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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 15. April 2008; 18:51
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EU-Vertrag/Debatte:

> Du musst den Staat lieben ...

... mehr als dich selbst und deinen Naechsten, auf dass er deine
Existenz als Arbeitskraft garantiere. So lautet das 11. Gebot:


Vor hundert Jahren lautete der Vorwurf gegenueber den
Sozialdemokrat/innen, sie waeren "vaterlandslose Gesellen", sie waeren
mit ihrer internationalistischen, pazifistischen Haltung gegenueber
dem eigenen Staat Staatsfeinde, Verraeter.

Am 4. August 1914, am Beginn des 1. Weltkrieges, dann der Dammbruch:
Die deutsche Sozialdemokratie stimmt den Kriegsanleihen zu und
legitimiert dadurch die Kriegstreiberei. Die II. Internationale ist
damit zerbrochen, das grosse Sterben in Europas Schuetzengraeben
beginnt. Die Frage stellt sich: Warum? Warum haben die
"vaterlandslosen Gesellen" zugestimmt, warum sind sie in den
staatstragenden Konsens eingeschwenkt, warum die
"Burgfriedenspolitik"?

9 Jahrzehnte spaeter haben wir eine Situation, die bei allen
Unterschieden [1] doch gewisse Parallelen aufweist: Mit den Gruenen
stimmt wieder eine Gruppe, die sich in ihrer ganzen weltanschaulichen
Herkunft als antimilitaristisch - friedlich - global orientiert
versteht, einer Entwicklung zu, die ganz offensichtlich gegen ihre
Grundsaetze gerichtet ist:

# Der EU-Reformvertrag bringt eine Verpflichtung zur dauerhaften
Aufruestung fuer alle EU-Mitgliedstaaten. Diese Aufruestungspflicht
wird durch ein eigenes Ruestungsamt ueberwacht und vorangetrieben
(Art. 42, VEU), auch ein eigenes EU-Ruestungsbudget wird durch diesen
Vertrag begruendet (Art. 41, VEU)

# Der EU-Reformvertrag ermaechtigt - unter dem Deckmantel des sog.
"Antiterrorkampfes" - den EU-Rat zu weltweiten Militaerinterventionen
auch ohne ein UNO-Mandat (Art. 43, VEU)

Erweitern wir die Fragestellung auf die sozialdemokratischen
Gewerkschafter/innen: Die Entwicklung die EU hinsichtlich Lohndumping
und des Verbots von Streiks hat kaum einen Widerspruch von Seiten der
Gewerkschaften hervorgerufen.

Warum also unternehmen diese Grossgruppen nicht nur nichts gegen die
Festschreibungen des Gegenteils dessen, was sie wollen, sondern
unterstuetzen diese Prozesse sogar noch? Sind Kategorien wie
Anpassung, Verrat, ... passende Beschreibungen [2] oder liegt das
Problem nicht doch tiefer? Die Gruenen sind ja noch immer nicht fuer
die Atomkraft, die Gewerkschaften nicht fuer Lohn- und Sozialdumping?
Oder gibt es eine innere Logik?

Meine These ist, dass die Erklaerung in der Funktionsweise
kapitalistischer Systeme und im damit verbundenen STAATS-WESEN selbst
liegt. Alle, die im Kapitalismus leben, ob es ihnen passt oder nicht,
ob sie nun Fans des Systems, systemkonforme Opposition oder
Fundamentalkritiker/innen sind, sind Teil des Systems und damit auf
sein Funktionieren angewiesen. Ganz im perversen Sinn des Spruches: Es
ist schlimm, ausgebeutet zu werden, aber es ist noch schlimmer, nicht
ausgebeutet zu werden. Und daher gilt auch fuer die politische
Herrschaft: Es ist schlimm, ueber sich die politische Herrschaft zu
haben, aber es ist noch schlimmer, wenn niemand da ist, der die
Sphaere der Ausbeutung reguliert und am laufen haelt.

Aus diesem Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg, vielmehr muss man
mit der gesamten Logik brechen, muss gegen seine unmittelbaren
Interessen handeln und statt die Maschinerie zu oelen Sand in ihr
Getriebe streuen.

Heute in Zeiten der globalisierten Konkurrenz, in Zeiten, in denen der
Nationalstaat fuer diese nicht mehr reicht, muss das Alte erweitert,
fusioniert und neu geordnet werden: Die EU als neuer Staat muss her
samt neuem ideologischen Ueberbau: Der neue Nationalismus heisst
Europaeertum. Und dieser neue Staat muss zuallererst einmal eines: Er
muss funktionieren, er muss seine primaeren Verpflichtungen, naemlich
die Kapitalakkumulation und damit in weiterer Folge das System der
Erwerbsarbeit, der Steuern etc. zu garantieren, nachkommen koennen.
Handlungsfaehigkeit heisst das Zauberwort, zu dem die
sozialdemokratischen Reste der Arbeiterbewegung wie die Gruenen
(sofern sie regierungsfaehig sind) stehen wie selbstverstaendlich die
rechte politische Haelfte. Demokratische Ansprueche, oekologische und
soziale Reformen sind da hintanzuhalten. Das ist der kategorische
Imperativ der politischen Logik.

KRITIK statt masochistischer Unterwerfung

Die Gewalt der kapitalistischen Gesetzmaessigkeiten und der damit
verbundenen weltanschaulichen Verarbeitungen zeigt sich in geradezu
laborhafter Klarheit am Beispiel der EU-Verfassung (auch wenn sie nur
mehr EU-Reformvertrag heisst, aber als etwas, das ueber den
Verfassungen der einzelnen Mitgliedsstaaten steht, ist sie eine
Verfassung): Waehrend ueblicherweise Verfassungen nur die Prinzipien
festschreiben, nach denen in der politischen Sphaere des Systems
Entscheidungen zustande kommen, legt die EU-Verfassung bereits die
Inhalte fest:

* So steht die Steigerung der Militaerausgaben im Verfassungsrang. Das
ist einmalig auf der Welt und kann nur dann als Weg zu einer
Friedensmacht umgedeutet werden, wenn man den Standpunkt verinnerlicht
hat, dass die Welt an EUropas Wesen genesen solle. Da bekommt die
Kritik an der Supermacht USA und an den noch boeseren Chinesen schon
einen eigenen Drall.

* Wohl ebenso einmalig ist die formelle Festschreibung des
Neoliberalismus im Verfassungsrang mit der Formulierung "der offenen
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Selbst die vielgepriesene
Grundrechte Charta ist diesem Prinzip unterworfen, ihre Ausuebung
erfolgt im Rahmen der in den uebrigen Vertraegen der EU "festgelegten
Bedingungen und Grenzen".

Das alles ist nicht nur mit friedens-, umwelt- und sozialenpolitischen
Grundsaetzen unvereinbar, sondern auch mit den Grundsaetzen jeder
BUeRGERLICHEN Demokratie! Wer nicht fuer Aufruestung ist, wer nicht
fuer den Neoliberalismus eintritt, ist ab jetzt ausserhalb des
Verfassungsbogens! Und waehrend die Gruenen noch vor knapp
eineineinhalb Jahrzehnten aus guten Gruenden gegen den EU-Beitritt
waren (auch wenn damals noch gar nicht alle Folgen so klar absehbar
waren), so hat sie inzwischen die Systemlogik aufgesaugt.

Resuemee:

Der Traum vom Interessensausgleich IM System ist ausgetraeumt, ein
unabdingbar auf Wachstum basierendes System hat bereits heute seine
aeusseren Grenzen ueberschritten. Wenn man aber diese grundsaetzlichen
Systemwidersprueche ernst nimmt, dann stellen sich einige Fragen und
Aufgaben anders:

Dann geht es als Voraussetzung fuer ein anderes Zusammenleben
zunaechst einmal um KRITIK: um ein Hinterfragen der Grundkategorien,
in denen wir leben (Markt, Staat, Entwicklung, Konkurrenz,
Beduerfnisse, Arbeit, ... bis hin zu Glueck, Zeit ...). Das ist eine
schwierige Aufgabe, denn die sind uns so "in Fleisch und Blut
uebergegangen", dass wir ihre gesellschaftliche Bedingtheit gar nicht
mehr so leicht erkennen koennen.

Und weil man ja im Hier und Jetzt lebt und man immer Position bezieht,
sollte man sich halt bei jeder Handlung die Frage stellen: Will ich
"die grosse Maschine" am Laufen halten oder will ich Sand im Getriebe
sein?
*Walther Schuetz (gek.)*

Volltext:
http://www.kaernoel.at/cgi-bin/kaernoel/comax.pl?page=page.std;
job=CENTER:articles.single_article;ID=2500


*

Kasten:

Eva Glawischnig an Guenter Hager-Madun von der Plattform
Volxabstimmung am 12.3.08:

Danke fuer Dein Schreiben ... [Die Expertenanhoerungen zum
Reformvertrag von Lissabon] ... haben mich darin bestaerkt, dass die
positive Haltung der Gruenen letztlich richtig ist. Wir gehen deswegen
keinen Millimeter von unserer Ablehnung des EURATOM-Vertrages ab und
werden auch weiterhin jede Aufruestung oder gar eine Militaerisierung
der EU mit allen Mitteln bekaempfen. ...

Wir Gruene befuerworten den Vertrag von Lissabon als eine weitere
Etappe im europaeischen Verfassungsprozess, der ein Kompromiss, in
vielem ungenuegend, dennoch wegweisend und unverzichtbar ist. Dieser
Vertrag ... bindet ihre Aussen- und Sicherheitspolitik an das
Voelkerrecht, klaert die Zustaendigkeiten, verstaerkt die
Handlungsfaehigkeit [!], die Transparenz und die Mitbestimmung ihrer
Buergerinnen und Buerger.

Wir verkennen nicht die Maengel dieses Vertrages ... Die Gruenen sehen
in diesem Vertrag jedoch nicht das Ende eines Weges, sondern einen
neuen Anfang, einen Aufbruch in einem erneuerten Europa. ...



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