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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 18. Maerz 2008; 18:44
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Glosse/Wirtschaft:

> Gefuehlte Teuerung, berechnete Inflation

Nachfolgender Kommentar behandelt die Situation in Deutschland und
verwendet daher Begriffe der deutschen Politik und Wirtschaft.
Inhaltlich ist er aber fast 1:1 auf die oesterreichische Situation
umzulegen, weswegen wir ihn hier (gekuerzt) reproduzieren.
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Bei jedem Tanken, bei jedem Lebensmitteleinkauf sehen wir, dass unser
taeglicher Bedarf teurer geworden ist. Die grosse Mehrzahl der
Menschen schaetzt die gegenwaertige Teuerung auf 5 bis 8 Prozent. Die
Medien halten unserer Alltagserfahrung die Berechnungen des
Statistischen Bundesamtes entgegen, das fuer das letzte Jahr eine
Inflationsrate von 2,4 Prozent errechnet hatte.

"Gefuehlte" Teuerung und berechnete Inflationsrate klaffen weit
auseinander. Stimmen Gefuehl und Erfahrung von vielen Millionen oder
stimmen die von Wenigen errechneten Zahlen?

Schauen wir einmal auf die 20 Produkte mit der staerksten Preiszunahme
und dem groessten Preisrueckgang im Monat Januar 2008. Wegen
Einfuehrung der Studiengebuehren stiegen im Januar 2008 die Ausgaben
fuer Bildung im Vergleich zum Vorjahresmonat um 126,9 Prozent.
Zitronen wurden im gleichen Zeitraum um die Haelfte teurer, Heizoel um
ein Drittel, Milch und Milchprodukte um fast 30 Prozent. Trotzdem
errechnete das Statistische Bundesamt fuer den Januar eine Teuerung
von nur 2,8 Prozent.

Das Statistische Bundesamt stellt den gestiegenen Preisen bei Guetern
des taeglichen Bedarfs die gesunkenen Preise bei langlebigen
Konsumguetern wie Notebooks, Fernseher und Digitalkameras gegenueber.
Das ist nicht grundsaetzlich verkehrt.

In unseren Konsum gehen Waren ein, die wir fast taeglich kaufen bzw.
bezahlen (Lebensmittel, Benzin etc.), Waren, die wir monatlich kaufen
(Mieten, Telefongebuehren, Kleidung etc.) und Waren, die wir
hoechstens einmal jaehrlich oder in noch groesseren Zeitabstaenden
kaufen.

Preissteigerungen, die den taeglichen Bedarf treffen, werden also von
uns haeufiger wahrgenommen und graben sich staerker in unser
Gedaechtnis. Ein Gesamtbild der Preisbewegung entsteht aber nur, wenn
man die Preisentwicklung fuer taegliche Gebrauchsgueter und fuer
langlebige Konsumgueter in ihrer Gesamtwirkung betrachtet.

Aber wie oft kaufen wir neue Fernseher, neue Mobiltelefone und neue
PCs? Das haengt ganz von unserem Einkommen ab. Studentenhaushalte oder
HartzIV-Empfaenger kaufen seltener Notebooks und Digitalkameras, als
die Zumwinkels und Ackermanns.

Das Statistische Bundesamt kennt aber weder Reich noch Arm, sondern
nur einen "deutschen Normalbuerger", dessen Konsum von rund 700 Waren
teils aus den Angaben des Einzelhandels, teils aus den monatlichen
Aufzeichnungen von freiwilligen Helfern des Statistischen Bundesamtes
gewichtet und ausgewertet wird.

Fuer Bildungsausgaben gibt der statistische Normalbuerger zum Beispiel
nur 0,7 Prozent der Gesamtausgaben aus. Fuer Eltern mit Kindern und
Jugendlichen in der Ausbildung liegen ihre Bildungsausgaben deutlich
hoeher.

Fuer Lebensmittel (einschliesslich Alkohol und Tabak), sind im
bundesdeutschen Warenkorb weniger als 15 Prozent der Ausgaben
vorgesehen. Studenten und HartzIV-Empfaenger geben aber fast 50
Prozent ihres Geldes fuer Lebensmittel aus.

Fuer die "gefuehlte Teuerung" hat die unterschiedliche Groesse des
jeweiligen Geldbeutels enorme Auswirkungen.

Ein Teuerung der Lebensmittel (einschliesslich Alkohol und Tabak) um
100 Prozent (bei sonst gleichbleibenden Preisen) schlaegt beim
statistischen Bundesamt und seinem "Normalbuerger" nur mit einer
Teuerungsrate von 15 Prozent durch. Studenten und HartzIV-Empfaenger
erleben dieselbe Teuerung aber mit einer Rate von 50%, weil 50 Prozent
ihrer Waren um 100 Punkte teurer geworden sind.

Aehnlich ist die Entwicklung bei den Ausgaben fuer Miete. Weil die
Mieten von grossen Wohnungen und Haeusern, die von Wohlhabenden
bewohnt werden, kaum steigen oder sogar sinken, werden in der
Statistik die Preiserhoehungen der Kleinwohnungen geschluckt, in denen
die Aermeren leben. Es heisst dann, dass "die Mieten" nur um rund 1
Prozent im Jahr gestiegen sind. Im statistischen Durchschnitt liegen
die Mieten in Westdeutschland zur Zeit bei 6,16 Euro pro Quadratmeter
und im Osten bei 5,40 Euro. Aber wer lebt im statistischen
Durchschnitt? Der Durchschnitt ignoriert den Unterschied von Reich und
Arm und deshalb ignoriert der Durchschnitt unsere gesellschaftliche
Wirklichkeit.

Gerade Menschen mit niedrigen Einkommen leiden unter der jetzigen
Teuerung der Lebensmittelpreise, weil diese Warenart einen Grossteil
ihrer Ausgaben ausmacht, waehrend sie von dem Preisrueckgang bei
langlebigen Konsumguetern wenig spueren, weil sie sich die gar nicht
leisten koennen.

In letzter Zeit ging eine kleine Aufregung durch die deutschen Medien,
weil bei uns die "Mittelschicht" schwindet, waehrend die Zahl der
Reichen etwas zunimmt und die Zahl der Armen deutlich zunimmt. Je
weiter dieser Prozess geht, desto mehr "luegen" die
Durchschnittsberechnungen, weil sie sich immer weiter von der
Klassenwirklichkeit entfernen.

Nehmen wir dafuer ein einfaches Beispiel: Wir haben eine homogene
Gesellschaft mit drei Konsumenten, von denen jeder 100 Euro besitzt.
Ihre Konsumkraft sind 300 Euro und der statistische Normalkonsument
besitzt 100 Euro. Das ist die schoene Welt, die in unseren Schul- und
Lehrbuechern haust.

Betrachten wir nun eine Klassengesellschaft: Der Reiche besitzt 180
Euro, der Armer besitzt 9 Euro und der "Mittelschichtler" besitzt 111
Euro. Zusammen besitzen sie immer noch 300 Euro. Aber ihre
Konsumoptionen sind hoechst ungleich.

Wer meint, dieses Zahlenbeispiel sei irreal, der taeuscht sich. Laut
dem "Economist" vom 18.11.2006 verbrauchen in den USA die reichen
Top-20% der Einkommensbezieher fast 60% des gesamten Konsums. Die
untersten 20% Einkommensbezieher bekommen gerade mal 3% des US-Konsums
ab. Bei der angenommenen Konsummenge von insgesamt 300 Euro, haben die
oberen 20 Prozent also 180 Euro, die unteren 20 Prozent nur 9 Euro.

Fuer die Bundesrepublik Deutschland kenne ich keine vergleichbaren
Zahlen. Sie werden nicht ganz so extrem sein, aber wir steuern mit
grossen Schritten auf US-amerikanische Klassenverhaeltnisse zu.
(Wal Buchenberg fuer Indymedia/gek.)

Volltext mit Graphiken: http://de.indymedia.org/2008/03/209615.shtml


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