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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 27. Mai 2008; 15:17
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Kurdistan/Zeitgeschichte:

> Die vergessene Republik um Laçin

Als die Kurden ueber sich selbst entschieden

Nach der Verhaftung Abdullah Oecalans schien es fuer kurze Zeit ruhig
um das Volk der KurdInnen. Doch damit ist nun schon lange vorbei. Die
PKK hat ihren Kampf wieder begonnen, im Norden des Irak regiert eine
kleine Fraktion der kurdischen US-FreundInnen und Oecalan bleibt im
Gefaengnis.

Doch das Volk im Norden Mesopotamiens, der Wiege der menschlichen
Zivilisation, zerteilt in mehrere Staaten, hat bis heute keine
nationale Unabhaengigkeit. Selbst im Norden des Irak wird sie ihnen
nur so weit zugestanden, wie sie dem Imperialismus selbst dient.

Es gab eine Zeit, in der ein Teil des kurdischen Volkes besser leben
konnte, als im gesamten Rest seiner Geschichte - im Roten Kurdistan.

Nach der Revolution lebte auf dem Gebiet im suedlichen Kaukasus, das
spaeter Teil der Sowjetunion werden sollte, ein nicht zu uebergehender
Teil an KurdInnen. Sie waren in zwei Wellen, einer zur Zeit des
osmanisch-russischen Krieges und einer kurz nach der Revolution, sogar
bis nach Sowjetrussland gekommen.

Vor allem im heute zu Aserbaidschan gehoerenden Gebiet, westlich von
Berg-Karabach, um die 10.000-Seelen-Kleinstadt Laçin, sammelten sich
KurdInnen. Hier hatten bereits im 18. Jahrhundert kurdische Nomaden
gesiedelt. Kurz nach der Bildung der Sowjetrepublik in Aserbaidschan
wurde das Gebiet Teil von ihr (1920). Drei Jahre spaeter war es dann
soweit, das Gebiet wurde am 23. Mai 1923 zu einer autonomen Provinz,
genannt Oblast, mit dem Namen Rotes Kurdistan. Offiziell wurde die
Entscheidung am 7. Juli 1923 vom hochrangigen Funktionaer und
langjaehrigen Bolschewiki Kirov unterzeichnet.

Laut Aufzeichnungen sollen hier nach der Revolution 60.000 KurdInnen,
exklusive den KurdInnen in anderen Teilen des Suedkaukasus, gelebt
haben. Amtssprache wurde Kurmandschi und das Verwaltungszentrum Laçin.
Doch andere kurdisch-dominierte Gebiete durften sich dem Oblast nicht
anschliessen.

Ziel der Fuehrung in Moskau war es, eine gemeinsame Heimstaette fuer
die KurdInnen des Kaukasus zu schaffen - ein aehnliches Konzept wie es
zuvor bei den ArmenierInnen in der Provinz Karabach durchgefuehrt
wurde und mit Birobidschan spaeter fuer die juedische Bevoelkerung der
Sowjetunion angedacht werden sollte.

Lenin hatte selbst ein Entwicklungsbudget von 40 Mill. Rubel fuer den
Ausbau der Infrastruktur und der Bildung fuer die neue Autonomie
angeordnet. Doch von Beginn an sollte die Autonomie ein Spielball in
der Hand der sich neu herausbildenden Buerokratie werden.

Die Interessen zwischen Armenien, Aserbaidschan und dem aus Georgien
stammenden Stalin sollten an dieser Frage zusammen prallen. Das Budget
wurde nach dem Tod Lenins von der stalinistischen Fuehrung in die
Kassen der ArmenierInnen gelenkt - um die Aserbaidschanische Republik
zu schwaechen.

Rasch formierte sich Widerstand der KurdInnen gegen die Beschneidung
ihrer Autonomie durch die Buerokratie. Dies sollte ihr Ende
beschleunigen. Bereits sechs Jahre nach der Etablierung des Roten
Kurdistan wurde es 1929 durch Beschluss des sechsten
Aserbaidschanischen Sowjetkongresses am 8. April 1929 wieder
aufgeloest. Grund war die Intervention des Generalsekretaers der KP
Aserbaidschans, Nariman Bagirov, in Moskau.

Vom 30. Mai bis 23. Juli 1930 existierte nochmals fuer fast drei
Monate eine kurdische Autonomie in der Region, die diesmal auch
weitere Bezirke umfassen sollte.

Bis in die Zeit der Grossen Saeuberungen und Stalins Schwenk zum
grossrussischen Sowjetchauvinismus wurden die KurdInnen als Nation
aber weiter gefoerdert - auch wenn sie kein autonomes Gebiet mehr
hatten. Kurdische Schulen wurden eroeffnet und Anfang 1937 wurde in
Jerewan, der Hauptstaft Armeniens, erstmals die kurdische Zeitung Riya
Teze publiziert. (Andere Quellen sprechen von einer Gruendung bereits
im Jahr 1931 oder 1932).

Bis dahin wurden nahezu dreissig kurdische Buecher in Aserbaidschan
publiziert, nachdem beim nationalen Minderheitenkongress 1931 in Baku
die Aserbaidschanische Sowjetrepublik wegen ihrer harten Haltung gegen
die KurdInnen geruegt wurde.

Doch bereits 1938 veraenderte sich das Bild radikal. KurdInnen wurden
deportiert, die Zeitung als sinowjew'sche und trotzkistische
Propaganda verfolgt. Viele der ehemaligen politischen Fuehrer der
kurdisch-sowjetischen Autonomierepublik wurden in den Schauprozessen
verurteilt. Die kurdische Sprache wurde verboten und alle Schulen
geschlossen.

Waehrend des Zweiten Weltkrieg ging es den KurdInnen noch schlechter.
Als nach dem Hitler-Stalin-Pakt im August und der Zerschlagung Polens
im September 1939 eine franzoesische Intervention ueber Persien
drohte, erkannte der Innenminister Lawrenti Beria in den KurdInnen
ploetzlich ueberhaupt kollektiv "volksfeindliche Elemente" und liess
nun den Rest von ihnen von der Grenze deportieren.

Doch viele KurdInnen setzten ihren Kampf gegen den Stalinismus und
fuer ein sozialistisches Kurdistan als Teil der Sowjetunion im Exil
weiter fort. Aus Kasachstan kam Propagandamaterial in die Region und
die kurdische Nationalitaet wurde dadurch von der Buerokratie noch
staerker unterdrueckt. "Bergbewohner" und "Bergtuerken" waren beliebte
Schimpfwoerter.

Zwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen der kurdischen Zeitung
entstand in Armenien ein kurdisches Radio sowie ein kurdisches
Sprachinstitut, das aber aus Geldmangel zwei Jahre spaeter seine Tore
wieder schliessen musste.

Vor allem im Exil wurde weiter fieberhaft vom "vergangenen Paradies"
getraeumt und fuer seine Wiederkehr gekaempft. Die Hoffnungen wurden
nach Stalins Tod in Chrustschow gesetzt und eine Delegation nach
Moskau entsandt - ohne Erfolg, aus Moskau kam keine Antwort auf die
Forderung der Wiedererrichtung Rot-Kurdistans zum Schutz des Volkes
und seiner Kultur.

Bei den Volkszaehlungen wurden die KurdInnen systematisch nicht
erfasst und statt weit ueber hunderttausend KurdInnen wurden 1959 nur
1.487 gezaehlt. Auch 1989 waren es offiziell nur 12.226, tatsaechlich
ein Dreissigstel der groessten Minderheit des Landes. (Auch heute wird
in Aserbaidschan von staatlicher Seite von 13-14.000 KurdInnen
gesprochen, tatsaechlich sind es wohl knapp 500.000, ohne die
vollstaendig assimilierten.)

Unter Gorbatschow wurden die UnterstuetzerInnen Rot-Kurdistans wieder
aktiv. 1989 schien man endlich am Ziel. Kurdische Klassen wurden
eingerichtet und die kurdische Sprache in der Oeffentlichkeit nicht
mehr unterdrueckt. Doch dann brach die Sowjetunion auseinander. Im
Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gerieten die KurdInnen
wieder einmal zwischen die Fronten.

Vor allem die ArmenierInnen, selbst Opfer eines Genozids, machten
keinen Unterschied zwischen moslemischen KurdInnen und moslemischen
Azeris. Die Bezirke des ehemaligen Rot-Kurdistan gingen an Armenien
verloren und diese (bestenfalls) vertrieben die kurdische
Bevoelkerung. Ein grosser Teil wurde misshandelt, vergewaltigt und
ermordet. Unzaehlige von ihnen leben heute noch in provisorischen
Fluechtlingslagern, ohne fliessendes Wasser und Strom. Wie in den
Fluechtlingslagern der PalaestinenserInnen und IrakerInnen wartet auch
auf sie ein Leben ohne Hoffnung und Zukunft. Das Rote Kurdistan ist
nur noch die Geschichte des Paradieses, die ihre Urgrosseltern noch
kannten.
*Dieter Blumenfeld (bearb.)*


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