sofern diese zu einer Fortsetzung des
sozialpartnerschaftlichen Modells bereit sind.

Fuer die Forderungen nach einer Abschaffung des gesetzlichen
Kuendigungsschutzes zugunsten einer moeglichst lockeren Vereinbarung
auf tariflicher Ebene und eine Reglementierung des Streikrechts sind
LO, TCO und SACO offen. "Wir sagen niemals Nein zu Verhandlungen",
erklaert der stellvertretende LO-Chef Erland Olausson. Gemeinsam mit
den Arbeitgebern wehren sie sich zudem gegen die Einfuehrung eines
gesetzlichen Mindestlohnes, von dem sie eine Verschlechterung des
Lohnniveaus erwarten und den sie als Eingriff in ihre "Kompetenzen"
ablehnen.

Im Nacken sitzt den Gewerkschaften dabei nicht nur die buergerliche
Regierung im eigenen Land, sondern auch die EU-Buerokratie und ihre
Richter. Ein einschneidendes Erlebnis war der Urteilsspruch des
Europaeischen Gerichtshofes, der im Dezember 2007 die Kampfmassnahmen
gegen die lettische Baufirma Laval fuer unrechtmaessig erklaerte.
Laval hatte 2004 eine Schule in Vaxholm vor den Toren Stockholms
renoviert. Die Firma zahlte den lettischen Bauarbeitern Loehne, wie
sie in Lettland ueblich waren, ein schwedisches Tarifabkommen wollte
sie nicht abschliessen. Die schwedische Baugewerkschaft blockierte
daraufhin die Baustelle und zwang die Firma nach einigen Wochen zur
Aufgabe. Das zustaendige Arbeitsgericht verwies die Frage wegen der
Freizuegigkeit innerhalb der EU jedoch an den Europaeischen
Gerichtshof. Der urteilte daraufhin, dass es auslaendischen
Unternehmen nicht zuzumuten sei, sich an die komplizierten
schwedischen Arbeitsmarktregeln zu halten und diese dem EU-Recht
angepasst werden muessen.

Die Gewerkschaftsfuehrungen setzen demgegenueber auf Nostalgie. Das
gilt auch fuer die auf dem LO-Kongress Anfang Juni noch einmal
bekraeftigte "enge Kooperation" mit der Sozialdemokratischen Partei.
Die Arbetarepartiet-Socialdemokraterna hatte allerdings im September
2006 mit 35% (- 4,9%) ihr schlechtestes Ergebnis seit Einfuehrung des
allgemeinen Wahlrechts erzielt - die Quittung fuer eine wenig
"arbeitnehmerfreundliche Politik". Da auch die aus der KP
hervorgegangene Linkspartei Vaensterpartiet 2,5% einbuesste und auf
5,85% absackte, ist eine "befreundete Regierung" inhaltlich wie
zahlenmaessig in naeherer Zukunft wenig wahrscheinlich.

Umso fataler waere eine gewerkschaftliche Selbstdemontage. Eine
Lockerung des Kuendigungsschutzes und eine Einschraenkung des
Streikrechts wuerde die Bedingungen der Jugendlichen, die massiv unter
prekaerer Beschaeftigung in Form von Zeitvertraegen oder
Teilzeitarbeit leiden, weder verbessern noch sie vom Nutzen
gewerkschaftlicher Organisierung ueberzeugen.
(Waldemar Bolze, Gewerkschaftsforum Hannover, gek.)

Kontakt:
gewerkschaftsforum-H{AT}web.de
Quelle: http://www.labournetaustria.at



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin