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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 6. Mai 2008; 17:36
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Zeitgeschichte:

> Wir Achtundsechziger

Michael Genners ganz persoenlicher Rueckblick, Teil I

Oesterreich war vor 1968 ein zutiefst rueckstaendiges Land. Es
herrschte der geistige Moder, die biedere Verlogenheit der
Nachkriegszeit - der Konsens, Oesterreich sei das "erste Opfer"
gewesen. Der faule, feige Kompromiss. Den Grossteil der Intelligenz
hatten die Nazis vertrieben oder umgebracht. Die Widerstandskaempfer
(so weit sie ueberlebt hatten) spielten bestenfalls Nebenrollen im
neuen, "demokratischen" Staat. Ausnahmen (wie Kreisky und Broda)
bestaetigen die Regel; sich durchzusetzen, hatten sie es schwer genug.
Alte Nazis sassen in Schluesselpositionen. Im Staatsapparat (Polizei,
Heer, Justiz) herrschte eine ungebrochene, antidemokratische
Tradition. An den Universitaeten ebenso: Die "Schwarzen" hatten fast
60, der "Ring Freiheitlicher Studenten" (RFS) ueber 30 Prozent der
Stimmen in der Hochschuelerschaft. Der Rest waren wir. Arbeiter- und
Bauernkinder studierten fast nie.

1965 - Borodajkewicz-Demonstration.

Taras Borodajkewicz war ein Professor, der unter dem Johlen der
Nazistudenten - und unter dem Schutz des schwarzen
Unterrichtsministers Piffl - antisemitische Propaganda betrieb. Die
wenigen sozialistischen Studenten, die es damals gab,
Arbeiterjugendgruppen und ehemalige Widerstandskaempfer riefen zu
Protestdemonstrationen auf. Sie wurden von Nazischlaegern ueberfallen.
"Heil Borodajkewicz! Hoch Auschwitz!" bruellten die Nazistudenten.
Einen alten Mann, den Kommunisten und Widerstandskaempfer Ernst
Kirchweger, der auf sie zuging, um mit ihnen zu diskutieren - ihnen
erklaeren wollte, was Auschwitz war, schlugen sie tot. Aber das war
der Anfang von ihrem Niedergang, denn in der Strassenschlacht, die auf
den feigen Mord folgte, wurden sie so geschlagen, dass sie sich eine
Weile zurueckhielten. Seither wuchs die Linke - zwar langsam, aber
stetig - auf der Universitaet. Oesterreich im Vor-Mai... Ich ging in
ein humanistisches Gymnasium, die Fronten dort waren klar. Meine
Mitschueler waren teils Buerger-, teils Bauernkinder. Die Bauernkinder
lebten in katholischen Heimen. Die Buergerkinder (soweit sie
ueberhaupt etwas dachten) waren grossteils schwarz bis braun. Ich war
der einzige "rote Jud'" (Letzteres zwar nur "M2", "Mischling zweiten
Grades" im Nazijargon, aber immerhin). Ich fragte meinen
Klassensprecher, der gegen die Juden hetzte: "Hast du schon einmal
einen Juden gesehen?" Er verneinte. Da outete ich mich. "Du bist eine
Ausnahme", meinte er. Von den Bauernkindern blieben nur wenige bis zur
Matura, noch viel weniger gingen dann auf die Universitaet.

Kampf um die Oeffnung: Abschaffung der Studiengebuehren

1967 (da war ich dann schon bei den sozialistischen Studenten)
kaempften wir gegen die Studiengebuehren. Es gab Demonstrationen, wir
hatten es geschafft, die ganze Hochschuelerschaft fuer unseren Aufruf
zu mobilisieren. Ein paar tausend Leute gingen auf die Strasse, lang
nicht so viele wie in Deutschland - aber es war auch nicht notwendig.
Wir setzten uns auch mit weniger Leuten durch. Die Studiengebuehren
wurden abgeschafft. Unser groesster Erfolg an der Universitaet.
Dadurch studierten zwar immer noch nicht viel mehr Arbeiter- und
Bauernkinder, wohl aber: Frauen! Vorher hatte sich ein Familienvater
dreimal ueberlegt, ob er die Tochter studieren laesst. Sie sollte
lieber heiraten und Kinder kriegen. Das wurde jetzt anders, Schritt
fuer Schritt.

Die Oeffnung der Universitaeten war ein gewaltiger Schritt zur
"Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie", wie Bruno Kreisky
es spaeter formulierte. Aber das allein haette nicht genuegt. Das
Wichtigste war die Ueberwindung der traditionellen,
christlich-abendlaendischen Familie. Aber das ging Hand in Hand: Dass
Frauen studieren konnten, gab ihnen mehr Unabhaengigkeit. Pille und
Fristenloesung trugen auch ihren Teil bei. Vor allem aber: Unser Kampf
gegen die Erziehungsheime (Mehr davon in einem anderen Kapitel).

Ich weiss schon: Unsere Erfolge waren Stueckwerk. Trotzdem brauchen
wir uns ihrer nicht zu schaemen. Die neuen Schichten, denen wir den
Zugang zur Universitaet erkaempft hatten, waren gegen die rechte Hetze
doch eher resistent. Heute spielen die Nazis kaum mehr eine Rolle an
der Universitaet. Im Gegenteil: Es gibt eine linke Mehrheit seit
einigen Jahren. Der Weg dorthin war weit und steinig. Wir haben ihn zu
gehen begonnen, und wir hatten Erfolg. Es ist kein Zufall, dass der
erste Schlag des schwarz-blauen Regimes sich genau dagegen richtete:
Schuessel und Haider fuehrten die Studiengebuehren wieder ein. Aber
auch ihnen ist es nicht gelungen, das Rad der Geschichte
zurueckzudrehen. Das zeigten die grossen Demonstrationen im Februar
2000. Da waren hundertmal mehr Menschen auf der Strasse als 1968. Dank
unseren Reformen war eine neue intelligente Mittelschicht entstanden,
die dem schwarz-blauen Regime die Stirne bot.

Vom Berliner Vietnamkongress zum Ersten Mai in Wien

Im Februar 1968 fuhr ich mit einer Delegation der sozialistischen
Studenten zum Vietnamkongress nach Berlin. Es war eindrucksvoll, eine
Bildungsreise. Die Springer-Presse veranstaltete seit Wochen eine
Hetzkampagne, die "Bild-Zeitung" rief zur "Entscheidungsschlacht" auf.
Die Demonstration, die die Studenten planten, wurde verboten, die
Polizei plante offenbar eine Knueppelorgie, in der Stadt herrschte
eine Stimmung, als stuende der Buergerkrieg bevor. Die Studenten waren
vom Rest der Bevoelkerung voellig isoliert. Immerhin: Der evangelische
Bischof Scharf erklaerte, die Kirchen Berlins stuenden offen, um
Demonstranten Schutz zu gewaehren, wenn die Polizei zuschlug. In
letzter Minute hob das Berliner Verwaltungsgericht das Verbot der
Demonstration auf. Tausende Menschen gingen friedlich auf die Strasse.
Der Berliner Senat veranstaltete, unterstuetzt von den (stramm
rechten) Gewerkschaften, eine Gegenkundgebung mit huebschen Parolen:

"Wir Bauarbeiter wollen schaffen - kein Geld fuer langbehaarte Affen",
"Macht Schluss mit der Seuche!", "Bomb Vietnam!", Auf einem (dann
eingezogenen) Transparent stand sogar: "Bei Adolf waere das nicht
passiert." Mit dem Ruf "Schlagt sie tot!" wurden Studenten auf offener
Strasse verpruegelt, Studentinnen schnitt man die Haare ab. Nicht
lange danach, im April 1968, schoss ein von "Bild" verhetzter
Hilfsarbeiter den Studentenfuehrer Rudi Dutschke in den Kopf. Wir
nahmen uns vor: In Oesterreich sollte es anders laufen. Hier sollte es
nicht gelingen, Studenten und Arbeiter auseinander zu dividieren. Seit
1966 hatten wir in Oesterreich eine Alleinregierung der OeVP. Sie
arbeitete darauf hin, die Verstaatlichte Industrie zu zerschlagen, die
in den Augen der Arbeiterschaft Garant und Symbol ihres Aufstiegs war.
Hier setzten wir den Hebel an:

Die staatliche Firma Elin hatte einen Kooperationsvertrag mit dem
deutschen Siemens-Konzern geschlossen und sich zum Abbau "unrentabler"
Bereiche verpflichtet. Im Klartext: Elinarbeiter wurden entlassen,
weil der deutsche Konzern es befahl. Im April 1968 demonstrierte die
Belegschaft in der Penzingerstrasse vor der Elin-Direktion. Drinnen,
hinter verschlossenen Tueren, verhandelten die
Gewerkschaftsfunktionaere mit den Direktoren, draussen mischten wir
sozialistischen Studenten uns unter das Volk und machten Stimmung:
"Ihr werdet sehen, bald kommen sie zurueck und sagen, sie koennen
nichts fuer euch tun." Genauso war es dann auch. Die Arbeiter pfiffen
die Bonzen aus. Am naechsten Tag streikten manche Abteilungen spontan,
allerdings nur kurz, denn sie wurden von der Spitze der Partei und des
OeGB zur Ruhe und Ordnung gemahnt.

Ein paar junge Elinarbeiter gaben nicht so rasch auf. "Opium fuer das
Volk ist die Gewerkschaft", rief einer von ihnen den Funktionaeren zu.
Mit diesen Unzufriedenen bildeten wir ein "Aktionskomitee
sozialistischer Arbeiter und Studenten" und riefen zu einer
Demonstration am Ersten Mai, nach den offiziellen Feiern, auf. Ein
paar Tage vorher bestellte uns Parteichef Bruno Kreisky zu sich: "Wer
an dieser Demonstration teilnimmt, schliesst sich selbst aus." Am 1.
Mai waren wir immerhin ueber tausend Leute. Vom Vorstand der
sozialistischen Studenten freilich nur Hermann Dworczak und ich. Die
anderen waren alle umgekippt. Wir marschierten zum Rathausplatz, wo
das Abschlusskonzert der SPOe im Gange war, und forderten
Buergermeister Marek auf, sich mit den entlassenen Elinarbeitern zu
solidarisieren. Marek, voellig ueberfordert von dieser unerwarteten
"Stoerung" seines schoenen Blasmusikkonzerts, rief die Polizei zu
Hilfe. Die pruegelte uns weg. Es war das Ende meiner "Karriere" in der
SPOe. Ich hatte mich "selbst ausgeschlossen"...

Bruno Kreisky erinnerte sich spaeter ganz anders daran. Einige Jahre
vor seinem Tod besuchte ich ihn mit einer Delegation sowjetischer
Journalisten, die ich in Oesterreich herumfuehrte, in seiner Villa in
der Armbrustergasse. Kreisky erzaehlte den Russen aus seiner Sicht,
was ihn mit mir verband. Ich hoerte zu und wunderte mich... Damals,
1968 vor dem Ersten Mai, habe er zu mir gesagt: "Du siehst doch
selbst, Genosse Genner, wie rechts, wie reformistisch diese Partei
ist. Das ist nicht deine Partei! Geh - und mach etwas Neues, etwas
Gescheiteres." Im hohen Alter sah er die Dinge wohl in verklaertem
Licht. In Wirklichkeit hatte er mich hochkant rausgeschmissen. Aber
ich liess ihn dabei. Die Geschichte war ja eigentlich viel schoener
so.

Bruno Kreisky hat waehrend seiner Kanzlerschaft (1970-1983) die
Verstaatlichte Industrie - fuer einige Jahre wenigstens - zu einem
Bollwerk gegen die Krise gemacht und die Menschen vor Arbeitslosigkeit
geschuetzt. Eine Zeit lang ging es den Leuten besser. Auch sonst war
es eine Zeit demokratischer Reformen, fast so etwas wie ein Aufbruch
zur Moderne. Wir hatten mit unseren Aktionen dazu beigetragen.

Ich habe etwas Neues gemacht. Hoffentlich auch: etwas Gescheiteres.

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Naechste Woche: Spartakus und Heimkampagne



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